systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

17. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Die Schönheit ist ein Nachzügler – über den „gedehnten Blick“

Lothar Eder, Mannheim: Die Schönheit ist ein Nachzügler – über den „gedehnten Blick“

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino schrieb in einem Essay: „Wir alle sind trainiert im schnellen Anschauen von Bildern, weil wir anders mit der Bilderflut um uns herum nicht fertig werden können. Wenn wir dagegen ein Bild vor unseren Augen sozusagen anhalten und es über die vorab zugebilligte Zeit betrachten, kommt das zustande, was wir den gedehnten Blick nennen können“.

Man kann diesen Satz natürlich gut auf die Betrachtung eines Kunstwerkes anwenden. Wir sind heutzutage zugeschüttet mit Bildern, aber in der Regel leisten wir uns den von Genazino angeregten „gedehnten“ Blick nicht. Man kann ihn aber auch anwenden auf alltägliche Wahrnehmungen, z.B. eine Lichtspiegelung an der Wand oder die Wolken am Himmel. Sind diese Erscheinungen schön? Die Schönheit ist ein Nachzügler, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han – sie ist kein augenblicklicher Glanz, sondern ein stilles Nachleuchten. Der gedehnte Blick ist demnach keine spezielle Optik auf die Dinge, sondern eine Haltung, den Dingen zu begegnen und sie zu sehen. Er macht aus Vertrautem Fremdes. Die gedehnte Zeit öffnet einen Raum, in dem vorab Vertrautes und Gewohntes neu und damit fremd erscheint. Weiterlesen →

16. Dezember 2016
von Tom Levold
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25 % mehr junge Menschen begannen im Jahr 2015 eine Heimerziehung

WIESBADEN – Für 49 500 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene begann im Jahr 2015 die Erziehung in einem Heim oder in einer betreuten Wohnform. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, waren das 25 % mehr als im Jahr zuvor. Bei den Jungen und jungen Männern stieg die Zahl um 46 % auf 32 800. Dabei nahm der Anteil der Jungen und jungen Männer mit Migrationshintergrund von knapp 40 % im Jahr 2014 auf 62 % zu.

Für knapp die Hälfte der Jungen und jungen Männer wurde die Unversorgtheit des jungen Menschen als Grund für die Heimunterbringung angegeben. Die gestiegene Zahl der Heimunterbringungen dürfte insbesondere auf die im Jahr 2015 hohe Zahl an unbegleitet eingereisten Minderjährigen zurückzuführen sein.

Besonders stark war der Anstieg in der Altersgruppe der männlichen 16- und 17-Jährigen. Hier hat sich die Zahl der begonnenen Hilfen von 7 000 im Jahr 2014 auf 14 400 im Jahr 2015 mehr als verdoppelt. Der Anteil dieser Altersjahrgänge an allen begonnen Hilfen für Jungen und junge Männer lag bei 44 %.

Für Mädchen und junge Frauen begann im Jahr 2015 in rund 16 700 Fällen die Erziehung in einem Heim oder einer betreuten Wohnform. Das waren 3 % weniger als im Jahr 2014. Hier lag der Anteil der 16- und 17-Jährigen wie im Vorjahr bei 27 %. Der Hauptgrund für die Unterbringung in einem Heim oder einer betreuten Wohnform war in 38 % der Fälle die eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern beziehungsweise eines Elternteils.

Quelle: Pressemitteilungen – 25 % mehr junge Menschen begannen im Jahr 2015 eine Heimerziehung – Statistisches Bundesamt (Destatis)

16. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: „Woher weiß der, wie es mir geht?“ Reflektierendes Team ohne Sprache

Arist von Schlippe, Witten/Osnabrück: „Woher weiß der, wie es mir geht?“ – Reflektierendes Team ohne Sprache

Als ich das Motto des diesjährigen Adventskalenders des Systemagazins las, fiel mir eine Geschichte ein, die ich vor Jahren als Supervisor im Rahmen der Weinheimer Familientherapie-Ausbildung mit multikulturellem Schwerpunkt erlebt habe:

In einer Supervisionssitzung stellt die Therapeutin eine türkische Familie vor, deren Mitglieder nur teilweise und auch nur sehr schlecht deutsch sprechen. Da sie das Türkische beherrscht, will sie das Gespräch gern in der Muttersprache der Familie führen, die der Rest der Supervisionsgruppe nicht versteht. Wir überlegen gemeinsam mit Familie und der Gruppe, wie das Setting dennoch hilfreich sein kann und einigen uns auf ein Experiment: die Therapeutin führt das Gespräch auf türkisch, wird aber zwischendurch immer wieder die Inhalte kurz für die Gruppe zusammenfassen, so dass allen ungefähr klar ist, um welche Thematik es geht. Aus der Gruppe werden Personen ausgewählt, die sich jeweils auf ein Familienmitglied besonders konzentrieren, sich mit ihm/ihr identifizieren und das Gespräch, vor allem die nonverbale Seite, aus dieser Identifikation heraus verfolgen. Alle sind einverstanden, jedes Familienmitglied weiß, welches Gruppenmitglied „seines“ ist. Weiterlesen →

15. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Sich das Fremde vertraut machen (wollen)

Johannes Herwig-Lempp, Merseburg: Sich das Fremde vertraut machen (wollen)

Als gebildete Mitteleuropäer sind wir stolz darauf, dass wir so weltoffen sind, so divers denken, Vielfalt begrüßen und jederzeit bereit sind, uns mit Fremdem und mit Fremden auseinanderzusetzen. Gleichzeitig sind wir entsetzt über diejenigen, die dies anders sehen, die gegen Diversität und Weltoffenheit sind, die nicht in der Lage sind, sich für Fremdes und Fremde zu öffnen. Wir erschrecken, dass diese anderen mit ihrer Menschen- und Demokratiefeindlichkeit immer mehr werden, wir bekommen Angst, dass sie zu viel Einfluss gewinnen und unsere Gesellschaft nach ihren Vorstellungen beeinflussen. Und wir sind als Einzelne und als die demokratische Mehrheit fest entschlossen, uns ihnen „entgegenzustellen“ – mit den scheinbar einleuchtenden und legitimen Strategien der Abwehr, Ablehnung, Abwertung und Ausgrenzung. Ein Erfolg ist bislang nicht wirklich erkennbar, während unsere Angst zunimmt.

Johannes Herwig-Lempp
(Foto: www.herwig-lempp.de)

Vielleicht könnte uns die Vorstellung helfen, dass diese Menschen Fremde für uns sind: wir verstehen nicht, wieso sie so große Angst vor Schutzsuchenden haben, weshalb sie so anders denken und fühlen als wir, wieso sie so menschenfeindlich, rassistisch, demokratieschädlich, gewaltbereit sein können. Die allermeisten der Menschen, die uns auf diese Weise Angst machen, kennen wir nicht wirklich, und sobald sich jemand in unserer näheren Umgebung sich als AfD- oder Pegida-Anhänger zu erkennen gibt, wenden die meisten von uns hilflos ab. Kurz: Diese Menschen sind uns fremd, wir haben Angst vor ihnen und fühlen uns ohnmächtig, wir reagieren wir mit Abscheu und Abgrenzung.

