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Online-Journal für systemische Entwicklungen

19. Juni 2016
von Tom Levold
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Wie Metaphern unser Denken beeinflussen

In einem spannenden Artikel, der 2013 in PLOS Online erschien, befassen sich die Linguisten Paul Thibodeau und Lera Boroditsky mit dem Einfluss von Metaphern auf die Diskussion und Bewertung von sozialen Themen wie Klimawandel, Wirtschaft und Kriminalität. In früheren Arbeiten konnten sie bereits zeigen, dass die metaphorische Beschreibung von Kriminalität als gefährliche Bestie oder als Virus auch unterschiedliche Lösungsbilder in Bezug auf das  Kriminalitätsproblem erzeugt. In der vorliegenden Studie wurden die Probanden nicht nach ihren eigenen Lösungsbildern befragt, sondern  mit einer Auswahl an möglichen Lösungen und der Bitte konfrontiert, die zu wählen, die sie bevorzugten. Auch hier konnte gezeigt werden, dass Metaphern die vermeintlich rationale Argumentation auch dann beeinflussen, wenn sie eine Reihe von unterschiedlichen Optionen zur Auswahl hatten. Interessanterweise waren nur sehr wenige Teilnehmer der Meinung, dass Metaphern eine wichtige Rolle bei ihrer Entscheidung spielten. Darüberhinaus wurden die Teilnehmer, die sich nicht explizit an die Metaphern erinnern konnten, ebenso von diesen beeinflusst wie diejenigen, die den metaphorischen Rahmen erinnern konnten. Diese Ergebnisse legen nahe, dass Metaphern eine bedeutsame Rolle für inhaltliche Argumentationen haben. Im Abstract heißt es: „Metaphors pervade discussions of social issues like climate change, the economy, and crime. We ask how natural language metaphors shape the way people reason about such social issues. In previous work, we showed that describing crime metaphorically as a beast or a virus, led people to generate different solutions to a city’s crime problem. In the current series of studies, instead of asking people to generate a solution on their own, we provided them with a selection of possible solutions and asked them to choose the best ones. We found that metaphors influenced people’s reasoning even when they had a set of options available to compare and select among. These findings suggest that metaphors can influence not just what solution comes to mind first, but also which solution people think is best, even when given the opportunity to explicitly compare alternatives. Further, we tested whether participants were aware of the metaphor. We found that very few participants thought the metaphor played an important part in their decision. Further, participants who had no explicit memory of the metaphor were just as much affected by the metaphor as participants who were able to remember the metaphorical frame. These findings suggest that metaphors can act covertly in reasoning. Finally, we examined the role of political affiliation on reasoning about crime. The results confirm our previous findings that Republicans are more likely to generate enforcement and punishment solutions for dealing with crime, and are less swayed by metaphor than are Democrats or Independents.“

Der ganze Text kann hier gelesen werden…

18. Juni 2016
von Tom Levold
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Handwerk der Psychotherapie: Systemische Therapie

U. Borst (2013): Systemische Therapie

U. Borst (2013): Systemische Therapie

Auch wenn Systemische Therapie immer noch nicht als psychotherapeutisches Richtlinienverfahren anerkannt ist, steht ihr Platz im Spektrum der Psychotherapie-Ansätze außer Frage und ist mittlerweile auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Das schafft Bedarf nach guten Überblicken und zusammenfassenden Darstellungen, die eine erste Orientierung bieten können. Mittlerweile sind Lehrbücher und zahlreiche Einführungen auf dem Markt, mit dem 1. Band der Reihe Handwerk der Psychotherapie aus dem Tübinger Psychotherapieverlag ist schon 2013 ein weiterer Band dieser Kategorie erschienen, verfasst von Ulrike Borst, der 1. Vorsitzenden der Systemischen Gesellschaft, Mitherausgeberin der Zeitschrift Familiendynamik, Leiterin des Ausbildungsinstituts Meilen in Zürich und langjährig als Psychologin in leitender Funktion in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen tätig. Ihr 136 Seiten starkes Buch heißt schlicht „Systemische Therapie“ – Wolfgang Loth hat es gelesen und empfiehlt die Lektüre:

Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach:

Das vorliegende Buch ist das erste einer Reihe zum „Handwerk der Psychotherapie“, die von Steffen Fliegel, Arist von Schlippe und Ulrich Streeck herausgegeben wird. Wer dabei an die Zeitschrift „Psychotherapie im Dialog“ denkt, liegt richtig. Die drei Herausgeber gehörten zu deren Mitbegründern. Sie sind offensichtlich weiter daran interessiert, unterschiedliche Therapieverfahren für andere lesbar zu machen, nachvollziehbar, und auf diese Weise sowohl die Vielfalt des Feldes als auch dessen allgemeine, über das Individuelle hinausgehende Kraft zu verdeutlichen. Dass dies durch aus kniffelig zu sein vermag, ist gängige Erfahrung. Zwei motivationale Stränge sind gleichzeitig zu bedienen: sowohl der Wunsch nach einer eigenen Identität im Binnenverhältnis der Verfahren als auch die Absicht, im Gesamtgefüge des Gesundheitssystems als ausreichend große Kraft wahrgenommen zu werden, die „allgemein“ zu wirken versteht. Das macht es für Autorinnen dieser Reihe nicht unbedingt einfach. Die Fülle des jeweiligen Feldes kann im Prinzip nur skizziert werden und Querverbindungen sollten sowohl Anschlussfähigkeit als auch Eigenständigkeit vermitteln.

Um mit dem Gesamteindruck zu beginnen: Ich habe den Eindruck, dass es Ulrike Borst hervorragend gelungen ist, die angedeutete Gratwanderung zu bewältigen. Ihre einleitenden beiden Fallvignetten wirken sowohl inhaltlich interessant als auch sprachlich einladend. In aller Kürze lassen sie ein Konzept lebendig werden, das sich sowohl auf klinisch definierte Beschwerdebilder einlässt als auch auf die Besonderheiten der Protagonisten des einen „Fall“ repräsentierenden Geschehens. „Was ist der Fall?“ ist eine stets ernst gemeinte Frage, offen für unerwartete Wendungen, standhaft in dem, was Jürgen Hargens einmal „unerschrockenes Respektieren“ genannt hat. Weiterlesen →

7. Juni 2016
von Tom Levold
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Jérôme Seymour Bruner (1.10.1915 – 5.6.2016)

Im hohen Alter von 100 Jahren ist vorgestern der amerikanische Psychologe Jerome Bruner gestorben. Er war ab 1952 Professor für Psychologie in Harvard, wechselte 1972 nach Oxford und arbeitete seit 1980 an der School of Law der New York University. Neben zahlreichen Arbeiten zur Entwicklungs- und Lernpsychologie, die stark von der Rezeption des russischen Entwicklungs- und Sprachpsychologen Lew Vygotski beeinflusst waren, beschäftigte sich Bruner mit der Bedeutung von Konzepten, die Menschen benutzen, um die Umwelt zu vereinfachen und herauszufinden, wie sie in dieser agieren sollen. In Wikipedia heißt es: „Bruner plädiert dafür, der ,Bedeutung’ als einem zentralen psychologischen Konzept mehr Geltung zu verschaffen. Die Konstruktion von Bedeutung – damit ist die Frage gemeint, wie Menschen aus dem Durcheinander physikalischer Sinneseindrücke einen Sinn entwickeln – soll nach Bruner verstärkt erforscht werden. Die Bedeutung des Selbst im Kontext der Kultur greift Bruner in jüngeren Schriften ebenso auf. Eine Erklärung des menschlichen Zustandes kann keinen Sinn ergeben, ,wenn sie nicht im Licht der Symbolwelt interpretiert wird, die die Grundlage menschlicher Kultur bildet’, schreibt Bruner 1990.“ Bruner ist ein wichtiger Wegbereiter des narrativen Ansatzes gewesen, sein Buch „Acts of Meaning“ aus dem Jahre 1991 ist 1997 auf Deutsch im Carl-Auer-Verlag unter dem Titel „Sinn, Kultur und Ich-Identität. Zur Kulturpsychologie des Sinns“ erschienen, aber mittlerweile leider vergriffen.

