systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

9. April 2020
von Tom Levold
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Die psychologischen Auswirkungen der Quarantäne und wie man sie verringern kann

Eine aktuelle Übersichtsarbeit aus dem renommierten Lancet über die psychologischen Folgen von Quarantäne und wie diese Folgen abgemildert werden können, ist zur Zeit online frei verfügbar. Wolfgang Loth hat dankenswerterweise die Zusammenfassung, wesentliche Gesichtspunkte und Schlussfolgerungen für die systemagazin-Leserschaft übersetzt:

Zusammenfassung:

Der Ausbruch von Covid-19 im Dezember 2019 führte in vielen Ländern dazu, Menschen, die sich möglicherweise infiziert hatten, anzuweisen, sich selbst zuhause zu isolieren oder spezielle Quarantäne-Unterkünfte aufzusuchen. Entscheidungen bezüglich Quarantäne sollten auf der Grundlage bestmöglicher Evidenz erfolgen. Wir haben eine vergleichende Untersuchung zu den psychologischen Auswirkungen von Quarantäne auf der Basis von drei elektronischen Datenbanken durchgeführt. 24 der 3166 gefundenen Artikel wurden für diese Untersuchung ausgewertet. Die meisten der ausgewerteten Studien berichteten von negativen psychologischen Effekten, einschließlich posttraumatischen Stresssymptomen, Verwirrtheit und Ärger. Zu den Stressoren gehörten die Dauer der Quarantäne, Furcht vor Ansteckung, Frustration, Langeweile, unzureichende Vorräte, unzureichende Information, finanzielle Verluste und Stigmata. Einige der ForscherInnen gingen von längerfristigen Effekten aus. In Situationen, in denen Quarantäne als notwendige Maßnahme angesehen wird, sollten die Behörden Menschen nicht länger als notwendig in Quarantäne schicken, eine verständliche und nachvollziehbare Begründung für die Quarantäne liefern, sowie für die darauf bezogenen Vorschriften, und sie sollten dafür sorgen, dass die notwendigen Mittel in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen. Appelle an den Altruismus, etwa durch das Erinnern der Öffentlichkeit an die Vorteile der Quarantäne für die Allgemeinheit können sich positiv auswirken.

Stressoren während der Quarantäne 

  • Dauer der Quarantäne 
  • Furcht vor Ansteckung 
  • Frustration und Langeweile
  • Unzureichende Versorgung 
  • Unzureichende Information 

Stressoren nach der Quarantäne 

  • Finanzielle Verluste
  • Stigmata

Was kann getan werden, um die Folgen der Quarantäne abzumildern? 

  • Die Quarantäne so kurz wie möglich halten 
  • Den Menschen so viel Information wie möglich zur Verfügung stellen 
  • Angemessene Versorgung sicherstellen 
  • Langeweile reduzieren und die Kommunikation verbessern 
  • Beschäftigte im Gesundheitswesen benötigen besondere Aufmerksamkeit
  • Altruismus ist besser als Zwang 

Schlussfolgerungen

Alles in allem sprechen die Ergebnisse dieser Übersicht dafür, dass die psychologischen Folgen einer Quarantäne breitgefächert, beträchtlich und möglicherweise länger andauernd sind. Dies soll nicht dafür plädieren, Quarantäne als Vorgehen der Wahl auszuschließen; die psychologischen Folgen davon, die Möglichkeit der Quarantäne nicht zu nutzen und stattdessen der Erkrankung zu erlauben sich auszubreiten, könnten durchaus schlimmer sein. Allerdings ist das Einschränken individueller Freiheit zu Gunsten eines umfassenderen öffentlichen Wohls oft umstritten und bedarf eines sorgfältigen Vorgehens. Für den Fall, dass Quarantäne als unverzichtbar angesehen wird, sprechen unsere Ergebnisse dafür, dass die Behörden alles erdenklich Mögliche dafür tun, dass diese Erfahrung so erträglich wie möglich für die Menschen ist. Dies kann erreicht werden durch: 
– den Menschen sagen, was genau warum geschieht, 
– ihnen erläutern wie lange das andauern wird, 
– sinnvolle Aktivitäten während der Zeit der Quarantäne ermöglichen, 
– klare Kommunikation sicherstellen, 
– grundlegende Versorgung sicherstellen (wie Nahrung, Wasser, medizinische Mittel), sowie 
– altruistische Einstellungen fördern, die die Menschen sinnvollerweise zeigen sollten. MitarbeiterInnen der Gesundheitsbehörden, die für die Durchführung der Quarantäne verantwortlich sind, die eine feste Anstellung und üblicherweise einen sicheren Arbeitsplatz haben, sollten sich auch bewusst sein, dass dies nicht für alle gilt. Falls die Erfahrung der Quarantäne sich negativ gestaltet, dann sprechen die Ergebnisse der vorliegenden Übersicht dafür, dass dies längerfristige Konsequenzen nach sich zieht, die nicht nur die Personen betreffen, die tatsächlich in Quarantäne waren, sondern auch das Gesundheitssystem selbst, das für die Durchführung der Quarantäne verantwortlich war, sowie die PolitikerInnen und Gesundheitsfunktionäre, die sie angeordnet haben.