Wie aber könnten wir auf etwas, das uns angst macht und das uns fremd ist, anders reagieren als mit Abwehr? Als Fachleute für psychosoziale Fragen wissen wir es eigentlich: Wir können uns bemühen, uns das Fremde vertraut zu machen. Wir können offen sein für das Fremde oder die Fremden, Neugier entwickeln, gespannt sein, inwiefern unsere Vorurteile und Stereotype womöglich gar nicht zutreffen. Wir können uns bemühen, in dieser scheinbar homogenen Gruppe lauter unterscheidbare Individuen zu erkennen.

Eine Strategie, die ich mir in meinem Berufsleben angeeignet habe (als Sozialarbeiter hat man öfters mit Menschen und Verhaltensweisen zu tun, die im ersten Moment unverständlich, erschreckend, abstoßend, also: „befremdlich“ sind), ist es, nach Gemeinsamkeiten von mir und dem Fremden zu suchen – auch und gerade genau dann, wenn es keine zu geben scheint. Denn auch wenn ich mir keine Drogen in die Venen spritze, keinen Menschen getötet habe, keine Raubüberfälle begangen habe, mich nicht hoffnungslos verschuldet oder auf dem Straßenstrich prostituiert habe – kann ich doch eigentlich immer, mit ein bisschen gutem Willen und Phantasien, Ähnlichkeiten zu mir selbst erkennen, die sich in der Intensität (zum Teil erheblich) unterscheiden, nicht aber im Grundansatz: auch ich nehme Drogen (wenn auch legale), auch ich wünsche manchmal jemandem klammheimlich den Tod (und sei es nur ausgewählten Despoten), auch ich halte es für vielleicht (ich will mich jetzt hier nicht zu sehr outen) ganz in Ordnung, manchmal Gesetze nach meinem Gutdünken auszulegen und zu übertreten. Diese Strategie, nach Gemeinsamkeiten zu suchen mit dem, was mir im ersten Moment fremd, unvertraut und vielleicht sogar angsteinflößend zu sein scheint, hat sich für mich schon oft bewährt. Anschließend finde ich die andere Person und ihr Verhalten gar nicht mehr so „unnormal“, ich habe sie mir „ent-­fremdet“, sie ist mir vertrauter geworden, und auch sie kann zu mir leichter Vertrauen fassen.

Übertragen auf die Menschen in den rechten Bewegungen, vor denen wir Angst haben, deren Verhalten und Einstellung uns abstößt, bedeutet dies, dass wir uns bemühen könnten, sie zu verstehen (wobei verstehen nicht bedeutet, einverstanden zu sein) und zu unterstellen, dass sie Menschen sind wie wir: auf der Suche nach einem guten Leben – wie wir; mit politischen Überzeugungen, für die sie eintreten – wie wir; mit dem Wunsch, Einfluss und Macht zu haben und die eigenen Vorstellungen auch umzusetzen – wie wir; mit dem grundgesetzlichen Recht auf die eigene Meinung und darauf, sie zu vertreten zu dürfen – wie wir; mit einer Weltsicht, Meinungen und Überzeugungen, die sie in ihrem Umfeld entwickelt haben – wie wir; mit dem Bemühen, sich zusammenzuschließen und Gleichgesinnte um sich zu haben – wie wir; manchmal über das Ziel hinausschießend und geschmacklos (siehe Galgen auf der Demo) – wie wir (die wir uns amüsieren, wenn in einem Cartoon James Bond von der Queen beauftragt wird, Trump und Erdogan unauffällig zu beseitigen). Die aber auch – ebenfalls wie wir – nicht nur aus ihrer politischen Meinung bestehen, sondern noch viele andere Identitäten, Ansichten, Bedürfnisse und Wünsche haben: sie sind Eltern, Berufstätige, Liebende, Fußballfans, Autofahrer, Wanderer, Nachbarn, Konsumenten, Fernsehzuschauer, LeserInnen etc. – kurz, ganz normale Menschen wie wir auch.

„Zähmen, das ist eine in Vergessenheit geratene Sache“ lässt Antoine de Saint-Exupéry den Fuchs zum Kleinen Prinzen sagen: „‚Es bedeutet: sich vertraut machen’ […] ‚Man kennt nur die Dinge, die man zähmt’, sagte der Fuchs. […] ‚Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!’‚Was muss ich da tun?’ sagte der kleine Prinz. ‚Du musst sehr geduldig sein’, antwortete der Fuchs.“

Wie gerne würden wir die Rechten ein wenig zähmen. Aber wollen wir sie uns wirklich vertraut machen, sie womöglich zum Freund haben? Bei allem Sinn für Vielfalt und Menschenrechte scheint das zu weit zu gehen. Wir würden zwar wollen, dass diese fremden Menschen uns vertrauen – aber sind doch sehr im Zweifel, ob wir uns überwinden und auf sie zugehen wollen. Dies würde sowohl großen Mut als auch sehr viel Geduld von uns erfordern.

Möglicherweise bin ich ziemlich naiv, wenn ich denke, dies könnte ein Weg sein.

14. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Fremd im Mutter- und Vaterland – Vor- oder Nachteil?

14adventKurt Ludewig, Münster: Fremd im Mutter- und Vaterland – Vor- oder Nachteil?

Das Thema des diesjährigen Adventskalenders ist sicherlich von den aktuellen Verhältnissen inspiriert. Da geht es um die Folgen von Globalisierung, Nationalismus, Fremdenhass, Migration usw. Darüber ist bereits viel geschrieben worden und ich nehme an, dass viele Beiträge sich damit befassen werden. Ich möchte jedoch einen anderen Weg gehen und dieses Thema als Anlass nutzen, um über mein eigenes Fremdsein nachzudenken.

