Jochen Schweitzer, Heidelberg:
Der österreichische Psychiater und Familientherapeut Ludwig Reiter hat vor mehreren Jahrzehnten (1) einmal geäußert, dass so wie die Psychoanalytiker aus dem Bildungsbürgertum und die Verhaltenstherapeuten aus den jungen Technokraten sich die damaligen Familientherapeuten ihre Werte vorwiegend aus der Hippiebewegung speisen würden. Diese Einschätzung war sehr umstritten. Aber in meinem Erleben definierten sich die meisten Familientherapeuten um 1980 herum (sie waren nach meiner Erinnerung damals mehrheitlich im Alter zwischen 25 und 45, und sie lebten in einer Phase ca. 10 Jahre nach der Studentenbewegung, kurz nach dem Höhepunkt der K-Gruppen, erlebten den Beginn von Ökologie-, Friedens- und Alternativbewegung“) in einem diffusen Sinne als „undogmatische Linke“. Noch 1991 haben wir (Arist von Schlippe und ich, mit Zustimmung der anderen Tagungsverantwortlichen) auf dem großen Kongress „Das Ende der großen Entwürfe und das Blühen systemischer Praxis“ in Heidelberg eine Art Teach-In gegen die damalige US-Invasion im Irak veranstaltet. Auch ein Panel über „Ökologische Politik als Interaktionsprozess“ mit Kommunal-, Umwelt- und Gesundheitspolitikern fand damals im Plenum statt.
Mir scheint, dass das Interesse und Engagement für Gesellschaftspolitik in der systemischen Szene spätestens ab Mitte der 1990er Jahre, vielleicht auch schon deutlich früher, abnahm. Vielleicht zugunsten der Professionalisierung von Beratungspraxis und Weiterbildung. Vielleicht war auch der Konstruktivismus als eine geistesgeschichtlich gesehen „idealistische“ und möglicherweise auch „individualistische“ Denkschule politischem Engagement nicht besonders förderlich. Vielleicht weil sich Michael Whites recht politisches Verständnis von narrativer Therapie als De-konstruktion herrschender/ unterdrückender Geschichten im deutschen Sprachraum wenig durchsetzte. Weiterlesen →