Der vollständige Artikel kann hier gelesen und heruntergeladen werden.

8. April 2020
von Tom Levold
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Krisenberatung am Telefon und per Video in Zeiten von Corona

Im e-beratungsjournal, der Fachzeitschrift für Onlineberatung und computervermittelte Kommunikation ist in der ersten Ausgabe 2020 ein Artikel von Joachim Wenzel, Stephanie Jaschke & Emily Engelhardt erschienen, der sich mit den aktuellen Herausforderungen für BeraterInnen in Zeiten der Corona-Krise auseinandersetzt. Im Abstract heißt es: „Der Beitrag ist erstmals als Handreichung der Fachgruppe ,Onlineberatung und Medien’ der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) unter www.dgsf.org erschienen. Er richtet sich an Berater*innen, die während der akuten Ansteckungsgefahr während der Corona-Krise 2020 kaum noch Face-to-Face beraten können und übergangslos von Face-to-Face-Beratung zu Telefon- und/oder Videoberatung wechseln müssen. Besonderheiten der beiden letztgenannten Settings werden aufgezeigt. Dabei wird die herausfordernde Situation der Beratenden und der Klient*innen während der Krisenzeit aufgegriffen und angeregt, Selbstfürsorge zu betreiben sowie ressourcenorientiert mit den Herausforderungen umzugehen. Ein Schwerpunkt liegt auf Krisenintervention sowie dem Umgang mit suizidalen Krisen in der Telefon- und Videoberatung.“

Der Text ist online hier zu lesen…

6. April 2020
von Tom Levold
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Einige Anmerkungen zum systemischen Paradigma

Jürgen Hargens
Jürgen Hargens

Der nachfolgende Text von Jürgen Hargens ist schon älteren Datums, er stammt von 1991 und wurde als Positionspapier zur Vorbereitung einer Plenardiskussion im Rahmen einer geplanten Tagung über „Das Reflektierende Team“ verfasst, die vom 6. bis 7. September 1991 in der kroatischen Stadt Varazdin stattfinden sollte. Die Tagung fand dann allerdings wegen der politischen Umstände zu Beginn des Kroatienkrieges nicht statt. Der Text bietet einen Überblick über die Entwicklung des systemischen Ansatzes zur damaligen Zeit, ist bislang nicht veröffentlicht worden und auch heute noch mit Gewinn zu lesen.

Jürgen Hargens, Meyn: Einige Anmerkungen zum systemischen Paradigma

Eine persönliche Vorbemerkung

Zuallererst möchte ich hervorheben, dass ich diese Anmerkun­gen aus meiner sehr persönlichen Sicht verfasse ‑ wobei ich denke, dass mir mein Kontext sehr zu gute kommt: Lebenspart­ner, Familienvater, Hausmann, dazu auch klinischer Psycholo­ge und Psychotherapeut, Zeitschriftenherausgeber, Lehrbeauf­tragter an der Universität, Wissenschaftsjournalist ‑ das sind einige Kontextmarkierungen, die darauf verweisen, wel­che unterschiedlichen Einflüsse in meine Beobachtungen/Beschreibungen eingehen.