kurt ludewig

Kurt Ludewig

Als Sohn eines Hamburgers und einer Chilenin in Chile geboren und aufgewachsen, bin ich von früh auf mit dem »Fremden« konfrontiert worden. Meine Mutter war eine ausgesprochen anglophile Frau. Deshalb verbrachte ich meine Schulzeit in einer von britischen Lehrern geführten Schule, in der es außer in bestimmten Unterrichtsstunden verboten war, Spanisch zu sprechen. Unter britischen Lehrern lernte ich also zu heucheln, das heißt, schnell auf Englisch umzuwechseln, wenn Lehrer oder »prefects« – Schüler der letzten Klasse mit der Befugnis ausgestattet, Mitschüler zu bestrafen – in meine Nähe kamen. Man spielte Rugby, feierte den Geburtstag der Queen, sang bei Festlichkeiten »God save the Queen« und trank nach dem Sport Gin. Ich lebte zwar in Chile und fühlte mich als Chilene, gebärdete mich aber zuweilen unwillkürlich als Ausländer im eigenen Land. Das war allerdings in einem von Europäern kolonisierten Land keine auffällige Besonderheit. Außerhalb dieser pseudo-britischen Umgebung hörte ich manchmal, wie mein Vater mit Landsleuten auf Deutsch sprach, also in einer damals für mich unverständlichen Sprache. Dass er Spanisch mit hartklingendem deutschem Akzent sprach, habe ich als Kind nicht wahrgenommen. An manchen Sonntagnachmittagen im Winter hörte ich zusammen mit Freunden meinem Vater gern zu, wie er von seinen Erfahrungen als junger Mann in Deutschland und später in Spanien erzählte, wohin er in seinen Zwanzigern ausgewandert war. Seine Geschichten waren so eindrucksvoll, dass ich natürlich ein starkes Fernweh entwickelte. Das dürfte eines der Motive gewesen sein, die mich als Zwanzigjährigen dazu bewegten, das kleine Land am Ende der Welt zu verlassen und in die große Welt zu ziehen.

1963 wanderte ich nach den USA aus. Eine meiner ersten, mich dort prägenden Erfahrungen machte ich an einer Tankstelle in Texas, wo ich als Fahrer eines fremden Autos auf dem Weg von Florida nach Los Angeles haltmachte. Gegenüber der Tankstelle war ein Café, in dem eine schöne blonde Frau servierte. Ich wollte dahin, wurde aber vom mexikanischen Tankstellenwärter, mit dem ich ein paar Worte auf Spanisch gewechselt hatte, daran gehindert. Er warnte mich eindringlich davor, dahin zu gehen, denn die dortigen Cowboys würden keine Latinos mögen. Als ich brüskiert konterte, dass ich Halbdeutscher sei, ergänzte er, dass das noch schlimmer sei. Ich ließ es also sein. Ich hatte schnell gelernt, dass Lateinamerikaner zu sein, ein Grund sein könnte, diskriminiert zu werden. Also griff ich auf meine schulischen Vorerfahrungen zurück und war ab dann bemüht, Englisch mit betont britischem Akzent zu sprechen. Damit habe ich manchen Kunden der Bank, in der ich in Los Angeles als Kassierer arbeitete, irritiert; das war aber weniger schlimm, als für einen »Chicano« (in den USA lebende Mexikaner) gehalten zu werden.

Dann kam ich 1965 nach Deutschland. Meine allererste Erfahrung am Münchner Hauptbahnhof war arg enttäuschend. In Chile musste ich meinen Nachnamen immer buchstabieren, denn keiner verstand ihn. In den USA war dies nicht viel besser. Nun würde ich aber im Geburtsland meines Vaters meinen Nachnamen bloß auszusprechen brauchen und er würde verstanden werden. So glaubte ich das. Bei der Zimmervermittlung antwortete ich auf die entsprechende Frage mit »Ludewig« – von meinem Vater hatte ich gelernt, dass im Deutschen die Endung IG wie ICH ausgesprochen wird. Die bayerische Frau am Tresen schrieb aber »Ludewich«. Erstaunt darüber korrigierte ich, dass mein Name mit IG ende. Sie schaute mich erbost an und sagte, dass ich dann »Ludewick« hätte sagen sollen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass in Deutschland Deutsch nicht gleich Deutsch ist.

Es war der 1. Oktober, also ging ich gleich am ersten Abend zum Oktoberfest. Ich betrat ein großes Zelt, in dem große kräftige Männer in Lederhosen – für mich also in Verkleidung – im Rhythmus einer Marschmusik lauthals »Erika« schrien und im Anschluss mit riesigen Gläsern dreimal kräftig auf den Tisch hauten. Mir gefror fast das Blut. Langsam gewöhnte ich mich an dieses seltsame Spektakel, als plötzlich hinter mir eine kräftige weibliche Stimme »Vorsicht« schrie. Ich drehte mich um, sah eine Art Panzer auf mich zurollen und konnte der Frau, die eine Menge riesiger Biergläser vor sich trug, mit einem Sprung zur Seite nur knapp ausweichen. Bei dieser ersten allzu heftigen Begegnung mit deutschen Gebräuchen kamen mir unwillkürlich beängstigende Assoziationen zu dem Wenigen, was ich über Deutschland aus der Ära bis 1945 wusste. Ob ich in einem mir so arg fremden Land würde bleiben können und wollen?

Im Frühjahr 1966 ging ich dann nach Hamburg. Mit den Ergebnissen von sechsmonatigen Intensivkursen in der deutschen Sprache am Goethe-Institut in Oberbayern gerüstet, begann ich dort ein Studium der Psychologie. Als Hafenstadt war Hamburg kosmopolitischer als das, was ich bis dahin in Deutschland erlebt hatte, und ich konnte mich dort wesentlich leichter einleben. Als aus dem modernen Amerika Gekommener hatte ich dennoch das Gefühl, mich in der Zeit zurückversetzt zu haben. Das Leben in Deutschland, ob in der Kleidung, der Musik oder den Kinofilmen, fand ich äußerst altmodisch und altbacken. Ganz erstaunlich fand ich zum Beispiel, wie unglaublich förmlich die jungen Menschen an der Universität miteinander umgingen. Viele Studenten trugen Jackett und Krawatte, viele Studentinnen Pferdeschwänze und Schottenrock. Man siezte sich und sprach sich mit Herr Kommilitone bzw. Frau Kommilitonin an. Aus dem jungen Amerika gekommen, war ich gewöhnt, gleichaltrige Menschen in Chile zu duzen und sie in den USA per Vornamen anzusprechen. Wollte man sich aber in Hamburg duzen, musste man auf umständliche Weise »Brüderschaft« trinken. Ich musste mich ein paar Jahre lang ziemlich umstellen.

Dann kamen aber die 1968er Jahre und alles änderte sich. Ich erlebte diese Veränderung hautnah. Das Institut für Psychologie an der Uni Hamburg wurde als eines der ersten in Deutschland von Studenten besetzt und in Wilhelm-Reich-Institut umbenannt. Obwohl die Polizei mit großem Aufgebot das Institut zurückeroberte, fielen die Studenten nicht in den früheren Alltag zurück. Das gesellschaftliche Leben hatte sich im Nu nachhaltig verändert. An der Universität wuchsen bei den Jungs die Bärte und die Haare, die Jacketts landeten im Verlies; bei den Mädchen waren die Pferdeschwänze und die Schottenröcken auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Urplötzlich duzte man sich, nicht nur unter den Studenten, sondern sogar die Assistenten und manche Professoren wurden per Vornamen angesprochen und geduzt.