2004 ist ein sehr schöner Text aus dem Jahre 1987 in der Zeitschrift Social Research neu abgedruckt worden, der sich mit der Konstruktion des eigenen Lebens als Narrativ beschäftigt – und der Frage, inwiefern gelebtes Leben und erzähltes Leben wechselseitig aufeinander bezogen sind. In Bruners Worten: „The first thesis is this: We seem to have no other way of describing ,lived time’ save in the form of a narrative. Which is not to say that there are not other temporal forms that can be imposed on the experience of time, but none of them succeeds in capturing the sense of lived time: not clock or calendrical time forms, not serial or cyclical orders, not any of these. (…) My second thesis is that the mimesis between life so-called and narrative is a two-way affair: that is to say, just as art imitates life in Aristotle’s sense, so, in Oscar Wilde’s, life imitates art. Narrative imitates life, life imitates narrative. ,Life’ in this sense is the same kind of construction of the human imagination as ,a narrative’ is. It is constructed by human beings through active ratiocination, by the same kind of ratiocination through which we construct narratives. When somebody tells you his life—and that is principally what we shall be talking about—it is always a cognitive achievement rather than a through-the-clear-crystal recital of something univocally given.“

Den vollständige Text kann man hier online lesen…

6. Juni 2016
von Tom Levold
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9th Conference of the European Family Therapy Association

EFTA 2016Wie die Geschäftsstelle der Systemischen Gesellschaft mitteilt, findet vom 28.09. bis 01.10.2016 die nächste Tagung der European Family Therapy Association (EFTA) in Athen statt. Ursprünglich sollte die nunmehr 9. Konferenz der EFTA in Amsterdam stattfinden. Es hat sich jedoch sehr schnell herausgestellt, dass die Planung finanziell nicht umsetzbar ist. Kurzfristig ist deshalb der nationale Verband Griechenland eingesprungen und hat die Konferenz nach Athen geholt – der Zeitpunkt ist durchaus passend. Die UNESCO hat 2016 das Aristoteles-Jahr (2.400 Jahre) ausgerufen. Das Programm der Tagung basiert auf der Aristotelischen Philosophie von Ethos, Logos, Techne und Polis.Der Titel der Tagung lautet: „Origins and Originality in Family Therapy and Systemic Practice“. Weiterlesen →

4. Juni 2016
von Tom Levold
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Arbeiten in und mit Metaphern: eine konzeptionelle Anregung

Rudolf SchmittIn einem spannenden Aufsatz für resonanzen – E-Journal für biopsychosoziale Dialoge in Psychotherapie, Supervision und Beratung befasst sich Rudolf Schmitt, Psychologe und Professor an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Hochschule Zittau-Görlitz, mit der Rolle von und dem Umgang mit Metaphern in Beratung und Therapie, vor allem hinsichtlich der – oft wenig bewussten – metaphorischen Strukturierung des Denkens und Handelns von BeraterInnen und TherapeutInnen. Im abstract heißt es: „Der Umgang mit Metaphern in Beratung und Therapie wird oft selbst nach der Logik eines Werkzeugs diskutiert, als wären Metaphern Instrumente, die man kunstfertig einsetzen könnte. Die von der kognitiven Linguistik (Lakoff & Johnson, 1980, 1998) abgeleitete Metaphernanalyse erschüttert dieses naive Selbstverständnis: Auch BeraterInnen und TherapeutInnen leben in ihren kaum bewussten metaphorischen Mustern, und qualitative Forschung zeigt, dass metaphorische Kommunikation ein situatives und interaktives Phänomen ist, zu dem alle Teilnehmenden beitragen. Der Aufsatz fasst den aktuellen Diskussionsstand zusammen und schlägt eine behutsame und reflexive Vorgehensweise vor.“ Weiter heißt es im Text: „Die folgenden Überlegungen zum Umgang mit Metaphern in Beratung und Therapie sind von der Überzeugung getragen, dass die Pose des genialischen Deuters und poetischen Helden, die schulenübergreifend zu finden ist, wenig zum Verständnis metaphorischer Kommunikation beiträgt, oder, genauer gefasst: Das Reden über Metaphern in Beratung und Psychotherapie ist selbst oft gerahmt von der metaphorischen Übertragung des Helden und des Magiers auf den (fast immer männlichen) Therapeuten. Hier soll eine vorsichtigere Position des Intervenierens mit Metaphern entwickelt werden, die davon ausgeht, dass Metaphern kulturelle Rahmungen unseres Denkens bilden, die auch das Handeln und das Selbstverständnis von BeraterInnen und TherapeutInnen prägen. Der Umgang mit Metaphern in dieser Perspektive leitet sich aus der doppelten Reflexion von Metaphern ab, sowohl jener Sprachbilder der KlientInnen, aber auch unserer eigenen, in denen wir (noch) befangen sind. Das heißt nicht, dass man frei von Bildern sein könnte – jedoch könnte die Benennung eigener leitender Bilder ein Schritt zur Distanzierung sein.“

