Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin,
der November war ein beruflich und familiär so voller Monat für mich, dass ich außer der Einladung zum diesjährigen Adventskalender nicht dazu gekommen bin, neue Dinge ins systemagazin zu posten. Umso mehr freue ich mich, dass es heute mit dem Kalender losgeht, auch wenn unglücklicherweise durch technische Probleme das erste Türchen jetzt erst am Vormittag geöffnet werden kann. Beiträge sind nach wie vor erwünscht, ich freue mich auf Ihre Zusendungen. Den Anfang macht Bernd Schmid aus Wiesloch mit einer Reflexion zum Stellenwert von Schuld und Verantwortung. Ich wünsche Ihnen und uns allen eine hoffentlich gute und friedliche Vorweihnachtszeit – Ihr Tom Levold
Bernd Schmid, Wiesloch
Wie gehen Systemiker mit Schuld um? Und kennt systemische Beratung überhaupt einen Schuldbegriff? Inwieweit unterscheidet der sich von strafrechtlicher Schuldzuweisung?
In den 1970er und 1980er Jahren flüchteten sich nicht wenige Systemiker in Neutralität, was sie mit der Relativität von Wirklichkeit begründeten. Oder war es vielleicht eher umgekehrt? Flüchteten sich Werte- oder Bindungsunsichere, Rebellische und/oder Belastete in eine Neutralitätszone, für die sie systemische Rechtfertigungen nutzten? Immerhin stellte Virginia Satir „Neutralität“ durch abwechselnde Parteinahme im Sinne von Verstehen-Wollen und Einfühlung her.
Dann kam das Postulat: Handle so, dass sich die Anzahl der Optionen vergrößert! – eine Art Freiheitsmythologie, die allerdings mehr Freiheit von als Freiheit für betonte. Sicher gut, was Verengungen jeder Art betrifft. Aber unzureichend für die Orientierung in unserer Multioptionsgesellschaft. Schließlich merkte man, dass die Inflation der Deutungsmöglichkeiten und möglicher Zusammenhänge zur Desorientierung beitrug. Das Herstellen von intelligenter Übersichtlichkeit und Handlungsfähigkeit wurde als Herausforderung wieder deutlich. Damit kehrte die Frage der wertgeleiteten Auswahl der Prämissen mit Implikationen und Konsequenzen zurück. Jede gewählte Wirklichkeit wird an der ausgesonderten Wirklichkeit schuldig. Dass es die Wahrheit nicht gibt, ist in unseren Sphären mittlerweile trivial. Dennoch fällt es vielen Menschen schwer, persönlich überzeugt zu sein, ohne in Weltanschauungs-Imperialismus zu verfallen. Reichen persönliche Gewissheiten nicht? Müssen es objektive Wahrheiten sein?

Bernd Schmid
Im systemischen Feld entstand nach und nach ein Bewusstsein dafür, dass, wenn Wirklichkeit menschengemacht ist, Menschen eben auch eine besondere Verantwortung dafür haben, welche Wirklichkeit sie machen. Dies schließt Mitmachen, Dulden, Profitieren, Unterlassen und Wegsehen ein. Wir benutzen den Begriff Schuld eher zu der Frage, was wir uns und anderen schuldig bleiben könnten und wie damit konstruktiv und verantwortlich umgegangen werden kann. Dazu kommen aus der systemischen Ecke nur Meta-Beiträge.
Orientierung müssen wir uns aus anderen Lebenswelten holen. Dafür brauchen wir Menschen mit Überzeugungen und reflektierte Überzeugungs-Gemeinschaften. Lange glaubte ich, eine Gesellschaft könne über das Wertemanagement der Individuen gesteuert werden. Heute meine ich wie unser Alt-Bundespräsident Köhler, dass wir aus vielen Selbstverständlichkeiten des Anstands immer wieder herausdriften und aktiv etwas tun sollten, zu einem „So etwas tut man nicht!“ zurückzukehren oder voranzuschreiten. Werteregeln und Selbstverständlichkeiten, die durch Bestätigung und Ächtung stabilisiert werden, helfen unserer gelegentlich Wertevergessenen Gesellschaft. Ansonsten greifen wir auf Bewährtes zurück, z.B. auf den Kantschen Imperativ, den Norbert Corpray so erweitert hat: „Handle so, wie Du vom anderen behandelt werden möchtest, wenn Du auf ihn angewiesen bist.“
Letztlich bleibt jedem Einzelnen und der Gesellschaft die Herausforderung, zwischen Dogmatismus und Beliebigkeit, zwischen Herrschaftsmoral und Verwahrlosung, zwischen anything goes und verbindlicher Werteordnung einen Weg zu finden und verantwortlich Dialog zu halten. Da es bei Werten als extra Thema leicht zu sonntäglicher Ergriffenheit unter der Kanzel kommt, von der am Montag wenig bleibt, leisten Professionelle ihren Beitrag am besten dadurch, dass sie sich diesen Dimensionen im Rahmen konkreter beruflicher Fragestellungen widmen.



Der Psychologe Prof. em. Dr. Jürgen Kriz von der Universität Osnabrück erhält den Egnér-Preis 2019. Bei der Auszeichnung handelt es sich um einen der höchst dotierten Wissenschaftspreise in der Schweiz; vergeben wird er vom Stiftungsrat der „Dr. Margrit Egnér-Stiftung“. Der Preis wird verliehen an Personen, die sich durch ihr Lebenswerk „auf dem Gebiet der anthropologischen und humanistischen Psychologie unter Einschluss der entsprechenden Richtungen der Philosophie und Medizin“ besondere Verdienste im Sinne des Stiftungsgedankens erworben haben. Zusammen mit Prof. Kriz wird der Egnér-Preis 2019 an die beiden Mediziner Prof. Dr. med. et phil. Gerhard Danzer (Charité Berlin) und Prof. Dr. med. Horst Haltenhof (MHH Hannover/Klinikum Plauen) verliehen. Die öffentliche Preisverleihung findet Ende 2019 in der Aula der Universität Zürich statt.
Am vergangenen Samstag ist Kurt Buchinger in Wien gestorben. Nach einem Studium der Philosophie und Psychologie an der Universität Wien und einer psychoanalytischen Ausbildung war er von 1973 bis 1993 Mitarbeiter an der Klinik für Tiefenpsychologie und Psychotherapie der Universität Wien, wo er ab 1989 eine Professur hatte. Schon früh interessierte er sich für das Thema Organisation, seine Habilitation 1982 hatte den Titel „Von der Psychotherapie zur Organisationsberatung“, die Hinwendung zum systemischen Ansatz lag nahe. Schon früh hat er sich im Bereich der systemischen Supervision und Organisationsberatung einen Namen gemacht. Von 1994 bis 2004 hatte er eine Professur für Theorie und Methodik der Supervision an der Universität Kassel inne. Neben seiner Lehr- und Beratungstätigkeit publizierte er wichtige Texte und Monografien zum Thema Supervision, Organisation, Management und Führung, eines seiner letzten Werke war „