Mein Deutschland – ich betone »mein Deutschland«, denn sicherlich hat dieser Prozess an anderen Orten des Landes länger gedauert – war innerhalb kürzester Zeit auf erfreuliche Weise modern geworden. Einige Jahre später, als Willy Brandt sich aus der Politik zurückzog, dankte ich ihm in einem Brief, dass Deutschland während seiner Regierungszeit ein »normales« Land geworden sei, in dem meine Kinder unbedenklich aufwachsen können.

Diese sind einige der Gedanken und Assoziationen, die mir auf Tom Levolds Aufforderung gekommen sind, mich über meine Begegnungen mit dem Fremden zu äußern. Beim Rückblick musste ich mir noch bewusster als sonst werden, dass ich mein ganzes Leben lang fremd im fremden Kontext verbracht habe. In meinem Mutterland Chile war ich ein britisch erzogener Halbdeutscher, der sich für einen Chilenen gehalten hat, in den USA war ich ein Halblatino, der sich britisch gab, und in meinem »Vaterland« Deutschland bin ich ein Halbchilene, der erfolgreich integriert und doch fremd geblieben ist.

Ziehe ich darüber Bilanz, glaube ich behaupten zu können, dass ein Großteil dessen, was mir in Deutschland möglich war, nicht zuletzt dadurch erklärbar ist, dass ich den Vorteil des Fremdseins habe nutzen können. Vor allem in meinen Tätigkeiten als Therapeut, Lehrer und Autor bin ich als »Integrierter« durchaus in der Lage, mich innerhalb deutscher Verhältnisse sicher zu bewegen, als gebliebener Fremder bin ich aber nicht verpflichtet, die Einschränkungen, die jede Kultur ihren Mitgliedern abverlangt, einzuhalten, um dazu zu gehören. Als »integrierter Fremder« bleibt man auf Dauer eine Art »bunter Hund«, der über die Freiheit des Außenstehenden verfügt, zugleich aber mit tiefen Rissen im Identitätsgefühl auskommen muss. Fremdsein hat eben wie alles andere im menschlichen Leben Vor- und Nachteile.

13. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Es lebe das Fremde!

13adventRudolf Klein, Merzig: Es lebe das Fremde!

Die Gegenüberstellung der Begriffe „fremd“ und „vertraut“ lädt ein, über die damit verbundenen Implikationen nachzudenken. Mit der Wahl dieses Begriffspaares werden spezifische Bedeutungen nahegelegt: „Vertraut“ bedeutet laut Duden (www.duden.de) so viel wie „wohl bekannt“, „intim“, „gewohnt“, „eng verbunden“ während „fremd“ mit „nicht dem eigenen Land angehörend“, „unbekannt“, „nicht vertraut“, „anders geartet“ assoziiert wird. Das Fremde ist unbekannt und wird daher eher problematisiert während das Vertraute bekannt ist und eher unproblematisch erscheint.

Bei genauerem Hinsehen lässt sich aber das Fremde, das Nicht- oder Noch-Nicht-Bekannte, die Überraschung, der Zufall, kurz: der Unterschied nicht etwa nur außerhalb des Vertrauten verorten. Das Fremde existiert auch in dem Bereich, in dem man es am wenigsten erwartet: Im Vertrauen nämlich. Dabei muss man noch nicht einmal an die Debatte über Globalisierung, Migration o.ä. denken.

Wer in einer Partnerschaft lebt, weiß, wovon ich rede. Da merkt man, wenn man sich im Laufe der Jahre keine emotionale Hornhaut gegen jegliche Irritation angelegt hat (oft eine Ausgeburt pseudoharmonischer, konfliktvermeidender Beziehungsmythologien), dass Partner fast täglich Unberechenbares hervorzubringen imstande sind. Das kann bei dem nichtauffindbaren Joghurt (nein, gerade eben nicht im Kühlschrank!) losgehen und sich über die Themen Geld (wer gibt wofür, wann, wieviel aus und wer verdient es?), Sex (wann, wie oft, wie, womit, mit wem, ohne wen?) bis hin zu plötzlich neu gestalteten Wohn-, Schlaf-, Bade-, und Arbeitszimmern ausdehnen, von neuen Frisuren und Outfits ganz zu schweigen – um nur die harmlosesten Überraschungen zu nennen.

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Rudolf Klein

Spätestens dann dämmert einem, dass das Fremde der Normalfall ist und man nur deshalb nicht daran denkt, weil man sich durch die unhinterfragte Idee und Wortwahl des „Vertrauten“ im Gegensatz zum „Fremden“ selber in die Irre geführt hat.

So lange man über solche Unterschiede staunen, sie mit Ruhe hinnehmen, sich über neue neuronale Verschaltungsoptionen freuen und man über die Unterschiede und das Fremde meinetwegen auch debattieren, streiten und Konflikte austragen kann, ist die Sache relativ okay. Ja, es kann sogar eine Quelle der Inspiration und Kreativität sein.

Wenn nicht, wird es mindestens interessant, manchmal sogar riskant: Dann erscheint der Partner nämlich im Laufe der Jahre immer unbekannter. Fremd sozusagen. Obwohl man ihn von Tag zu Tag länger kennt. Man hat, so erklären sich manche dieses Phänomen, möglicherweise den falschen Partner erwischt oder er hat sich im Laufe der Zeit negativ verändert.

Öfter wird die zweite Erklärungsvariante gewählt. Und spätestens jetzt sollte man den Partner wieder auf den richtigen Kurs zu bringen versuchen. Auf den eigenen richtigen Kurs, versteht sich. Dummerweise denkt der Partner oft auch so: Die wechselseitige Fremdheit wird zum Problem und soll dem Vertrauten wieder weichen.

Wenn man es einfach ausdrücken will, entsteht Fremdheit als Problem eigentlich nur aus zwei Gründen: Wenn die Idee geteilt wird, dass aus dem Fremden das Vertraute werden, Gleichheit also die Maxime menschlicher Beziehungen darstellen soll und diese Idee als wahres Wissen konzipiert wird. Oder anders ausgedrückt: Wenn eine Gleichheits- bzw. Vertrautheitsmythologie unhinterfragt geteilt wird. Das Fremde wird somit also nicht bekämpft, weil es anders ist (das wäre trivial), es wird bekämpft, weil es nicht so ist wie ich.

Obwohl es theoretisch klar ist, dass Gleichheit nicht herstellbar ist (Fremdheit und Ungleichheit sind der zu erwartende Fall), wird in der alltäglichen Beziehungsgestaltung die Egalisierung immer wieder gerne angestrebt. Das Fremde soll im Extremfall ausgetrieben werden und wird bekämpft: Mit gut zureden, mit pädagogisch ausgeklügelten Strategien, mit Paartherapien, mit Drohungen, Bestechungen und Erpressungen jeglicher Art.

Man ist dann intensiv damit beschäftigt, erste Vorkehrungen für das Begräbnis der Partnerschaft zu treffen. Manchmal geschieht dies dann leider im wörtlichen Sinne – zum Beispiel nach Gewalttaten, bei denen die empfundene Fremdheit und Ungleichheit des Partners so groß erlebt wird, dass sie mit gewalttätigen Mitteln in Richtung Vertrautheit und Gleichheit verändert werden soll.

