Sabine Klar, Wien: Wo ist das menschliche Gesicht der Psychotherapie geblieben?
Psychotherapie ist ein Instrument der Gesellschaft – sie will Menschen in schwierigen Lagen dazu anregen, ihr persönliches Veränderungspotential auszunützen, um ihr Befinden zu verbessern und sich und andere weniger zu stören. Sie eröffnet aber auch die Möglichkeit, sich gegen gesellschaftliche Zumutungen zu verwehren. Sie bietet einen Freiraum, in dem Klient_innen sich selbst bestimmen können.
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Sabine Klar
(Foto: oeas.at)
Zu diesem Thema stelle ich hier pointiert ein paar Thesen in den Raum, in der Hoffnung, damit eine Diskussion zu initiieren bzw. an einer teilzunehmen, die vielleicht bereits im Gang ist, von der ich aber (noch) nichts weiß.
- Ich behaupte, dass im Hintergrund des therapeutischen Geschehens gesellschaftliche Diskurse und die mit ihnen verbundenen Vorstellungen und Bewertungen eine große Rolle spielen – Psychotherapeut_inen, Klient_innen, Ausbildungseinrichtungen, Geldgeber und Institutionen werden durch sie beeinflusst. Solche mitredenden Vorstellungen wirken als „blinde Flecke“ oft sehr verborgen hinter gut gemeinten methodischen und technischen Zugängen, hindern an einer entsprechend offenen Haltung und am Zugang gerade zu jenen Klient_innen, die sich ihnen nicht fügen können oder wollen. Besonders häufig sind aus meiner Sicht Leistungs- und Machbarkeitsdiskurse – man will als Therapeut_in wissen, wo´s langgeht und Methoden vor dem Hintergrund eines (oft pseudo)-wissenschaftlichen Denkens anwenden bzw. die Veränderungsbewegungen im Griff haben. Klient_innen werden an kulturellen Standards gemessen und im Sinn einer falsch verstandenen Zielorientiertheit vor sich her getrieben – oft unterstellt man ihnen, dass sie „ihres Glückes Schmied“ sind bzw. (zu wenig) motiviert, sich auf die therapeutische „Arbeit“ einzulassen. Institutionen fördern eine so verstandene, an Effizienz, Berechenbarkeit und Wirksamkeit orientierte Psychotherapie, wenn sie Ressourcen einsparen, sich an standardisierte Vorgaben halten und bürokratischen Abläufen mehr Platz geben als den meist ganz anders gestrickten Menschen, für die sie eigentlich da sein wollten. Vielleicht sind unter solchen Rahmenbedingungen Psychotherapeut_innen manchmal mehr mit sich selbst und ihrem therapeutischen Erfolg beschäftigt als mit ihren konkreten Gegenübern?
- An sich bietet systemische Therapie von ihrer konstruktivistischen Grundhaltung her die reflexive Basis für ein Interesse an weltanschaulichen Aspekten im Hintergrund des therapeutischen Geschehens – trotzdem habe ich den Eindruck, dass zu wenig Zeit investiert wird, sich genauer mit den genannten Diskursen zu befassen, obwohl ihre implizite Wirkung gerade im Zusammenhang mit der Lektüre von Praxisprotokollen und bei Fallbesprechungen im Zuge der Ausbildung und Supervision deutlich wird. Vielleicht werden wir stattdessen damit beschäftigt, uns als Spezialist_innen für bestimmte Zielgruppen auf diversen Listen zu etablieren, uns im Zuge der Akademisierungstendenzen als „wissenschaftlich“ zu präsentieren und (den Wirksamkeitskriterien und Dokumentationsinteressen unserer Geldgeber folgend) die Klient_innen mit Fragen und Zielen und Aufgaben zu belästigen, die sie nicht interessieren, ihnen und ihrer Lage nicht entsprechen und den Zugang zu ihnen erschweren? Tendieren die therapeutischen Vorgehensweisen unter solchen Bedingungen dazu, objektivistischer, technoider, eindimensionaler, standardisierter und störungsorientierter zu werden, sodass Symptomfreiheit wichtiger wird als z.B. Glück oder Selbstbestimmung?
- Diese Entwicklung, die ich seit längerem wahrzunehmen meine, macht mir zunehmend Sorgen. Deshalb ergreife ich an dieser Stelle die Gelegenheit, für eine Psychotherapie mit einem menschlichen Gesicht zu werben, der die konkreten Wesen mit all ihren Eigenarten und Eigenbewegungen wichtiger sind als alles, woran sie in ihrem Leben gemessen werden – die bereit ist, eigene Vorstellungen in den Blick zu nehmen und sich davon zu befreien, selbst wenn sie Ruhm, Geld und Anerkennung versprechen. Eine Psychotherapie, die bereit ist, ihr Wissen und ihre Selbstdarstellung infragezustellen, um von den Klient_innen zu lernen und Zugang zu ihnen zu finden.
Ich bin sicher, dass viele von uns in der Praxis genau so arbeiten – gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass es v.a. in der Präsentation nach außen und im Kontext der Ausbildung zunehmend schwieriger wird, diese Position zu vertreten. Doch vielleicht irre ich mich …
Wer mir zu diesem Thema etwas sagen möchte bzw. bereits etwas dazu geschrieben oder veröffentlicht hat, ist herzlich dazu eingeladen: sabine.klar@chello.at