systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

14. September 2008
von Tom Levold
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Humberto Maturana wird 80!

Heute feiert Humberto R. Maturana seinen 80. Geburtstag. Als einer der Begründer des Radikalen Konstruktivismus hat er in den 80er Jahren mit seinen Arbeiten einen ungeheuren Einfluss auf die epistemologische Entwicklung des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes – nicht nur, aber ganz besonders im deutschsprachigen Raum – ausgeübt. Wie in Wikipedia zu lesen ist,„studierte (Maturana) ab 1948 Medizin an der Universidad de Chile und ab 1954 mit einem Stipendium der Rockefeller-Stiftung Biologie/Anatomie am University College in London. Dort entstand erstmals eine Theorie zur Existenz lebendiger Systeme als autonome dynamische Einheiten. Ab 1956 absolvierte er ein Promotionsstudium an der Harvard University, USA, wo er 1958 das Doktorat in Biologie abschloss. Er arbeitete bis 1960 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge (Massachusetts), USA, in einer Postdoc-Stelle an Forschungen über das Auge (blinder Fleck) hin zu erkenntnistheoretischen Fragen. 1960 erhielt er den Ruf auf den Lehrstuhl für Biologie an der Fakultät für Medizin der Universidad de Chile, Santiago de Chile. Hier erstreckten sich seine Tätigkeiten über Fragen der visuellen Perzeption, insbesondere der Farbwahrnehmung und der Unterscheidung von lebenden und nicht-lebenden Systemen. 1968 reiste er auf Einladung Heinz von Foersters nach Urbana und nahm von 1969-1970 eine Gastprofessur an der University of Illinois wahr. Von 1970-73 arbeitete er in enger Kooperation mit Francisco J. Varela in Santiago de Chile. Ab 1970 widmete er sich vor allem der Weiterentwicklung der ‚Biologie der Erkenntnis‘ und beschäftigt sich als Neurophysiologe mit erkenntnistheoretischen Problemen über den Weg der ‚Biologie des Erkennens’“
Seine Theorie der strukturdeterminierten und operativ geschlossenen lebenden Systeme, die er mit dem früh verstorbenen Francisco Varela ausgearbeitet hat, hat die konstruktivistische Epistemologie nachhaltig geprägt, vor allem sein Begriff der Autopoiese, der von Niklas Luhmann (gegen den heftigen Einspruch Maturanas) auf die Theorie sozialer Systeme übertragen und damit in einen anderen konzeptuellen Rahmen gestellt wurde.
In Deutschland hat sich vor allem Jürgen Hargens als Herausgeber der„Zeitschrift für systemische Therapie“ in den 80er Jahren um die Verbreitung des Gedankengutes von Maturana verdient gemacht. Wolfram K. Köck, der lange an der Siegener Universität gelehrt hat, hat Maturana nicht nur übersetzt, sondern auch 1983 eine der ersten Arbeiten zum Thema Konstruktivismus mit dem Titel„Erkennen = (Über-)Leben. Bemerkungen zu einer radikalen Epistemologie“ in der Zeitschrift für systemische Therapie veröffentlicht. Diese Arbeit ist anlässlich des Geburtstages von Humberto Maturana mit freundlicher Zustimmung des Autors in der Systemischen Bibliothek wieder zu lesen.
Auch Kurt Ludewig, Landsmann Maturanas, hat einen wesentlichen Anteil an der Maturana-Rezeption hierzulande, nicht nur durch seine eigenen Arbeiten, in denen er das Konzept Maturanas auf vielfältige Weise im Rahmen einer klinischen Epistemologie nutzbar machte, sondern auch durch seine Übersetzung des„Baumes der Erkenntnis“ ins Deutsche, das Maturana und Varela für ein breiteres Publikum verfassten. Kurt Ludewig hat ebenfalls in den 80er Jahren lange Gespräche mit Maturana über sein Werk und sein Leben geführt, die aber lange nur einer spanischen Publikationsöffentlichkeit zugänglich waren. Irgendwann wurden sie auch ins Deutsche übersetzt, ohne jedoch einen Verlag gefunden zu haben. 2006 erschien die von Kurt Ludewig gründlich überarbeitete deutsche Übersetzung erstmals in Gänze online im systemagazin, worauf anlässlich des Geburtstages des Jubilars noch einmal hingewiesen sei.
Wir wünschen an dieser Stelle das Allerbeste zum Geburtstag und verneigen uns vor einem großen Inspirator unserer Zunft.