Vielleicht besteht die Herausforderung darin, eher mit der Unterscheidung zu operieren, im Vertrauten das Fremde und im Fremden das Vertraute aufzuspüren ohne dabei eigene Positionierungen sofort aufgeben zu müssen und ohne bereits vorab wissend vorzugeben, was man für die richtige Entscheidung hält. Und vielleicht ist es sinnvoller, angesichts des unvermeidlich Fremden im Vertrauten und des Vertrauten im Fremden das Staunen, die Neugierde am Anderssein zu entdecken und weniger von der Überlegung sich leiten zu lassen, wie man am besten, schnellsten und effektivsten Vertrautheit herstellen kann – mit allen gewünschten und unerwünschten Nebenwirkungen.

Und während ich das so schreibe, fällt mir mal wieder ein Zitat von Philip Roth ein, das mich seit Jahren begleitet. Er schreibt in seinem Buch „Der menschliche Makel“: „Mit „Jeder weiß“ ruft man das Klischee an und beginnt mit der Banalisierung der Erfahrung, und das eigentlich Unerträgliche sind die Feierlichkeit und das Gefühl der Autorität, mit der die Leute das Klischee aussprechen. Wir wissen nur, dass auf individuelle Weise niemand irgend etwas weiß. Man kann gar nichts wissen. Die Dinge, von denen man weiß, dass man sie nicht weiß. Absicht? Motiv? Folge? Bedeutung? Was wir nicht wissen, ist erstaunlich. Noch erstaunlicher ist, was wir als Wissen betrachten.“ (S. 235)

12. Dezember 2016
von Tom Levold
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Bernd Schmid wird 70!

Heute feiert Bernd Schmid seinen 70. Geburtstag, zu dem systemagazin herzlich gratuliert. Er studierte Wirtschaftswissenschaften und promovierte in Erziehungswissenschaften und Psychologie. 1984  gründete er das Institut für systemische Beratung in Wiesloch, das seitdem zahllose systemische BeraterInnen weitergebildet hat. Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind seit Jahren die Auseinandersetzung mit Fragen einer Systemischen Lern-, Professions-, und Organisationskultur und die Arbeit mit Intuition, Träumen und inneren Bildern. Er ist Ehrenmitglied der Systemischen Gesellschaft, Lehrtrainer der internationalen Transaktionsanalytischen Gesellschaft sowie anderer Gesellschaften im Bereich Psychotherapie, Coaching, Supervision, systemische Beratung sowie Organisations- und Personalentwicklung. Darüber hinaus war er Mitgründer und Vorsitzender des Präsidiums des Deutschen Bundesverband Coaching DBVC sowie Gründer und langjähriger Vorsitzender der Gesellschaft für Weiterbildung und Supervision GWS. Viele seiner zahlreichen Veröffentlichungen stehen ebenso wie Videos seiner praktischen Arbeit auf der website des isb zum kostenfreien Download zur Verfügung. Nach seinem 70. Geburtstag und dem nur wenige Tage später zu feiernden über 40jährigen Berufsjubiläum will sich Bernd Schmid aus dem aktiven Berufsleben weitgehend zurückziehen – was nicht bedeuten soll, dass er seine Erfahrungen in Zukunft nicht mehr weiter zur Verfügung stellen würde. Dass dafür seine Energie und Schaffenskraft ungebrochen anhält, wünschen wir ihm von Herzen!

 

12. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: zoon politicon und die Sprachverwirrung

12adventBernd Schmid, Wiesloch: zoon politicon und die Sprachverwirrung

Als Berater arbeitete ich seit 1987 auch an Projekten in der Sowjetunion. Welche Bedeutung neben guten Beratern gute Dolmetscher hatten, wurde uns erst im Rahmen dieser Projekte klar. Zuerst hatten wir zum Glück einen ehemaligen österreichischen Regierungsdolmetscher, der offenbar für unsere oft unbedachten Äußerungen die richtigen Worte fand. Dann gab es aber auch schwierigere Szenen. Auch aus Kostengründen griffen wir auf Werksangehörige unserer russischen Partner zurück. Sie hatten im Geschäft

Bernd Schmid

Bernd Schmid

mit der DDR Deutsch gelernt. Im Rahmen eines Referats, das ich in Orsk im Südural hielt, erwähnte ich den von Aristoteles geprägten Begriff zoon politicon. Da fiel der Dolmetscher aus seiner Rolle und weigerte sich schlichtweg zu übersetzen. Stattdessen stellte er mich aufgebracht zur Rede, warum ich von russischen Menschen als Tiere sprechen wollte. Meine Versuche, ihm zu erklären, wie der Begriff gemeint war, blieben fruchtlos. Schließlich blieb mir nichts Anderes übrig, als ihm eine klare Anweisung zu geben, dass er das bitte einfach übersetzen sollte. Das wirkte sofort und ich konnte fortfahren. Allerdings ging mir noch nach, dass ich auf solche Gehorsam-Reflexe zurückgreifen musste.

Ein andermal beriet ich den Generaldirektor in einem Vier-Augen-Gespräch, das wegen der dolmetschenden Mitarbeiterin eben unter sechs Augen stattfand. Es ließ sich ganz gut an, doch bemerkte ich zunehmende Zurückhaltung bei meinem Gegenüber, die ich mir zunächst nicht erklären konnte. Doch fiel mir auch auf, dass die Übersetzungen immer länger dauerten und die Stimme der Dolmetscherin immer dringlicher wirkte. Irgendwann wurde mir klar, was lief und ich stellte sie zur Rede. Sie gab zu, dass sie toll gefunden hat, dass man mit dem Generaldirektor mal ein offenes Wort sprechen konnte, und ihm daher kräftig ihr eigenes Feedback an ihn in die Übersetzungen eingebaut hatte. Zum Glück hatten ich bereits ein Vertrauensverhältnis mit dem Direktor, so dass wir mit einem anderen Dolmetscher noch einmal ansetzen konnten.

11. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Manchmal wäre ich gerne ein Fuchs

11adventDörte Foertsch, Berlin: Manchmal wäre ich gerne ein Fuchs

Fremd sein, um einen Grund zu haben, sich vertraut miteinander zu machen, das wäre eine heilsame Idee. Manchmal wird mir Angst und Bange, wenn ich die Nachrichten lese oder schaue und realisiere, wie mit unseren Fremdheitsgefühlen umgegangen und Politik gemacht wird.

Eigentlich mag ich es auch, selbst anderen zunächst fremd zu bleiben, um Neugierde zu wecken. Es sind nicht nur die Anderen, die mir fremd sind, ich gehöre zu Menschen, die anderen ebenso fremd ist. Es gab mal ein schönes Plakat, mit der Aufschrift, Ausländer sind wir alle, nur nicht im eigenen Land.