Und ein zweites: ich lebe und arbeite in Meyn, einem kleinen Dorf im nördlichsten Norddeutschland, unmittelbar an der dänischen Grenze ‑ kein Flugplatz, keine große Bahnstation, kein Hafen. Also weit abgeschieden, könnte man meinen oder, wie es ein US‑Kollege einmal formulierte: „in the middle of a corn field“. Weit gefehlt, wie ich aus meiner Sicht („aus Meyner Sicht“) darauf sehe: „in the middle of the center“ ‑ der Mittelpunkt (m)einer Welt, denn Kugeln und Kreise haben weder Anfang noch Ende, so dass es darauf ankommt. welche Bedeutung ich selber Beobachtungen, Gegebenheiten (Wahr­nehmungen) verleihe oder, anders formuliert, wie ich meine Welt konstruiere.

Wahrheit ‑ Wirklichkeit ‑ System ‑ Konstrukt

Und damit habe ich bereits einen für mich wichtigen Aspekt systemisch‑konstruktivistischer Erkenntnis beschrieben: Kontextabhängigkeit, BeobachterInnenabhängigkeit, die beide die in den Wissenschaften so sehr betonte Objektivität der Erkennt­nis infrage stellen.

Ein Bild, das wir ‑ mein Kollege Uwe Grau und ich ‑ benut­zen, um unseren „KundInnen“ unseren Ansatz zu beschreiben, kann hier nützlich sein:

Abb. 1: Metapher „konstruktivistische Beratung

Je nachdem, wie – mit welchem Fokus ‑ ich diese Treppe betrachte, erscheint sie als entweder aufsteigend oder ab­steigend. Bei einer Veränderung meines Fokus erscheint die Treppe sowohl aufsteigend als auch absteigend. Eine Ausein­andersetzung über die Frage, welches die „richtige“ Auffas­sung sei, erübrigt sich ‑ diese Frage lässt sich „objektiv“ nicht beantworten – allerdings lässt sich ein Konsens erzielen, welche Perspektive unter bestimmten Bedingungen für die BetrachterInnen nützlich sein kann.

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28. März 2020
von Tom Levold
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Pubertiere und andere Viechereien

Wolfgang Traumüller, Osthofen:

Nicht nur Professionellen sondern allen, die sich mit Problemen und Lösungen von Heranwachsenden abmühen, tut es gut, einen Blick auf das evolutionäre Gepäck zu werfen, das sie und wir alle mit uns herum tragen. Nicht zuletzt aber sicher auch diesen Jungen selbst! Die Verfasserinnen haben das auf der Basis von unglaublich reichhaltigem Material und eigenen Forschungen auf ungewöhnliche und spannende Weise unternommen.

Was im Englischen den Titel „Wildhood“ trägt und damit Bezug nimmt auf abgegrenzte klassische Begriffe wie „childhood“ oder „adulthood“ und sich zugleich originell und qualitativ von ihnen absetzt, ist dieser Tage in deutscher Sprache erschienen und verfolgt die Absicht, dem Wesen der Adoleszenz auf den Grund zu gehen, dem die Verfasserinnen sich im Vergleich entwicklungsgeschichtlich über Arten und Lebensspannen hinweg nähern. Vielfältige Forschungsergebnisse aus aller Welt werden dabei durch eigene Erhebungen und Interviews ergänzt und miteinander verwoben. Der Ertrag ist im strengen Sinn gottlob kein „Lehrbuch“, wie es der unglückliche deutsche Untertitel vermuten lassen könnte, sondern eine Sammlung von 1001 Fingerzeigen, die uns auf einer abenteuerlichen Entdeckungsreise durch zunächst fremd erscheinende Welten manches Aha-Erlebnis nicht vermeiden helfen.

Barbara Natterson-Horowitz ist Gastprofessorin am Institut für menschliche Evolutionsbiologie in Harvard und Professorin für Medizin und Kardiologie an der University of California in Los Angeles (UCLA), wo sie das Programm für Evolutionsmedizin mitbegründet hat. Ihr TED-Talk über artenübergreifende medizinische Forschung hat Millionen Zuschauer erreicht. 

Kathryn Bowers ist Wissenschaftsjournalistin und hat an der UCLA Medizinisches Schreiben und vergleichende Literaturwissenschaft gelehrt. Sie ist Future Tense Fellow von New America in Washington, DC.