13. September 2008
von Tom Levold
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100. Geburtstag von George Devereux

Heute wäre der ungarische Psychoanalytiker und Mitbegründer der„Ethnopsychoanalyse“ George Devereux (gest. 1985) 100 Jahre alt geworden. Devereux, der einer bürgerlichen ungarischen jüdischen Familie entstammte, studierte ab 1926 in Paris Physik und Chemie und absolvierte eine Lehre als Verlagsbuchhändler in Leipzig. Anschließend kehrte er nach Paris zurück, um bei Marcel Mauss Ethnologie zu studieren. Von 1933 bis 1963 lebte er in den USA, wo er nicht nur ausgedehnte Feldforschungen bei den Mohave-Indianern durchführte, sondern auch eine Ausbildung zum Psychoanalytiker absolvierte. Ab 1963 bis 1981 lehrte er – auf Vermittlung von Claude Lévi-Strauss – an der École pratique des hautes études in Paris Ethnopsychiatrie. Seine Bücher„Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ und„Ethnopsychoanalyse: die komplementaristische Methode in der Wissenschaft vom Menschen“ haben auch in Deutschland zu Recht den Status eines Klassikers erlangt und u.a. Psychiater wie Erich Wulff beeinflusst. Das Konzept der„ethnopsychischen Störung“ postuliert, dass individuelle Konflikte oder Probleme sich regelmäßig vorgefertigter kultureller Ausdrucksmuster bedienen, die nur vor dem Hintergrund der jeweiligen kulturellen symbolischen Ordnungen verstanden werden können, eine universelle Symptomsprache also nicht existiert. Amoklauf, Kindesmißhandlung, Schizophrenie etc. können als solche„ethnopsychische Störung“ konstruiert werden. Devereux‘ wichtigster Schüler, der Pariser Ethnopsychoanalytiker Tobi Nathan, hat in einem umfangreichen Aufsatz, der auf Englisch übersetzt ist, nicht nur die Grundzüge der Ethnopsychiatrie dargestellt, sondern liefert auch einen Einblick in die komplexe Persönlichkeit von George Devereux. Dessen Geburtstag könnte ein Anlass sein, sich mal wieder mit seinem Werk zu beschäftigen.
Zum vollständigen Text von Tobi Nathan…

12. September 2008
von Tom Levold
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Wie ist nicht-ontologische Theorie möglich?

In einer interessanten Seminar-Arbeit„Wie ist nicht-ontologische Theorie möglich? Konsistenzprüfung der Luhmannschen Systemtheorie“ hat sich Andreas Kirchner mit der Frage beschäftigt, inwiefern Luhmann in seiner anti-ontologischen Theoriekonzeption doch selbst auch wieder zu ontologischen Theoriefiguren Zuflucht genommen hat. In seinem Resümee heißt es:„Weil jedes System fixe, nicht weiter hinterfragbare Bezugspunkte benötigt, produziert es, quasi als Nebenprodukt seines Operierens, Ontologien. Genauso die Systemtheorie. Das macht auch verständlich, warum Angriffe von Kritikern immunisiert, das heißt in Begriffe der Systemtheorie übersetzt und von dort aus relativiert, werden. Luhmanns Systemtheorie bestimmt sich selbst einerseits als Kontingent, andererseits aber muss sie, gemäß ihrer eigenen Beschreibungen über Systemverhalten, zwangsläufig ontologisieren, muss zwangsläufig alles von ihrer systemeigenen Logik aus betrachten (denn jede Beobachtung ist Beobachtung erster Ordnung). Die Systemtheorie lernt dadurch etwas über sich selbst, nämlich: dass Soziales nur dann als System beschrieben werden kann, wenn es als System beschrieben wird. Darüber hinaus geht die Systemtheorie nicht und kann sie – wenn sie ihren Universalitätsanspruch behalten will – auch nicht gehen“
Zum vollständigen Text…