Mir fiel bei dem diesjährigen Thema die Begegnung zwischen dem Fuchs und dem kleinen Prinzen ein, die Geschichte von Antoine de Saint Exupery ist bekannt. Ein Ausschnitt aus dem Dialog:

„Guten Tag, sagte der Fuchs. Guten Tag, antwortete der kleine Prinz höflich… Ich bin hier, sagte die Stimme unterm Apfelbaum. Wer bist Du? fragte der kleine Prinz… Ich bin ein Fuchs, sagte der Fuchs. Komm und spiel mit mir… ich bin so traurig. Ich kann nicht mit Dir spielen, sagte der Fuchs, ich bin nicht gezähmt … Was bedeutet zähmen? … Das wird oft ganz vernachlässigt, es bedeutet sich vertraut miteinander zu machen. Vertraut machen? Natürlich, sagte der Fuchs, Du bist für mich nur ein kleiner Junge… Ich brauche Dich nicht und Du brauchst mich auch nicht, ich bin für Dich nur ein Fuchs unter hunderttausenden von Füchsen. Aber wenn Du mich zähmst, dann werden wir einander brauchen, Du wirst für mich einzigartig sein und ich werde für Dich einzigartig sein… Man versteht nur die Dinge die man zähmt, sagte der Fuchs… Was muss ich machen? sagte der kleine Prinz. Du musst sehr geduldig sein, sagte der Fuchs. Du wirst

Dörte Foertsch

Dörte Foertsch

Dich … mit einem kleinen Abstand zu mir ins Gras setzen, ich werde Dich aus den Augenwinkeln anschauen und Du wirst schweigen. Sprache ist eine große Quelle für Missverständnisse, aber jeden Tag setzt Du Dich ein wenig näher…“ Wie die Geschichte weitergeht ist bekannt und viel gelesen.

Als Kind fand ich das Wort „zähmen“ merkwürdig und altmodisch, es beinhaltet in unserem Verständnis eine Einseitigkeit in Bezug darauf, wer denn wen „zähmen“ sollte. So geht es mir allerdings auch mit dem Fremdsein. Genau genommen ist es wie in allen Beziehungen etwas Gegenseitiges, leider erlebe ich es zur Zeit aber eher nur einseitig – denn da sind die Fremden und da bin ich. Das ist auf Dauer keine gute Unterscheidung, wenn wir in Deutschland darauf zusteuern, in den nächsten Jahren ein Land zu entwickeln, in dem Flüchtlinge leben werden.

Eine kleine Adventsgeschichte dazu. In der letzten Woche kam eine iranische Mutter mit ihrem zwölfjährigen Sohn, der bitterlich weinte und gar nicht mehr aufhören konnte. Was war passiert? Auf dem Weg zu mir waren die Beiden einer älteren Dame begegnet, die schwere Tüten mit Weihnachtseinkäufen trug. Der Junge war zu ihr hingelaufen um ihr die Tüten abzunehmen, denn im Iran ist es eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit, dass jüngere Menschen den Älteren immer die schweren Dinge abnehmen, um ihnen zu helfen. Ein kurzer Blick signalisiert „ich helfe Dir“. Die Dame hatte den Jungen allerdings ganz anders wahrgenommen. Sie beschimpfte ihn als Dieb, wollte die Polizei rufen und beschimpfte die Mutter, welch unerzogenen Sohn sie hätte. Die Geschichte kann für sich sprechen. Aber sie zeigt auch welch Herausforderung es ist, sich miteinander vertraut zu machen.

10. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Das Fremde

10adventPeter Fuchs, Soest: Das Fremde

Sie hatte schon während der Schwangerschaft bemerkt, dass zwischen den Beschreibungen des Schwangerschaftsglückes und ihrem Erleben ein Riss verlief.

Einerseits war manches so, wie es ihr gesagt worden war, leichte Übelkeiten beispielweise, aber ausgleichenderweise auch eine hohe soziale Beachtung, die Neigung in der Umwelt etwa, darauf zu warten, dass sie besondere Gelüste entwickele, was sie dann vorsichtshalber tat (sie kaprizierte sich auf Hähnchen und Sauerkrautsalat).

Andererseits war die ganze Angelegenheit, wie sie sich in einem Winkel ihres Kopfes flüchtig eingestand, ziemlich gewöhnlich. Sie wurde von innen her langsam aufgepumpt, sah bald aus (da sie sehr kantig war), als ob sie einen Fußball verschluckt hätte, der mehr und mehr zu einem Medizinball hinüberschwoll. Ihre Eltern und die Schwiegereltern freuten sich, Joseph war ein Überbehüter, alles bestens, und doch war ihr so, dass sie etwas Fremdes ausbrütete, dass sie ein Körper war, in dem etwas ausgebrütet würde, das sie kurioserweise mit einer Unfarbe verband, es war in ihren lose gleitenden Phantasien pechschwarz, außerdem schmierig und unsagbar fremd.

Ja, wenn es so etwas gab wie einen Ekel nach innen, so hatte sie ihn, wie sie sich ungern erinnerte, gehabt, so dass die Geburt, deren Schmerz sie ohne Furcht erwartete, wie eine Befreiung war – weswegen sie dann auch ganz erlöst gestrahlt hatte, als alles überstanden war und Joseph, der selbstverständlich der Geburt beigewohnt hatte, sie geküsst hatte, seinerseits strahlend, weil Zwillinge, das war schon was. Und sie waren keineswegs unfarbig, sondern wunderhübsch, pausbäckig, blauäugig und ganz und gar unproblematisch in den ersten Wochen und Monaten.

Peter Fuchs (Foto: Tom Levold)

Peter Fuchs
(Foto: Tom Levold)

Eine perfekte Mutter, da konnte ihr niemand etwas vorwerfen. Joseph hatte keinerlei Mühen und Ärgernisse mit den Kindern. Vera war immerzu für sie da. Es mangelte den Kindern an nichts, soweit sie es überblicken konnte, wiewohl sie mit einem gleichsam erblassenden Herzen registrierte, dass ihre Mutter eine seltsame Besorgnis signalisierte, irgendwie nicht einverstanden war mit dem, was sie tat, und ihr Vater, der weniger zurückhaltend war, sagte dann auch irgendwann: “Du knubbelst die Kinder ja gar nicht! Kinder muss man doch knubbeln…” Und er nahm die Zwillinge, schmiss sie durch die Lüfte, dass sie quietschten wie Ferkel, die abgestochen werden.