30. Mai 2016
von Tom Levold
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Interview mit Bernhard Trenkle zur geplanten Hypno-Show auf RTL

trenkleAm 04. Juni wird unter dem Titel „Schau mir in die Augen“ ein sogenannter „Mentalmagier“ in einer Show des Senders RTL Prominente in Hypnose versetzen. RTL bewirbt die Sendung als „TV-Hypnose-Ereignis des Jahres“ und verspricht den Zuschauern „lustige Situationen und den Kontrollverlust der prominenten Teilnehmer“. Chaos sei programmiert, heißt es weiter. Es geht RTL folglich recht unverblümt um die Vermarktung von unangemessenem, lächerlichem und enthemmtem Verhalten von Menschen unter Hypnose. Der Carl-Auer Verlag fragte Bernhard Trenkle, einen Pionier der Hypnotherapie, Mitglied im Vorstand der International Society of Hypnosis und Gründer des Milton Erickson Instituts in Rottweil, was aus seiner Sicht zu solchen Veranstaltungen zu sagen ist (Foto: T. Levold).

Quelle: Interview mit Bernhard Trenkle zur geplanten Hypno-Show auf RTL

29. Mai 2016
von Tom Levold
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Therapy as Social Construction: An Interview with Sheila McNamee

Sheila McNameeIm Interamerican Journal of Psychology erschien 2006 ein Interview, das Carla Guanais vom Centro Universitário Barão de Mauá, Ribeirão Preto, in Brasilien mit Sheila McNamee führte, einer der wichtigsten Vertreterinnen des Sozialkonstruktionistischen Ansatzes in Psychologie und Psychotherapie. Sie ist Professor of Communication an der University of New Hampshire and Mitbegründerin sowie Vizepräsidentin des Taos Institute. Im abstract zum Interview heißt es: „In this interview, Sheila McNamee presents an important review of her trajectory in both the fields of communication and psychotherapy. She presents a personal history of the emergence of social constructionism and its applications in psychotherapy, specifically in Family Therapy. In this journey, she describes important features of a social constructionist discourse, pointing to its central assumptions and inviting voices of different authors into a dialogue, through which a broader, pragmatic view of social constructionist discourse emerges. She also addresses present dilemmas and issues in the field such as the possibility of a “social constructionist therapy,” the idea of “theories as conversational resources”, and the notion of psychological change. Finally, Sheila McNamee talks about how she conceives the future of social constructionism, inviting us to remain engaged in dialogue about its limits and possibilities, thus entertaining different scenarios, imagining and creating its future and bridging incommensurate discourses with other theories and practices.“

Das vollständige Interview kann hier gelesen werden…

27. Mai 2016
von Tom Levold
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ZSTB 2016 – Positives Altern & SelbstHandeln