11. September 2008
von Tom Levold
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Kennen Sie Lennart Green?

Ich liebe Kartentricks – weil ich mich gerne täuschen lasse und mich niemals auch nur ansatzweise in der Lage fühle, sie zu kapieren. Ein Magier, der aber nicht nur wundervolle Tricks beherrscht, sondern seine Zuschauer gleichzeitig mit einer pseudo-dilettantischen Präsentation in die Irre führt, um dann seine unglaubliche Virtuosität umso effektvoller in Szene zu setzen, ist Lennart Green. Wer gerade mal 32 Minuten Zeit hat, sollte sich jetzt dieses Video auf TED.com anschauen, wer nicht, sollte sich die Zeit schnellstmöglich nehmen. Viel Vergnügen!

10. September 2008
von Tom Levold
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Virginia Satir

Heute vor 20 Jahren starb Virginia Satir (Foto: Wikipedia) im Alter von 72 Jahren. Sie gehörte zu den ganz frühen Pionieren der Familientherapie. In Wikipedia ist über sie zu lesen:„Bereits kurz nach dem Collegeabschluss als Lehrerin engagierte sie sich in der Eltern-Kind-Beratung und sammelte bei ihrer Arbeit im Sozialdienst viele Erfahrungen zum Thema Familie. Berufsbegleitend absolvierte sie an der University of Chicago ein Postgraduiertenstudium in Sozialer Arbeit. Da dieser Studiengang psychoanalytisch ausgerichtet war, unterzog sie sich auch einer Ausbildung in der Psychoanalyse, einschließlich einer Lehranalyse. Im Jahr 1951 kam ihr (im Rahmen der Arbeit mit einer schizophren erkrankten Patientin) erstmals die Idee, statt Einzelpersonen ganze Familien zu therapieren. Später bemühte sie sich bei ihrer therapeutischen Arbeit regelmäßig, den Mitgliedern einer Klienten-Familie im Rahmen sog. Familienrekonstruktionen die generationsübergreifenden Muster und die Problematik innerhalb des gesamten ‚Familiensystems‘ bewusst zu machen. Sie entwickelte weiter die gruppentherapeutische Methode der Familienskulptur. 1959 wurde sie von Don D. Jackson und Jules Ruskin in das Gründungsteam des Mental Research Institute in Palo Alto bei Stanford (USA) berufen und wurde mit der Leitung der Ausbildungsabteilung des Instituts betraut. Unter ihrer Leitung entstand das erste Familientherapeutische Ausbildungsprogramm der USA. Virginia Satir war über die Vereinnahmung Ihrer Arbeit durch die Integration in die Neurolinguistische Programmierung (NLP) nicht glücklich und setzte ihre Arbeiten eigenständig fort. Ihr Gesamtwerk kennt am besten Jerry Weinberg. Er entschloss sich, nach über zehn Jahren Beschäftigung mit NLP direkt mit Virginia Satir zu arbeiten. Die letzten Jahre bis zu ihrem Tod arbeitete sie intensiv mit Jerry Weinberg und Jean McLendon zusammen. Virginia Satir lehrte das Fach Familiendynamik am Illinois State Psychiatric Institute. Ihr wurde ein Ehrendoktorat der University of Wisconsin verliehen. Sie hielt bis zu ihrem Tod im Jahr 1988 weltweit Vorträge und Kurse“
In Deutschland hatte sie viele Anhänger und beeinflusste vor allem die Mitglieder des Instituts für Familientherapie in Weinheim, die zu ihrem 10jahrigen Todestag 1998 ein sehr persönliches Themenheft von„systhema“ zu ihrem Gedenken herausgebracht haben – darin sind u.a. Beiträge von Gerhard Lenz, Arist von Schlippe, Maria Solmsen, Heidi Salm, Cornelia Tsirigotis, Insa Sparrer & Matthias Varga von Khibéd, Hans Schindler, Haja Molter, Irene Wielpütz und Gesa Jürgens zu finden.
Zum gesamten Heft als PDF geht es hier…