Beide haben gemeinsam den New-York-Times-Bestseller „ Zoobiquity“ geschrieben (dt. „Wir sind Tier. Was wir von den Tieren für unsere Gesundheit lernen können“, Knaus-Verlag, München 2014), was schon im Titel das inhaltliche Rückgrat ihrer neuesten Publikation und ihre neue Sichtweise markiert: das Tier (gr. „zoon“, Lebewesen; lat. „ubique“, überall) ist überall, auch in uns und wir in ihm.

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27. März 2020
von Tom Levold
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16,9 Millionen Menschen lebten 2018 alleine

Jede dritte alleinlebende Person in Deutschland war 2018 über 65 Jahre alt

WIESBADEN – Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, werden zwischenmenschliche Kontakte zurzeit auf ein Minimum beschränkt. Alleinlebende Menschen sind von der gegenwärtig geltenden Kontaktsperre besonders betroffen – insbesondere, wenn sie zu einer Risikogruppe gehören. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, lebten im Jahr 2018 in Deutschland insgesamt 16,9 Millionen Menschen alleine in ihrer Wohnung, 35 % beziehungsweise 5,8 Millionen davon waren 65 Jahre und älter.

Die Wohnsituation von Menschen in Deutschland ist divers: alleine, zu zweit, in Wohn- und Lebensgemeinschaften oder als Familie. Dies trifft auch auf ältere Menschen zu, die laut Robert-Koch-Institut als besonders gefährdete Gruppe für das neue Coronavirus gelten. Hintergrund: Mit zunehmenden Alter wird das Immunsystem schwächer, das macht ältere Menschen anfälliger für schwere Verläufe der Erkrankung. 17,4 Millionen über 65-Jährige stellten 2018 einen Anteil von 21 % der Gesamtbevölkerung dar. Knapp 10,2 Millionen Menschen der Generation 65 plus lebten 2018 zu zweit mit ihrer Ehepartnerin beziehungsweise ihrem Ehepartner in einer Wohnung. 

Im EU-Vergleich: Anteil der über 65-Jährigen in Italien mit 22,6 % am höchsten

In der Europäischen Union (EU) lag der Anteil der über 65-Jährigen im Jahr 2018 im Durchschnitt bei 19,7 % (EU 28; ohne Vereinigtes Königreich: 20 %). In den von der Corona-Pandemie besonders betroffenen Nachbarstaaten zeigt sich folgendes Bild: Während Spanien mit 19,2 % im EU-Vergleich einen leicht unterdurchschnittlichen Anteil aufwies, entsprach Frankreich mit 19,7 % genau dem Durchschnitt. Italien wies 2018 mit 22,6 % den höchsten Anteil von über 65-Jährigen in der Gesamtbevölkerung auf. (Quelle: Statistisches Bundesamt)

25. März 2020
von Tom Levold
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Milton H. Erickson (5.12.1901 – 25.3.1980)

Heute vor 40 Jahren ist Milton Erickson gestorben. Er gehört zu den Pionieren der Psychotherapie und ist einer der maßgeblichen Wegbereiter der Hypnotherapie gewesen. Darüber hinaus hatte er großen Einfluss auf Therapeuten seiner Zeit, im systemischen Feld vor allem auf Jay Haley, Paul Watzlawick, John Weakland und die anderen Mitglieder der Palo-Alto-Gruppe.

In diesem Video spricht Jeffrey Zeig, einer der bedeutendsten Schüler von Erickson, der sein Konzept der Utilisierung weiterentwickelt hat, über Erickson und seine Arbeit.

