Hartwig Hansen, Hamburg: Auf der Suche nach der F1-Taste
Ganz am Anfang steht es ja regelmäßig null zu null unentschieden in Sachen Fremd gegen Vertraut.
Ich meine den Moment, wenn ich die Praxistür öffne und ein mutiges Paar vorsichtig fragt: „Sind wir hier richtig zur Paarberatung?“
Für Herrn und Frau X ist alles ungewohnt und neu – vertraut ist ihnen allerdings der „mitgebrachte“ Alltag mit dem Partner und mit dem Problem, das sie zu mir führt. Fremd ist ihnen jetzt aktuell alles andere – die Räume, der Geruch, die Sessel, meine Blicke, meine Fragen …
Ich hingegen bin hier vertraut mit dem Drumherum und den Abläufen, ich habe eine gewisse Routine, aufgeregt bin ich nicht mehr – das Ehepaar X schon. Ihnen steht die Frage ins Gesicht geschrieben: Was wird heute hier passieren? Werden wir diesem Mann, den wir ja gar nicht kennen, wohl vertrauen, ihn sogar zu unserem Vertrauten machen können?
Auf jeden Fall bringen Herr und Frau X eine große Portion Vertrauensvorschuss mit in die Beratung, die sich vielleicht diffus aus der Vorstellung nährt: Er als Experte kennt sich sicher aus mit unseren Problemen, der hat schon viel Verquastes erlebt, dem ist nichts Menschliches fremd …
Wenn die wüssten!
Es gibt da sehr vieles, das mir fremd ist und wohl auch bleiben wird. Zum Beispiel habe ich es in der Paarberatung heutzutage überproportional mit Männern aus der IT-Branche zu tun, die sich von ihren Partnerinnen mit guten Worten und ein paar eingestreuten Drohungen zur Beratung „überreden“ ließen und jetzt nur minder motiviert und nicht unbedingt überzeugt vom Sinn der Veranstaltung nach der F1-Taste für ihre Beziehung suchen. Diese Branche ist mir im Grunde nur aus Erzählungen bekannt und grundsätzlich eher fremd geblieben. Mittlerweile habe ich mich allerdings ein bisschen bekannt gemacht mit der Denkweise dieser Männer, die in knappen Worten etwa so zusammengefasst werden kann: Programm läuft nicht, Fehlerquelle suchen, Fehlerquelle ausschalten, Programm läuft wieder.
Hartwig Hansen
Schwierig wird es dann natürlich regelmäßig, wenn zum Beispiel Frau X nur den Anflug des Eindrucks gewinnt, sie könnte so etwas wie eine Fehlerquelle im „Programm“ ihrer Ehe sein. Eujeujeu …
Hilfreich-entspannend ist dann meist, wenn ich signalisiere, dass ich mich aufgrund von Beratungserfahrung in beiden Perspektiven ein bisschen auskenne und zum Beispiel die erwähnte F1-Taste ins Spiel bringe. Dann strahlt Herr X und Frau X schöpft wieder Hoffnung, doch noch unterstützt zu werden gegen den – Zitat – „IT-Rationalix“ in ihrem Ehebett.
Was ich sagen will: Mir ist so einiges (ziemlich) fremd an Berufsbildern, Lebensentwürfen, Glücksvorstellungen, Werten und Haltungen der Menschen, die zu mir in die Beratung kommen.
Aber – und darauf will ich hinaus: Das, was mir naheliegend, logisch, bewährt und vertraut ist, also das, was ich anbiete und vorschlage, ist ja für das Ehepaar X erst einmal neu, fremd, ungewohnt, verunsichernd, verstörend.
Für sie ist möglicherweise etwas ganz anderes stimmig und gewünscht, bekannt und bewährt.
Dafür muss ich mich offen halten. Denn wie sagte es Tom Levold so treffend in seinem Schreibaufruf: „Der zentrale Affekt für alle Prozesse der Veränderung, Beziehungsaufnahme und Zusammenarbeit ist ja Interesse: Interesse und Neugier als Voraussetzung für Exploration und Begegnung mit dem Unbekannten.“
Mein Job besteht also darin, nicht nur die Antennen auszufahren für das, was sich für mich fremd und dissonant anfühlt, sondern vor allem auch in meine Überlegungen mit einzubeziehen, was alles fremd, neu und ungewohnt für das Ehepaar X (beispielhaft für alle Klientinnen und Klienten) sein könnte. Konkret also: öfter mal gedanklich die Blickrichtung ändern – nicht mehr nur von mir auf mein Gegenüber schauen, festgezurrt an allen bekannten Denkmustern der Vergangenheit, sondern umschwenken in die Blick- und Denkrichtung: Wie erleben wohl Herr und Frau X ihre Welt und das, was ich gerade gesagt habe?
Und dann auch ruhig mal nachfragen …
Je besser wir unsere Erlebensweisen und Sprachbilder in den fortgesetzten Rückkopplungsschleifen unserer Verständigungsversuche „übereinander bekommen“, desto sicherer wird unsere Arbeitsbasis und desto mehr Neues, Anstoßendes und potenziell Verstörendes kann ich anbieten.
Dabei gibt es, um im Einstiegsbild des Unentschiedens zu bleiben, keine Gewinner und optimalerweise keine Verlierer. Es gilt, fortgesetzt die Balance zu halten, die lautet: Neues kann nur angenommen und ausprobiert werden, wenn das Vertrauen und das Vertraute ausreichend Sicherheit gewähren.
PS: Übrigens habe ich mich jetzt auch mit allen Tasten meines Computers bekannt gemacht: Die F1-Taste steht ja normalerweise für „Hilfe“ – bei mir macht sie allerdings nur meinen Bildschirm dunkler. Zum Glück macht F2 ihn dann wieder heller … Also brauchen wir mehr F2 in dunklen Zeiten. Öfter mal was Neues …