9. September 2008
von Tom Levold
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Kontext 3/08: Hilfe, Amtshilfe!

Das aktuelle Heft des„Kontext“ ist einem spannenden Experiment gewidmet. Im Mittelpunkt steht ein langer und ausführlicher anonymer Bericht eines Adoptivvaters, der von Experten der Jugendhilfe, Familientherapie und sozialen Arbeit kommentiert wird. Die Geschichte dieses Experimentes war keine einfache, was sich schon daran zeigt, dass der zugrundeliegende Text bereits vor zwei Jahren bei der Redaktion eingegangen ist. Im Editorial heißt es:„Es ist ein ganz aus der Perspektive eines engagierten, fachlich versierten (der Adoptivvater ist selbst Psycho- und Familientherapeut), aber zugleich durch seine Tochter und das Jugendamt sich verletzt fühlenden Vaters geschrieben –theoretisch würde man sagen: eher linear als zirkulär. Aber hier geht es um tiefe Gefühle der Kränkung, Ohnmacht, Frustration und des sich von der Umwelt im Stich gelassen Fühlens; und wie sollten diese den Nerv der Existenz treffenden Erfahrungen anders als linear zum Ausdruck gebracht werden? Die Perspektiven der anderen beteiligten Personen und Institutionen kommen kaum ins Spiel, wenn aber, dann unter der Wahrnehmungs- und Beurteilungsperspektive des Vaters. Zugleich ist der Bericht sehr selbstreflexiv angelegt – denn es handelt sich bei dem Autor um einen Fachmann; doch auch diese Selbstreflexion bezieht die Perspektive der anderen kaum mit ein. Andererseits zeigt der Bericht, mit wie viel Liebe, Engagement und Verantwortungsbewusstsein sich die Adoptiveltern um die Beziehung zu »ihrem« Kind bemühten, das schon als Baby zu ihnen kam. Wir alle waren von dem Text sehr betroffen, ambivalent in der Reaktion und
unsicher im Bezug auf die Frage : Was sollen wir mit diesem Text anfangen? Ihn einfach in einer der nächsten Ausgaben zu veröffentlichen, war unmöglich. Von seiner Länge her hätte er alle anderen Beiträge in den Hintergrund gedrängt. Aber auch die konsequente Beibehaltung der eigenen Perspektive betrachteten wir als ein Problem : Das Jugendamt erschien als »Täter«, die Eltern, hier vor allem der Vater und letztlich auch die Adoptivtochter als dessen Opfer“
Wie weiter berichtet, erwies sich nicht nur aufgrund der Anonymität des Autors (die bis heute für die Herausgeber fortbesteht) die Kommunikation mit ihm als schwierig, es war auch nicht leicht, in Frage kommende Kommentatoren zu finden. Auch ein abschließender Text des Autors kam nicht zustande. Dennoch entschieden sich die Herausgeber zur Veröffentlichung, weil„endlich einmal die die andere Seite Sozialer Arbeit, Beratung und Therapie, nämlich die Adressatenseite, zum Zuge kommt – zumindest durch die Feder eines Betroffenen, der über genügend Mut, soziale und intellektuelle Kompetenzen verfügt, um sich öffentlich zu artikulieren. Diese Seite zu hören, ernst zu nehmen, wertzuschätzen und dialogisch für den weiteren Hilfeprozess zu nutzen, auch wenn sie uns kränkt, verletzt und in unserem professionellen Selbstwert trifft, ist ja eine wesentliche Forderung an die systemische Praxis (und nicht nur an diese)“
Zu den vollständigen abstracts…

8. September 2008
von Tom Levold
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Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern

Wenn ein neues Werk von Michael B. Buchholz auf den Markt kommt, wird man nicht enttäuscht. Nun kommt im Psychosozial-Verlag eine phantastische Studie heraus, die Buchholz gemeinsam mit Franziska Lamott und Kathrin Mörtl verfasst hat. Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine vollständig transkribierte Gruppentherapie von inhaftierten Sexualstraftätern von 90 Sitzungen (!), die von den AutorInnen konversations- und metaphernanalytisch ausgewertet worden sind. Das Versprechen des Klappentextes, aus dieser Vorgehensweise seien„überraschende Einsichten in bewegende Geschichten, interessante Gesprächsformate und Redezüge sowie Sprachbilder zur Abwehr und Selbstreflexion (entstanden), die Leser (erhielten) Einblicke in Biografiemuster, Täuschungsstrategien und Aufdeckungshilfen, Zweifel und Rechtfertigungen, die Mühen der Einsicht und die mühsame Arbeit am Sinn“, wird auf großartige Weise eingelöst. Das Buch ist nicht nur ein herausragendes Beispiel für die Reichweite qualitativer Forschungsprogramme, sondern widmet sich auch einem Thema, dessen vertieftes Verständnis wie kein zweites durch ideologische und moralische Diskurse erschwert worden ist. Pflichtlektüre für alle, die professionell mit Delinquenten zu tun haben, darüberhinaus eine außerordentliche intellektuelle Bereicherung für jeden, den die Dynamik von Scham und Schuld interessiert. systemagazin freut sich, kurz vor Erscheinen einen ausführlichen Vorabdruck bringen zu können, in dem die AutorInnen einführend zu ihrem Forschungsfeld und den Zielen ihrer Studien Stellung nehmen und erste Einblicke in ihre Arbeitsweise geben.
Zum Vorabdruck…

7. September 2008
von Schlingensiepen
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Achtsamkeit

Achtsamkeit – Ein Meditationshandbuch für Therapeuten und Klienten. Wer sich ein wenig mit Stressbewältigungsprogrammen und Burnout-Prophylaxe beschäftigt, sollte das 75 Seiten-Büchlein von Alois Burkhard lesen. Und natürlich all jene, die neugierig sind auf innere Zustände, in denen es um nichts anderes geht, als die gezielte und bewusste Wahrnehmung aller Phänomene, die in diesem Augenblick geschehen. Das klingt beschwerlicher oder mystischer als es ist. Den Fokus einfach mal auf die Geräusche um sich herum lenken, das Auto, das gerade vorbeifährt oder das leise Surren des Computers beachten und nur konzentriert hinhören. An die Kunst ganz bewusst wahrzunehmen ohne zu werten, führt der Autor den Leser heran. Es ist also kein Ratgeber für Bewältigungs- und Erledigungsprogramme „weg mit dem Stress“, sondern die konsequente Hinführung zu innerer Ruhe und damit zu DIR selbst. Eine Verneigung vor der eigenen Wahrnehmung. Alois Burkhard arbeitet als Ergotherapeut am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim. Man spürt beim Lesen der vielen Übungen seine Erfahrung und seine Liebe zu diesem Thema. Konsequent ohne Geschwafel schreibt er im one-page Design, konzentriert, nicht wertend, wirkungsvoll, freundlich. Und immer wieder der Hinweis, was immer auch geschieht, ist das Einzige was geschehen kann, und das ist viel. Es ist nicht kompliziert, es ist einfach. Aber „nicht das Beginnen wird belohnt, sondern einzig und allein das Durchhalten“. Die ersten 20 Seiten eine schnelle und konsequente Hinführung zu den Übungen. Man möchte eigentlich viel mehr lesen und mehr und mehr, aber nein, mehr gibt es nicht und es reicht absolut. Der Leser wird neugierig, lernt die Rituale kennen, trifft eine Entscheidung und kommt sofort mit sich in Kontakt. Und dann gibt es wunderschöne Übungen. Und jetzt gibt es nichts mehr zu sagen. Tun! CIP Medien-Verlag, 75 Seiten Preis: 18,00 EUR ISBN-13:978-3-932096-47-1

6. September 2008
von Tom Levold
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Die Systemtheorie und das Unbewusste