ZSTB-2016-02

Der aktuelle Jahrgang der Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung hat bislang zwei Themenhefte vorgelegt, deren erstes sich mit dem Thema „Positives Altern“ auseinandersetzt. Es ist bereits das dritte Themenheft zu diesem Thema und wird wie schon die ersten Beiden auch von Thomas Friedrich Hett herausgegeben. Inhaltliche Beiträge umfassen „Erfahrungen sexualisierter Gewalt in der Lebensgeschichte alter Frauen“, „Systemisches Arbeiten mit älteren Menschen in der Psychiatrie“, „transkulturelle gerontopsychiatrische Versorgung“ und „generationsübergreifendes Arbeiten in Schreibgruppen“. Das aktuelle Heft stellt systemische Sozialarbeit unter das Motto „SelbstHandeln“ und vereint eine Vielzahl von kurzen Beiträgen, die in der Sozialen Arbeit Tätigen Mut und Zuversicht vermitteln wollen. Besonders hervorzuheben ist hier ein Text von Haja Molter und Birgit Wolter, die sich kritisch mit der Ressourcen- und Lösungsorientierung auseinandersetzen: „In dem vorliegenden Beitrag beschäftigen wir uns mit den Ansätzen Capability und Empowerment. Ebenso schenken wir dem Begriff Resilienz wohlwollend kritisch unsere Aufmerksamkeit. Wir wolllen die unterschiedlichen Positionen und ihre Verwandtschaftsbeziehungen zum lösungsorientierten und ressourcenorientierten Ansatz in Beratung, Coaching und Supervision nutzen, um ihre Bedeutung für eine systemisch-lösungsorientierte Praxis herauszustellen und einige Positionen des lösungsorientierten Ansatzes in Frage zu stellen.“

Alle bibliografischen Angaben zu den einzelnen Texten und Rezensionen gibt es hier…

26. Mai 2016
von Tom Levold
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Knapp ¼ der Betreuungszeit begleiten Eltern ihre Kinder zu Terminen

WIESBADEN – 24 % der Betreuungszeit verbrachten Eltern im Jahr 2012/2013 durchschnittlich mit der Begleitung ihrer Kinder zu Terminen. Das waren rund 2 Stunden 13 Minuten pro Woche. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) anlässlich des Internationalen Tages der Familie am 15. Mai weiter mitteilt, waren Mütter mit 25 % hier etwas stärker eingebunden als Väter (22 %). Zur Begleitung der Kinder gehören sowohl die Wegezeiten zu Terminen als auch die Anwesenheit während dieser Termine wie zum Beispiel während des Arztbesuchs oder des Fußballtrainings.

Der Umfang der Begleitung variiert mit dem Alter der Kinder: Bei Kindern unter 6 Jahren machte die Begleitung 19 % der Betreuungszeit aus. Hier war der Zeitanteil für Beaufsichtigung, Körperpflege, Spielen und Sport mit 73 % deutlich höher. Bei Kindern von 6 bis 18 Jahren investierten die Eltern 35 % in die Begleitung ihrer Kinder. Der Zeitanteil für Beaufsichtigung, Körperpflege, Spielen und Sport lag ebenfalls bei 35 %.

Insgesamt verbrachten Väter und Mütter im Jahr 2012/2013 täglich 1 Stunde 20 Minuten mit der Betreuung von Kindern unter 18 Jahren als Hauptaktivität. Mütter leisteten mit 1 Stunde 45 Minuten etwa doppelt so viel wie Väter (51 Minuten).

Quelle: Pressemitteilungen – Knapp ¼ der Betreuungszeit begleiten Eltern ihre Kinder zu Terminen – Statistisches Bundesamt (Destatis)

24. Mai 2016
von Tom Levold
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Für eine großzügige Aufnahme und Integration von Einwanderern und Flüchtlingen in Deutschland

dgsf-logo-lang-officeStellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF)

Die DGSF ist ein Fachverband mit mehr als 6.000 systemischen Therapeutinnen und Therapeuten, Beraterinnen und Beratern und Familientherapeuten in Deutschland. Aufbauend auf der psychosozialen Expertise ihrer Mitglieder tritt sie in ihren Grundwerten* ein für ein hohes Maß an Gewaltfreiheit, persönlicher Freiheit, sozialer Gerechtigkeit, Solidarität, Teilhabe, ökosozialem Ausgleich und informationeller Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft.