23. März 2020
von Tom Levold
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„Systemisch“ ist nicht systemisch – „Systemischer“ ist systemischer

Elisabeth Ferrari (2.6.1955-2.2.2019) aus Aachen war Mathematikerin und Ökonomin. Sie arbeitete sie als systemische Unternehmensberaterin – ihr systemisches Werkzeug entstand in Kooperation mit Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer am Syst-Institut in München. Von 2012 bis zu ihrem Tod 2019 gab sie eine eigene Zeitschrift heraus: SyStemischer – Die Zeitschrift für systemische Strukturaufstellungen. Den sehr bedenkenswerten programmatischen Einleitungsartikel von Matthias Varga von Kibéd aus Heft 1 (2012) dieser Zeitschrift hat sie systemagazin zur Veröffentlichung überlassen. In ihm heißt es:

„Falls man ,systemisch’ für etwas Nützliches, Gutes hält, kann es leicht passieren, dass man sich fragt, ob etwas noch oder schon ,systemisch’ ist oder eher nicht. Hat z. B. Virginia Satir schon systemisch gedacht? Nun, in meiner Sichtweise hat Virginia Satir ungeheuer viel zum systemischen Denken beigetragen; trotzdem kann man nicht sagen, sie sei Teil der Bewegung, die man heute als systemische Therapie bezeichnet. Auch die Schule von Palo Alto hatte zahlreiche Einflüsse auf das, was m. E. wichtig war für die Entwicklung der systemischen Theorie und des systemischen Denkens. Trotzdem war sie nicht im engeren Sinne eine Schule der systemischen Therapie und Beratung.

Wenn wir, d.h. Insa Sparrer und ich, bei SySt ® das Wort ,systemisch’ verwenden, möchten wir eine Kennzeichnung im oben beschriebenen Sinn – ,das ist systemisch und jenes nicht’ – vermeiden. Eine solche Fragestellung machte aus dem Begriff ,systemisch’ ein seltsames absolutes Prädikat.

Uns interessiert vielmehr, worin ein Fortschritt in dem besteht, was systemisch genannt wird – dieses erscheint uns wichtiger als die Frage, was systemisch ist. Darum haben wir eine Definition nicht des Begriffs ,systemisch’, sondern des Begriffs SYSTEMISCHER entwickelt, die nicht davon abhängt, dass wir den Begriff ,systemisch’ verstehen. D. h. wir definieren den Komparativ, ohne den Positiv definiert zu haben. Normalerweise hat man die Vorstellung, man müsste den Positiv schon haben; also etwa einen Begriff von blau haben, um dann überhaupt einen Begriff von hell- oder dunkelblau bilden zu können. Inspiriert zu der anderen Sichtweise hat uns der Satz von Steve de Shazer: „Wir können verstehen, was besser heißt, ohne zu wissen, was gut heißt.“ Dieser Satz hat für mich die Qualitäten eines Koans: Ich habe immer wieder darüber nachgedacht; gemeint, ihn verstanden zu haben; gemerkt, dass ich ihn nicht verstanden habe, und das wiederholte sich so drei Jahrzehnte lang, und in dieser Zeit habe ich ziemlich viel über und durch diesen Satz gelernt.“

Zum vollständigen Text geht es hier…

14. März 2020
von Tom Levold
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Vratislav Strnad (6.9.1955-1.3.2020)

 Vratislav Strnad (Foto: T. Levold)

Am 1.3.2020 ist Vratislav Strnad nach längerer Krankheit in Prag gestorben. Er war ein wichtiger Wegbereiter des systemisch-narrativen Ansatzes in Tschechien. Ferdinand Wolf aus Wien, der mit ihm lange zusammen gearbeitet hat, hat für systemagazin einen Nachruf verfasst.

Ferdinand Wolf, Hornstein (A):

Vratislav Strnad war ein Pionier der tschechischen Psychotherapie. Er entwickelte aktuelle systemische Konzepte weiter, die er in Tschechien und der Slowakei in vielen Lehrgängen, Workshops und Kongressen verbreitete. Zu diesem Zweck gründete er unmittelbar nach der Ostöffnung das ISZ-Institut für Systemische Erfahrung in Prag /CZ (zusammen mit Zdenek Macek und Ivan Uhlela) und Kosice/SK (zusammen mit Eva Linhova).

Bereits kurz nach dem Fall des eisernen Vorhangs suchte er den Kontakt zu systemischen Therapeuten im Westen. So fuhr er nach Hamburg zu Kurt Ludewig und lud bald darauf auch Steve De Shazer und Insoo Kim Berg nach Prag ein, was 1991 und später noch mehrmals Realität wurde. In der Folge ergaben sich enge Kooperationen mit Kolleginnen und Kollegen aus Österreich, Europa und den USA.  

