29. Januar 2016
von Tom Levold
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August Aichhorn (27 Juli 1878 – 13. Oktober 1949) war einer der bedeutendsten Pädagogen des 20. Jahrhunderts. Zunächst Volksschullehrer, entwickelte er nach dem Ersten Weltkrieg Konzepte zu einer Reform der sogenannten „Besserungsanstalten“, in denen verwahrloste Jugendliche einer gewalttätigen Zwangsbehandlung unterzogen wurden. In den zwanziger Jahren machte er eine psychoanalytische Ausbildung und wurde Leiter der Wiener städtischen Fürsorgeanstalten. er war nicht nur der Begründer der psychoanalytischen Pädagogik, sondern auch als Leiter der Wiener psychoanalytischen Erziehungsberatung einer der maßgeblichen Wegbereiter der Erziehungsberatung überhaupt. Sein Enkelsohn, der Wiener Psychoanalytiker Thomas Aichhorn, hat nun gemeinsam mit Kar Fallend, Professor für Sozialpsychologie in Graz, die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse für Erziehungsberatung und soziale Arbeit seines Großvaters erstmals veröffentlicht. In der Verlagsbeschreibung heißt es:
„Wien, Herbst 1945. Die Stadt liegt nach der untergegangenen nationalsozialistischen Diktatur in Schutt und Asche. Ihre BewohnerInnen versuchen wieder einen Alltag zu leben, eine neue Zukunft aufzubauen und an historische Traditionen anzuknüpfen, die der Faschismus zerstört hatte. So auch der 68-jährige Freud-Schüler, August Aichhorn, der als einer der ganz wenigen Psychoanalytiker während der NS-Zeit in Wien verblieb und sich nun bemüht, die Wiener Psychoanalytische Vereinigung wieder zu beleben sowie die Ausbildung in der Erziehungsberatung und sozialen Fürsorge auf neue Beine zu stellen. In 13 Vorlesungen – von September bis Dezember 1945 – versucht er jungen Studierenden die Freud’sche Psychoanalyse für ihre zukünftige praktische Arbeit näherzubringen. Zwei Stenographinnen notieren seine Ausführungen, die transkribiert – von August Aichhorn selbst redigiert – bis heute im Aichhorn-Nachlass liegen.“
Reinhard Sieder
(Foto: T .Levold)
Den Band beigefügt ist ein Essay des Wiener Historikers Reinhard Sieder, einem der wichtigsten deutschsprachigen Familien-, Sozial- und Kulturhistoriker, der sich schon seit längerem mit der Geschichte der Jugendhilfe und der Heimerziehung in Wien auseinandersetzt. Nachdem vor einigen Jahren – nach der Aufdeckung ähnlicher Zustände in deutschen Kinderheimen – die systematische Misshandlung von Kindern und Jugendlichen auch in Wiener Heimen von den 1950ern bis weit in die 1970er Jahre die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit fand, wurde Sieder von der Stadt Wien beauftragt, in einer großen Studie das Ausmaß der Gewalt an Kindern und Jugendlichen vor den Reformen des Erziehungswesens in den 1990 er Jahren zu untersuchen. Der umfangreiche Abschlussbericht dieser Untersuchung liegt seit 2012 vor und ist auch online zu lesen. Sein Essay über Aichhorn, den systemagazin mit freundlicher Genehmigung des Löcker-Verlages hier veröffentlicht, ist nicht nur von historischem Interesse, sondern überraschend aktuell. Schon in den 1920er Jahren zeichnete sich eine zunehmende Divergenz zwischen einer therapeutisch-psychoanalytischen Haltung, wie sie Aichhorn vertrat, und einer psychiatrisch-psychopathologischen Konzeption jugendlichen Problemverhaltens ab. Letztere wurde mit dem fortschreitenden Siegeszug des Nationalsozialismus in Österreich dominant und zur Grundlage bürokratisch organisierter Fürsorgepraxis: „Der Logik der Medikalisierung des Sozialen folgend, beauftragte der amtsführende Stadtrat und Mediziner Julius Tandler Heilpädagogen, Psychologen und Juristen, die Arbeit des Jugendamtes, insbesondere die „Kindesabnahmen“ und die Überstellungen von Kindern in Erziehungsheime und Pflegefamilien fachlich zu überwachen und zu legitimieren. Allerdings bildeten die Leiter und die Fürsorgerinnen der Bezirksjugendämter, die Psychiater der Heilpädagogischen Station an der Kinderklinik, die Psycholog/inn/en und Juristen in der Zentrale des Jugendamtes und der Kinderübernahmsstelle (KÜSt) offenbar sehr bald einen hermetischen Legitimationszirkel, der weder eine Kontrolle der psychiatrischen und psychologischen Diagnosen noch der fürsorgerischen Maßnahmen, noch der pflegschaftsgerichtlichen Bescheide entstehen ließ.“ Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn man hier nur das problematische Verhalten von Personen in den Vordergrund stellen wollte. Sieder schreibt weiter: „Dabei versteht Aichhorn früher als die politischen und professionellen Hauptakteure im Wiener Wohlfahrtsamt unter Tandler, dass dieses historisch konkrete Zuviel an Gewalt nicht bloß aus dem interpersonalen Geschehen zwischen nicht hinreichend erzogenen Kindern und nicht hinreichend ausgebildeten Erzieher/inne/n entsteht, sondern in bestimmten wissenschaftlichen Theorien grundgelegt ist. Diese waren seit den Anfängen der modernen Kinder- und Jugendfürsorge um 1910 rassenhygienisch und erbtheoretisch, im nationalsozialistischen Reich auch rassenanthropologisch. Gegen kritische Ansätze blieben sie weitgehend immun, solange eine Reihe von hochrangigen Berufen wie jene der Ärzte und Medizinwissenschaftler, der Psychologen und der Juristen in ihrem Namen agierten und materiell und sozial davon profitierten.“ Die diesen Strategien zugrundeliegenden Ideologien sind heute in der Jugendhilfe kaum mehr zu beobachten. Dennoch ist der Kampf um die Luft- und Deutungshoheit über „problematischem Verhalten“ von Kindern und Jugendlichen nicht vorbei. Die Medikalisierung psychischer und sozialer Problemlagen ist heute nicht weniger Gegenstand wissenschaftlicher, politischer und ökonomischer Diskurse. Der lesenswerte Essay Reinhard Sieders macht am historischen Beispiel die Gefahren einer bürokratisch-autoritären, strafenden Jugendhilfe im Verein mit einer pathologisierenden Behandlungsideologie deutlich. Aber lesen Sie selbst: Weiterlesen →