Viele DGSF-Mitglieder sind professionell oder ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit aktiv. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen und Diskussionen zur Flüchtlingsarbeit erfolgt diese Stellungnahme.

Für eine großzügige Aufnahme und Integration von Einwanderern und Flüchtlingen in Deutschland sprechen aus Sicht der DGSF zahlreiche Gründe:

  1. Sie ist unvermeidlich. Mit der Globalisierung von Waren- und Touristenströmen wird die Einwanderung von Menschen auch aus wirtschaftlich armen Ländern sowie Krisen- und Kriegsgebieten in reiche Länder nicht aufzuhalten sein, unabhängig davon, welche Barrieren errichtet werden. Einwanderung aus Notlagen kann nicht dauerhaft verhindert, sondern nur human oder inhuman gestaltet werden.
  2. Sie ist humanitär. Deutschland kann einen seiner Wirtschaftsleistung entsprechenden Anteil von Flüchtlingen aufnehmen und integrieren. Deutschland hat seit dem 2. Weltkrieg in mehreren Wellen Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen (mehr als 12 Millionen 1945), Gastarbeitern (rund 3 Millionen bis zum Anwerbestopp 1973) und Aussiedlern (über 2 Millionen 1990 bis 1999) aufgenommen und langfristig integriert. Das ist auch jetzt wieder möglich. Vorstellbar scheint uns – verteilt über die nächsten Jahre – die Aufnahme von insgesamt mindestens fünf Prozent der jetzigen weltweiten Flüchtlingszahl von rund 60 Millionen, also von etwa 3 Millionen Flüchtlingen.
  3. Sie ist gerecht. Deutschland profitiert als exportstarkes Land wirtschaftlich stärker als die meisten anderen Länder dieser Welt von offenen Grenzen. Es fließt weit mehr Geld (Reichtum) aus der Welt nach Deutschland, als aus Deutschland in die Welt. Deshalb ist die Einwanderung aus ärmeren in reichere Länder Folge und zugleich Ausgleich dieser wirtschaftlichen Ungleichgewichte.
  4. Sie ist wirtschaftlich sinnvoll angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland. Ohne Zuwanderung wird die Bevölkerung Deutschlands bis 2050 voraussichtlich um rund 20 Prozent schrumpfen, mit mehr alten und weniger jungen Einwohnern als heute. Deshalb ist es sinnvoll, wenn vorwiegend jüngere Immigranten diese Lücke füllen und die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands auch zukünftig sicherstellen.
  5. Sie ist machbar. Deutschland hat die Produktions-, Verwaltungs-, Dienstleistungs- und Bildungspotentiale bzw. kann diese mit vertretbarem Aufwand mittelfristig aufbauen, um mehrere Millionen Neubürger erfolgreich aufzunehmen und zu integrieren. Dies zeigt auch das umfangreiche, kompetente, anfangs spontan improvisierte und dann professionalisierte Engagement vieler professioneller und ehrenamtlicher Flüchtlingshelferinnen und Flüchtlingshelfer.

In dieser Ressourcenlage ist die Integration vieler Einwanderer und Flüchtlinge wesentlich zunächst eine Willensfrage, dann eine Frage kluger Organisation. Über ihr Gelingen bestimmen die Köpfe, Herzen und Entscheidungen der Beteiligten. Das Boot ist nicht „voll“. Es bedarf aber einer entsprechenden Ressourcenausstattung (vor allem der Kommunen), um diese Möglichkeiten und Potenziale nutzbar zu machen.

Deshalb spricht sich die DGSF für eine offensiv propagierte, langfristig und vorausschauend geplante, umfangreich und engagiert durchgeführte Aufnahme- und Integrationspolitik für Kriegs-, Folter-, Klimawandel- und Armutsflüchtlinge aus. Sie kann und wird als psychosozialer Fachverband dazu beitragen

    • Fachkräfte und Ehrenamtliche in der Flüchtlingsberatung zu qualifizieren und zu unterstützen durch Weiterbildung, Supervision und Fachberatung,
    • Fachleute zu finden, die in lokalen und regionalen Konfliktfeldern der Flüchtlingsaufnahme und -integration vorbeugend und vermittelnd mitwirken.