Vratislav Strnad ging es immer um einen intensiven Austausch von systemischen Ideen und Konzepten, um letztlich daraus auch einen eigenständigen Zugang zu entwickeln, der im Prager Modell der narrativen Therapie seinen sichtbaren Ausdruck finden sollte.

Er organisierte mehrere gut besuchte internationale systemische Konferenzen und Kongresse in Prag und publizierte Fachartikel für internationale und tschechische und slowakische Fachzeitschriften und Bücher. Er übersetzte Bücher von Kurt Ludewig, Steve De Shazer, Jill Freedman und Gene Combs ins Tschechische und verfasste selbst ein Buch über systemisch narratives Coaching (nur in tschechischer Sprache verfügbar).

Vratislav Strnad war ein kreativer, sensitiver und intiativer Mensch mit tiefer Emotionalität, der klassische und moderne Musik und Literatur liebte. Er spielte Violine und verfasste auch Gedichte und einen autobiografisch gefärbten Roman über gefühlte Lebens- und Beziehungserfahrungen eines in die Welt geworfenen Individuums (nur in tschechischer Sprache verfügbar).

Eine weitere große Leidenschaft von Vratislav Strnad war das Reisen, das ihn nach langen Jahren der Reisebeschränkungen häufig in die Alpen und ans Meer nach West- und Südeuropa vor allem aber nach Thailand führte, dessen Kultur und Küche ihn besonders begeistert hat.

Nun ist Vratislav Strnad zu seiner letzten Reise aufgebrochen. Er starb in seiner Wohnung in Prag am 1.3.2020.

Wir vermissen ihn als einen engagierten Menschen und Therapeuten der wichtige Brücken gebaut, Zugänge zwischen Ost und West geschaffen und so wesentlich zur Verbreitung von systemischen Gedanken und Ideen im östlichen Europa nach der politischen Wende des Jahres 1989 beigetragen hat. 

25. Februar 2020
von Tom Levold
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„Etwas mehr Respektlosigkeit“

Rosmarie Welter-Enderlin (Foto: T. Levold)

Gestern wäre Rosmarie Welter-Enderlin (24.2.1935-4.4.2010) 85 Jahre alt geworden. Ein Interview, das sie anlässlich eines Seminars beim ISS in Hamburg im Juni 1994 Carin Cutner-Oscheja und Stephan Baerwolff für die Institutszeitschrift ISS’es gegeben hat, gibt noch einmal einen guten Einblick in ihr Denken und Arbeiten an Themen, die an Aktualität bis heute nichts verloren haben. Zum Text des Interviews geht es hier…

23. Februar 2020
von Tom Levold
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Cornelia Tsirigotis wird 65

Cornelia Tsirigotis

Cornelia Tsirigotis wird heute 65 Jahre alt – ein schöner Anlass, ihr von Herzen zum runden Geburtstag zu gratulieren. Als Expertin für eine lösungs- und ressourcenorientierte Arbeit mit Gehörlosen und sprachbehinderten Kindern und Jugendlichen hat sie in der Pädagogik, Weiterbildung und Publizistik gleichermaßen maßgeblich dazu beigetragen, systemische Perspektiven in diese Arbeit hineinzutragen und das systemische Feld dafür zu sensibilisieren.

Nach dem Studium der „Sondererziehung und Rehabilitation der Gehörlosen und Sprachbehinderten“ von 1973 bis 1979 in Köln absolvierte sie ihr Referendariat an der damaligen Rheinischen Schule für Gehörlose Düsseldorf und arbeitete anschließend 25 Jahre in verschiedenen Funktionen an der Aachener David-Hirsch-Schule. 2010 bis 2014 leitete sie eine Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören in Frankfurt am Main, von 2014. bis zu ihrer Pensionierung war sie Schulleiterin der LVR-Förderschule in Köln.

Neben ihrem eigentlichen Fachgebiet hat sie sich in der systemischen Szene vor allem einen Namen mit ihrem unermüdlichen Engagement für die Themen Migration, Integration, interkulturelle Begegnung und die damit verbundenen Herausforderungen gemacht, die vielen Themenhefte hierzu in der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung, die sie seit 2010 im Alleingang betreut, sprechen Bände.