Beinahe war es so nach diesem Vorfall, dass die alte Phantasie des pechschwarz und klebrig in ihr Heranwachsenden in verdünnter Weise wiedergekehrt war, als eine leichte Schwärzung der Luft, wie eine zarte Vergiftung, die es ihr unmöglich machte, die Kinder zu küssen. Sie tat es notgedrungen, doch putzte sie sich heimlich den Mund danach ab. Sie ertappte sich ferner dabei, dass sie nicht wie all die anderen Mütter etwas in den Mund stecken konnte, was die Kleinen schon im Mund gehabt hatten, oder dabei, dass sie es nicht vermochte, aus einem Teller mit ihnen zu essen. Sie hatte dennoch (sie spürte es genau) einen ungeheuer liebevollen Gesichtsausdruck, wenn sie die beiden ansah, ja, sie registrierte sogar etwas wie eine tiefgehende Ergriffenheit, wobei sie, wenn sie diese Rührung zu begreifen versuchte, darauf stieß, dass es die Rührung gegenüber unschuldigen Opfern war, nicht die sentimentale Glückstrunkenheit angesichts gesunder, heranwachsender Kinder.

Sie konnte sich nicht verhehlen, dass sie keinen Zusammenhang zwischen sich und den Zwillingen fühlte. Sie waren in gewisser Weise weit weg, glucksende, prachtvoll genährte, blitzsaubere Kinder, auf die sie aufpasste (es durfte ihnen kein Leid geschehen) und die von Joseph und von allen möglichen Leuten vergöttert wurden. Ja, fast verspürte sie eine gewisse Genugtuung, wenn sie den Riss zwischen sich und den Zwillingen bedachte, der für all die anderen (mit Ausnahme ihrer Eltern, die es aber wohl nicht so ernst gemeint hatten) unsichtbar war, Ausdruck einer geheimen Fremdheit zwischen ihr und den Kindern, die (wie sich von selbst versteht) nicht von den Kindern ausging, von denen sie allem Anschein nach fast wie verrückt geliebt wurde, so sehr, dass man vermeinen konnte, ihr Leben bestünde darin, ihr zu zeigen, wie sehr sie geliebt wurde.

Die Zwillinge taten, was sie konnten, sie entzückten die Umwelt und bemühten sich, niemandem, vor allem aber der Mutter nicht, irgendeinen Schmerz beizufügen, der aber doch die Luft, die sie atmeten, unstörbar bewohnte.

9. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Fremdheit in Nähe verwandeln

9adventDennis Gildehaus, Bad Zwischenahn: Fremdheit in Nähe verwandeln

Innerhalb der letzten Monate sind in unserem kleinen niedersächsischen Ort Bad Zwischenahn (Niedersachsen) ca. 600 Flüchtlinge aufgenommen worden. Darunter vor allem viele unbegleitete Minderjährige, die besonders starken Belastungen ausgesetzt waren. Die Kinder und Jugendlichen mussten zum Teil den Verlust ihres Landes und ihrer Eltern allein bewältigen, die erlebten Traumatisierungen verarbeiten und sich darüber hinaus den neuen sozialen Beziehungen und unbekannten soziokulturellen Normen stellen.

Die Unterbringungsmodalitäten in Flüchtlingsheimen außerhalb des Ortskerns blockierten eher die Kontaktanbahnung und führten vor allem zu Unsicherheit und Skepsis auf beiden Seiten. Die Kinder und Jugendlichen aus Bad Zwischenahn waren einerseits sehr aufgeschlossen, Fremdheit in Nähe wandeln zu wollen und andererseits wurde diese Motivation durch Vorurteile der Erwachsenen wieder konterkariert.

Nach mehreren Wochen bewegten sich sukzessive immer mehr Kinder und Jugendliche außerhalb der Flüchtlingsunterkunft, um Bad Zwischenahn näher kennenzulernen. Schnell entdeckten sie auch das gut besuchte und meines Erachtens vor allem systemisch-pädagogische Jugendzentrum „Stellwerk“ und die dazugehörige Skateboardanlage. In dieser Einrichtung habe ich vor mehr als 15 Jahren mein Anerkennungspraktikum als Pädagoge gemacht.

gildehaus-dennisIn meiner heutigen psychotherapeutischen Praxis komme ich mit Flüchtlingen kaum in Kontakt und so hatte ich mich entschieden, eine durchaus vorhandene Fremdheit mit einem mir vertrauten Medium aufzulösen. Dies vor dem Hintergrund des Vereins „skate-aid e.V.“ Dieser Verein fördert mit der pädagogischen Kraft des Skateboards Selbstvertrauen, Gemeinschaftsbewusstsein, Eigenverantwortung und Zielstrebigkeit von Kindern und Jugendlichen und ihre freie Entfaltung – unabhängig von sozialer Herkunft, Ethnie, Sprache, Religion, Nationalität oder Kultur. Da ich bis 2001 Skateboard-Profi war, hatte ich als Erinnerung mehrere „Boards“ aufbewahrt. Auch wenn ich mit meinen 39 Jahren nicht mehr der eleganteste Praktiker bin, sind in meinem inneren Erlebnisrepertoire jedoch viele Tricks gespeichert, die durch imaginative Regressionen gut abrufbar sind.

An sonnigen bzw. trockenen Wochenenden treffen sich auf der Skateboardanlage in Bad Zwischenahn viele minderjährige Flüchtlinge, um Ablenkung zu finden von all ihren Erfahrungen der letzten Wochen, Monate und Jahre. Als Beobachter fiel mir auf, dass sie eher zurückhaltend und reserviert zuschauten und nicht aktiv den Kontakt zu den deutschen und deutsch-türkischen Kindern und Jugendlichen suchten. Die Barrieren bestanden nicht alleine in ihren fremden Sprachen, sondern auch auch in der Gestik, Mimik und Körperhaltung der Flüchtlinge. Sie waren eben äußerlich nicht so aufgeschlossen lustig, laut und schnell im Tempo.

Vorteilhaft war jedoch, dass oft auch Kinder und Jugendliche auf der Anlage waren, die als Dolmetscher gerne ihre Hilfe bei Bedarf anboten – also eine sehr soziale, sportliche Begegnung 2.0.

Für mich war es eine Herzensangelegenheit, denn die Kinder und Jugendlichen können über diesen Sport traumatische Erinnerungen abbauen, über Wünsche und Bedürfnisse kommunizieren, Emotionen zeigen, wieder Humor empfinden, sich physisch wieder spüren. Sport ermöglicht ihnen hypnoimaginativ Anschluss an ihre Welt vor der Flucht herzustellen und wieder einen Kontakt zu ihren Wurzeln zu bekommen, den ich „sportlich-therapeutisch“ begleiten konnte.

So nutze ich das Skateboard beispielsweise zur Zeitstrahlarbeit 2.0 auf der gesamten Anlage. Mit bunter Kreide zogen wir eine Linie von A nach B, die mit Symbolen (Jacken, Dosen, Spielzeuge etc.) und Bildern (Geburt, Schule, Familie, Haus bzw. Wohnung etc.) verknüpft war. Die Kinder und Jugendlichen beschrieben in ihrer Art ihren eigenen Weg, indem sie mit dem Skateboard ihre eigene „Landschaft“ befuhren und auf allen Sinneskanälen erlebten. Einstreuen ließen sich während dieser Übung auch immer wieder Fragen nach Ressourcen und bisherigen Lösungsversuchen – auch die der Angehörigen.

Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Arist von Schlippe, Mohammed El Hachimi und Gesa Jürgens bedanken. Ihre Veröffentlichungen im multikulturellen Feld haben mir in jeglicher Hinsicht die Türen zu unbekannten Systemen geöffnet.

8. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Fremdeln im Phasenübergang

Wolfgang Loth, Bergisch Gladbach: Fremdeln im Phasenübergang

8adventEine Geschichte aus dem Frühjahr 1987. Keine große Sache. Interessant nur im Nachhinein. Mit dem Wissen von heute. Ich bin mit einem Freund für eine Woche in Ägypten. Herbert und ich wollen auf eigene Faust etwas sehen von Land und Leuten. Wir geraten in die letzte Woche eines Wahlkampfs.

Mohammed war vor Jahren Offizier in der Armee, jetzt ist er freiberuflicher Fremdenführer und sucht sich seine Kundschaft. Er hatte uns gesagt, dass bei dieser Wahl zum ersten Mal eine fundamentale islamistische Partei zugelassen sei. Auf dem Weg nach Memphis begegnen wir einer kleinen Demonstration von Anhängern dieser Partei. Mit lautem Rufen und Fahnen und Transparenten ziehen sie eine ländliche Straße entlang. Sie lachen und winken uns zu. Mein Bart, damals noch schwarz und lang, der sei es, sagt Mohammed. Sie hielten mich für einen der ihren. Wir finden das lustig. Wie die Sache am Museum, „Rich man!“, hatte der Alte gesagt, als er mir in den Bart griff, „oh a rich man!“, mir sollte es recht sein.

Wir fahren mit der Bahn nach Luxor, allein, ohne Mohammed. In der abendlichen Teestunde, zum Ausklang des Tages auf dem Trottoir vor einem kleinen Restaurant in der Nähe des Tempels spüren wir einer Stimmung nach, die sich da einstellt. Wie wird das werden im Land, was wird politisch passieren? Wir haben die Ereignisse im Iran im Kopf, Chomeinis Revolution und wir sinnieren über mögliche Auswirkungen in den arabischen Ländern. Was ist, wenn das auch hier durchschlägt? Immer wieder begegnen uns Männer mit Flinten über der Schulter. Folklore, so wirkt das, die Männer mit ihren Flinten in den langen Gewändern. Dass das täuscht, wissen wir selbst. Kein rheinischer Schützenverein. Einige Male spielen wir durch, wie das wohl ist, wenn der Funken überspringt. Das Leben auf der Straße scheint wie gewohnt, buntes Treiben, ohne Hast. In der Supermarktgarage gegenüber grelles Neonlicht, das Geschäft läuft. Im Bäckerladen gibt es frische Fladen. Drei Jungen, ihre langen Gewänder um die Knie geschlungen und noch ohne Kopfbedeckung, haben sich etwas abseits von uns niedergehockt, schauen auf die andere Straßenseite. Verschleierte Frauen in Schwarz balancieren knallbunte Einkaufskörbe aus Plastik auf dem Kopf. Alles friedlich, wie immer, normal offenbar. Und doch bemerken wir unsere Unruhe. Nicht, dass wir uns ernsthaft unsicher fühlen, doch etwas ist anders. Weiterlesen →

7. Dezember 2016
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Ähnlichkeit der Vielfalt

Iris Kuchta, Düsseldorf: Ähnlichkeit der Vielfalt

7adventIm Rahmen meiner Arbeit als Lehrerin an einer Grundschule leiste ich einen Beitrag, dass die Seiteneinsteiger-Schüler (Flüchtlingskinder) bereit sind, sich mit einer fremden Sprache, einem fremden Inhalt und Kontext auseinanderzusetzen. Dazu gehe ich den ersten Schritt auf sie zu. Ich gehe freundlich mit Gesten, Mimik und Worten auf sie zu. Ich lade sie ein mit mir in Beziehung zu treten, ihr neues Klassenzimmer zu entdecken und sich mit dessen Gegenständen vertraut zu machen und biete Spielräume; neue Lerninhalte zu entdecken. Dabei geht es ganz häufig darum mit dem Fremden und teilweise Befremdlichen zu kooperieren. Dies gilt sowohl für die Schüler untereinander als auch mit mir.

Wir sind uns zunächst als Menschen fremd. In größeren Gruppen spricht oftmals jeder eine eigene, andere Sprache. Musik hilft zur Überbrückung der anfänglichen Sprachlosigkeit im Sinne von einer Art fehlendem Übersetzungsprogramm. Feste, verlässliche Rituale – wie unser internationales Begrüßungslied und unsere Vorstellungsrunden – stecken einen sicheren Rahmen ab. Mit Musik gelingt es leichter unsere Bewegungen miteinander zu koordinieren, Sprache dient dann eher als Hintergrundfolie z.B. wenn wir unser links-rechts Lied hören und uns dazu bewegen. Der Rhythmus ist universal erlebbar, gegenseitiges Beobachten, Vormachen, Nachahmen fällt mit Musik leicht.

Jedes Kind erhält einen Platz in unserer Runde sowie Mitspracherecht und Anteilnahme. Wertschätzung, aber auch Emotionen wie Anspannung, Angst, Unsicherheit, Unbehagen, welche durch Unvertrautes ausgelöst werden können, erhalten hier ihren Raum. Denn sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen heißt, das Risiko eingehen, eigene Denk- und Verhaltensweisen, seine Interessen zu hinterfragen. Bezogen auf die neue Sprache bedeutet es, sich in eine unbekannte, anfangs unverständliche Sprachmelodie einzuhören. Unbefangen mit den fremden Lauten umzugehen, Wortgrenzen zu erkennen, Buchstaben kennenzulernen und einen Wortschatz aufzubauen. Eine neue Sprache wird leichter gelernt, wenn zuvor bereits eine Muttersprache gelernt und gefestigt ist. Was das Sprachlernen betrifft arbeiten wir integriert: Wir kombinieren Musik, motorische Übungen, trainieren die Sprachmelodie, führen Buchstaben und einen neuen Wortschatz ein und legen grammatische Strukturen an. Zunächst entsteht ein sich herantastender Suchprozess. Einzelne Worte oder Sätze werden als Erstes erlernt. (Chunks wie: „Darf ich auf die Toilette gehen?“ oder „das Heft, der Stift“ etc.) Rituale geben Halt und eröffnen zugleich Sprechanlässe. Voller Herzlichkeit präsent sein und Freiräume gönnen können, erscheint mir wichtig zu sein. Das erfordert eine gegenseitige Anstrengung im Bemühen aufeinander zuzugehen und Kommuni-kationskompetenz (in beide Richtungen) zu erlangen und Orientierungswissen zu erwerben. Allerdings gibt es keine Gelingensgarantie. Wir können aber Anerkennung vermitteln. Weiterlesen →