Die DGSF empfiehlt ihren Mitgliedern eine Unterstützung dieser Position in den Diskussionen an ihren Wohn- und Arbeitsorten.

Wir sind nicht naiv. DGSF-Mitglieder wissen aus ihrer professionellen Arbeit um die Ängste vieler Menschen vor zu viel Fremdem und Unbekanntem, vor Besitzstandsverlusten, vor kulturellem Wandel. Sie wissen um die Konflikte und Umstellungsprobleme sowohl der Flüchtlinge wie der Einheimischen, und sie respektieren die damit verbundenen Sorgen vieler Menschen. Sie wissen auch um Beispiele misslungener Integration in den vergangenen Jahrzehnten. Aber sie wissen, dass in einer global vernetzten Welt in Krisenzeiten massenhafte Bevölkerungswanderungen nicht verhindert, sondern nur human oder inhuman gestaltet werden können. Die DGSF tritt dafür ein, dass sie human gestaltet werden.

Dr. Björn Enno Hermans, Vorsitzender
Prof. Dr. Jochen Schweitzer, Gesellschaftspolitischer Sprecher im Mai 2016

* Grundwertepapier der DGSF, verabschiedet von der Mitgliederversammlung 2015:

DGSF e. V.
Jakordenstraße 23 | 50668 Köln www.dgsf.org

22. Mai 2016
von Tom Levold
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Fremdplatzierung und Bindungstheorie

schleiffer_fremdplatzierung

Wolfgang Loth (Bergisch Gladbach):

Roland Schleiffer hat sich einen Namen gemacht mit seinen Publikationen zu einer systemtheoretischen Entwicklungspsychopathologie und zur funktionalen Analyse von Verhaltensauffälligkeiten. Vor kurzem hat er seine Arbeiten dazu in zwei bemerkenswerten Bänden aktualisiert und gebündelt (1). Mit dem nun vorliegenden Buch „Fremdplatzierung und Bindungstheorie“ geht er einem Themenbereich nach, der mit den vorher genannten korrespondiert, jedoch ein eigenes Profil gewinnt. Mit der Bindungstheorie wählt er einen zentralen entwicklungspsychologischen Bezugsrahmen und mit Fremdplatzierung denjenigen Bereich der Jugendhilfe, der zu den bindungstheoretischen Assoziationen am stärksten kontrastiert und darüber hinaus den höchsten Aufwand erfordert. Dies schließt ein, dass sich damit die am weitesten gehenden Anforderungen an alle Beteiligten verknüpfen. Das Thema ist also wichtig. Orientierung tut not, weit über alle rechtlichen und verfahrenstechnischen Vorgaben hinaus.

Der Autor geht sein Thema mit geradezu akribischer Sorgfalt an, diskutiert entwicklungspsychologische, sozialpädagogische, juristische und gesellschaftliche Aspekte und streut dabei immer wieder systemtheoretische Querverbindungen Luhmannscher Provenienz ein. Das Material gliedert Schleiffer in sechs inhaltlichen Kapiteln.

In den beiden ersten legt er die bindungstheoretischen Grundlagen dar und setzt sie in Beziehung zur Situation und zur Vielfalt der heutigen Familien. Auch wenn die Form des vorliegenden Buches letztlich nur eine Skizzierung dieser Thematik erlaubt, so wirkt diese Skizze doch wie aus einem Guss und überzeugt sowohl durch Differenziertheit als auch durch die Souveränität ihrer Darstellung. Die Entwicklungslinie von den biologischen Grundlagen des Bindungsverhaltenssystems hin zur kommunikativ und lebensweltlich moderierten Ausprägung wird deutlich, ebenso Formen intergenerationaler Weitergabe und beziehungsspezifischer Konstellationen (Peers, Freundschaften, Liebesbeziehungen). Weiterlesen →