
Luc Ciompi
(Foto: T. Levold)
Heute feiert Luc Ciompi seinen 90. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Am 10. Oktober 1929 wurde Luciano „Luc“ Ciompi in eine komplizierte Familiensituation in Florenz geboren und wechselte mit der Mutter in die Schweiz über, wo er Medizin studierte und eine Karriere als Psychiater durchlief. Er war von 1977 bis 1994 Professor für Psychiatrie an der Universität Bern und ärztlicher Direktor der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern. Als Kliniker berühmt wurde er durch sein innovatives Konzept der Soteria, einer Wohngemeinschaft für Menschen mit akut schizophrenen Störungen, die vor allem durch intensive zwischenmenschliche Begleitung und Zuwendung in einem emotional entspannenden Milieu behandelt wurden. Auch hierdurch, aber vor allem durch seine Arbeiten zur Affektlogik und ihrer Bedeutung für den systemischen Ansatz im Allgemeinen und die Psychotherapie im Besonderen, wurde er auch im systemischen Feld bekannt und einflussreich, sein Werk umfasst über 250 wissenschaftliche Veröffentlichungen, darunter 14 Bücher und über 50 Buchbeiträge, insbesondere zum Langzeitverlauf der Schizophrenie, zum Konzept der Affektlogik, zu den emotionalen Grundlagen des Denkens sowie zum Problem von Zeit und Zeiterleben.
Lieber Luc,
Meine ersten Begegnungen mit dir (als sehr junger systemischer Therapeut) hatte ich nur über die Literatur. Im Januar 1981 erschien in der „Psyche“ dein Aufsatz „Psychoanalyse und Systemtheorie – ein Widerspruch? Ein Ansatz zu einer ,Psychoanalytischen Systemtheorie“, dessen Titel mich schon elektrisierte, weil ich als Soziologe, der einen psychoanalytischen Background hatte, aber über Luhmann seine Diplomarbeit geschrieben hatte, genau diese Verbindung interessant fand. Deine These damals war, „dass die beiden Denkmodelle sich nicht in einem Widerspruchsverhältnis befinden, sondern allenfalls (…) im hierarchischen Verhältnis einer allgemeinen zu einer speziellen Theorie. Was die familiär-interpsychische gegenüber der individuell-intrapsychischen Dynamik anbelangt, so stehen die beiden Theorien in einem ausgesprochen komplementären Verhältnis zueinander“. Auch wenn damals die Psychoanalyse, die heute viel systemischer geworden ist, und die sich entwickelnde Familientherapie nicht wirklich aneinander interessiert waren und in ihrem Sprachspielen wohl weniger kompatibel waren, als du vorgeschlagen hattest, wurde deine visionäre Idee, eine bestimmte Art psychodynamischen Denkens mit systemtheoretischen Überlegungen zu verknüpfen, schon damals wegweisend – unabhängig davon, was an altem theoretischen Ballast dafür noch abzuwerfen war.
Im systemischen Feld war die Bedeutung von Affekten und Gefühlen noch lange – bis in die 90er Jahre – eher kein oder allenfalls ein Randthema. Dass sich das im Laufe der Zeit verändert hat, dazu hast du Wesentliches beigetragen.
Persönlich kennengelernt haben wir uns sehr viel später. Ich meine, wir sind uns erstmals auf einem der Symposien ohne Publikum begegnet, die Rosmarie Welter-Enderlin mit ihrem Gespür für die wichtigen Themen so wunderbar zu organisieren wusste. Deine freundliche, zugewandte, alle Status- und Reputationsmarkierungen beiseite lassende Art der Diskussion und Aufmerksamkeit für das, was im Raum an inhaltlichen Entwicklungen möglich war, hat mich von Anfang an beeindruckt. Deine Leidenschaft für die Themen, die dich umtreiben, deine Liebe zur Komplexität und auch abstrakter Theoriebildung bei gleichzeitiger Fähigkeit, sie mit den unmittelbareN Erfahrungen und der klinischen Praxis anschaulich zu verbinden, ist bewundernswert und mir immer ein Vorbild gewesen.
Und nun schenkst du allen interessierten Leserinnen und Lesern mit deinem Blog beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht besondere und auch sehr intime Einblicke in deine persönliche Entwicklungsgeschichte wie in deinen intellektuellen und professionellen Werdegang mit allen damit verbundenen Zweifeln, Niederlagen und Widrigkeiten, die es zu überwinden oder zumindest auszuhalten galt. Deine Bereitschaft, am Beispiel deiner eigenen Biographie zu zeigen, dass professionell erfolgreiche Entwicklungen immer auch notwendigerweise mit einer Entwicklung der Persönlichkeit – mit allen Höhen und Tiefen –, einhergehen muss, zeugt von deiner Haltung, Theorie, Praxis und Selbstreflexion in einen stimmigen Zusammenhang zu bringen. Davon können wir alle nur lernen und dafür möchte ich dir ganz besonders danken.
Deine geistige Frische ist wie dein künstlerischer und schriftstellerische Elan in deinem Alter ist trotz aller erwartbaren Beeinträchtigungen bewundernswert. Ich wünsche dir, dass deine Leidenschaft, Energie und Kreativität auch in den kommenden Jahren noch einige Überraschungen für dich und uns bereit halten wird.
Lieber Luc, zum 90. Geburtstag ganz herzliche Glückwünsche und alles Gute! Ich freue mich, dass ich dir auch im systemagazin einen Strauß von Gratulationen überreichen kann.
Tom