Zum 60. Geburtstag von Cornelia Tsirigotis hat Wolfgang Loth in der Zeitschrift systhema eine wunderbare Würdigung ihrer Person und ihrer Arbeit geschrieben, die zu diesem Anlass hier noch einmal erscheint – an Aktualität hat sie nichts verloren.

Liebe Cornelia, für alle diese vielfältigen Aktivitäten und Initiativen sei von Herzen bedankt! systemagazin wünscht mit vielen Kolleginnen und Kollegen alles Gute zum Geburtstag, verbunden mit der Hoffnung, dass wir auch weiterhin von dir wichtige Impulse erwarten dürfen und dem Wunsch, dass die Zeit nach den zahlreichen beruflichen Verpflichtungen für dich mit Gesundheit, Entspannung und weiterhin vielfältigen Anregungen verbunden sein wird.

Tom Levold
Herausgeber systemagazin

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20. Februar 2020
von Tom Levold
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Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik

Nachdem bereits 2016 im Carl-Auer-Verlag ein Gesprächsband unter dem Titel „Kommunikation als Lebenskunst“ erschienen ist, in dem  Friedemann Schulz von Thun und Bernhard Pörksen die zentralen Modelle der Kommunikationspsychologie miteinander diskutieren, ist dieser Tage im Hanser-Verlag ein neuer Band der beiden Autoren erschienen, in dem sie sich – ebenfalls in Gesprächsform – Gedanken über Lösungen problematischer Kommunikationsformen im Kontext eines überreizten und überhitzten gesellschaftlichen Kommunikationsklimas machen, dem wir derzeit in den öffentlichen und sozialen Medien ausgesetzt sind.

Jürgen Nielsen-Sikora, Professor am Hans Jonas-Institut bei der Fakultät Bildung – Architektur – Künste an der Universität Siegen, hat das Buch für systemagazin gelesen:

Jürgen Nielsen-Sikora, Siegen:

Die Todesliste des Bären

Wenn es um das Thema Kommunikation geht, wird eine Geschichte immer wieder gern zitiert. Sie trägt den Titel „Die Todesliste des Bären“. In dieser Geschichte herrscht helle Aufregung im Wald, weil die Tiere sich erzählen, der Bär führe eine Todesliste. Doch niemand weiß so recht, wer eigentlich auf dieser Liste steht. Eines Tages fasst sich der Hirsch ein Herz und fragt den Bären, ob er auf seiner Liste stehe. Der Bär bejaht, woraufhin der Hirsch das Weite sucht. Nach ein paar Tagen finden die anderen Tiere ihn tot auf. Nun bricht noch größere Unruhe im Wald aus, bis auch das Wildschwein auf den Bären zugeht und fragt, ob es auf der Liste stehe. Abermals bejaht der Bär die Frage. Das Wildschwein flieht wie zuvor der Hirsch und wird nach zwei Tagen ebenfalls tot aufgefunden. Panik macht sich im Wald breit. Da geht der Hase zum Bären und fragt ihn, ob er auf der Liste stehe. „Ja“, sagt der Bär, „auch Du stehst auf meiner Liste“. Der Hase jedoch gibt sich mit der Antwort nicht zufrieden und will vom Bären wissen, ob dieser ihn von seiner Liste streichen könne. Zum Erstaunen aller erwidert der Bär: „Ja sicher, kein Problem!“

In dieser Geschichte zeigt sich mindestens ein Aspekt der Kunst des Miteinander-Redens. Was war passiert? Zunächst waren Gerüchte im Umlauf. Doch niemand wagte es, einmal nachzufragen, ob die Gerüchte auch wirklich wahr sind. Auch jene, die nachfragten, sahen nur das Problem, ohne nach einer Lösung zu suchen. Sie brachen die Kommunikation ab und blieben somit im Problem gefangen. Anders der Hase, der für das Problem, das er sich erst bestätigen lässt, nach einer Lösung sucht. Er findet sie, weil er der Kommunikation mit dem Bären eine andere Stoßrichtung gibt – weg vom Problem, hin zur Lösung des Problems. 

Die Moral der Geschichte: Wenn die Gerüchteküche brodelt und die Erregung groß ist, so wie heute vor allem im dichten Wald sozialer Medien, ist gute Kommunikation wichtiger denn je. 

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