In der Zeitschrift„Soziale Systeme“ erschien 2004 ein bemerkenswerter Beitrag von Harald Wasser, Autor zahlreicher Publikationen u.a. zu den Themen Medientheorie, Systemtheorie, Psychologie, Hirnforschung und Psychoanalyse, der sich mit der Problematik des Ausschlusses des Unbewussten aus der Luhmannschen Systemtheorie beschäftigt, für die das psychische System mit Bewusstsein zusammenfällt. Der Artikel ist auch im Internet zu lesen. In der Zusammenfassung heißt es:„Durch aktuelle Forschungen veranlasst gehen zunehmend auch psychologische Strömungen, die teilweise über Jahrzehnte konträr zu Freuds Ansichten gestanden hatten, davon aus, dass die Psyche nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst operieren kann. Nun lässt sich, wenn man Luhmann beim Wort nimmt, systemtheoretisch kein Unbewusstes konstruieren. Damit ist für die Systemtheorie die Möglichkeit, an derartige Forschungen bzw. Forschungsrichtungen anzuschließen, verbaut. Entgegen des transdisziplinären Versprechens, das Luhmann gegeben hatte, können somit aber nur bewusstseinsphilosophisch-kognitivistische Psychologien von Systemtheoretikern berücksichtigt werden. Das wäre – so bedauerlich es ist – vertretbar, wenn es sich konsequent aus der systemtheoretischen Theoriearchitektur ableiten ließe. Der Artikel versucht nachzuweisen, dass genau dies aber nicht der Fall ist. Ganz im Gegenteil ergibt sich die Rejektion der Annahme, die Psyche könne auch unbewusst operieren, aus einem einzigen Postulat, das nicht nur revidierbar ist, sondern aus ganz verschiedenen Gründen revidiert werden sollte. Es handelt sich dabei um das Postulat von der Identität von Psyche und Bewusstsein. Dieses Identitätspostulat lässt sich aber nur aus einer subjekt- bzw. bewusstseinsphilosophischen Tradition heraus rechtfertigen, aus einer Tradition also, mit der die Systemtheorie bekanntlich gerade brechen möchte. Interessant ist nun, dass, sobald man auf dieses Postulat verzichtet, die Konstruktion eines Unbewussten systemtheoretisch keinerlei Schwierigkeiten mehr macht. Der Artikel versucht darzulegen, dass mit dem Entfallen des Identitätspostulats neben der konsequenten Darstellung der Systemtheorie als einer transdisziplinären Theorie einige weitere Vorteile entspringen sowie eine Reihe von Widersprüchen aufgelöst werden können. Selbstverständlich sind umgekehrt bewusstseinsphilosophisch orientierte Psychologien mit der Verabschiedung vom Identitätspostulat keineswegs gezwungen, nun ebenfalls ein Unbewusstes zu postulieren: Die Annahme eines Unbewussten wird ja nicht zwingend, aber sie wird zu einer tragfähigen Option. In jedem Fall kann die Systemtheorie auf diese Weise deutlich Abstand zur Bewusstseinsphilosophie gewinnen, womit zugleich ihre Distanz zur Subjektphilosophie mehr Substanz erhielte“
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4. September 2008
von Tom Levold
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Soziale Arbeit: systemisch

Wolf Ritscher erfreut sich in der systemischen Szene eines ausgezeichneten Rufes, der sich neben seinem freundlichen Wesen vor allem seinen vielfältigen Unternehmungen zur Weiterentwicklung einer systemischen Sozialarbeitswissenschaft sowie seinen intensiven publizistischen Tätigkeiten verdankt. Der Psychologie-Professor an der Hochschule für Sozialwesen in Esslingen hat 2007 bei Vandenhoeck & Ruprecht ein Buch veröffentlicht, das sich mit der Theorie und Praxis systemischer Sozialarbeit beschäftigt. Jürgen Beushausen hat es rezensiert und vermerkt kritisch:„Ritscher unterstützt ein Konzept, das Ernst macht mit Empowerment und der Partizipation der Adressaten. Gewünscht hätte ich mir eine präzisere Diskussion der ‚Machtproblematik‘. Zu Recht verweist er darauf, dass Menschen als non-triviale Systeme einen Eigensinn haben und entscheiden können, wie sie auf Umwelteinflüsse reagieren, der Autor thematisiert jedoch zu wenig, dass die viele Adressaten der Sozialen Arbeit besonderen vielfältigen und wirksamen Faktoren ausgesetzt sind“. Dennoch empfiehlt er das Buch ausdrücklich zur Lektüre:„Mit diesem Band leistet Wolf Ritscher einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung systemischer Sozialer Arbeit. Erneut bietet er mit der Verknüpfung von Theorie und Praxis ein Grundlagenwerk systemischer Sozialer Arbeit. Dieses Buch empfehle ich neben den „Praktikern“ besonders Studentinnen und Studenten sozialer Fachbereiche“.
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3. September 2008
von Klein
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Alles Geschmackssache?

Kürzlich war ich mal wieder auf der Suche nach neuen Genüssen in Sachen Wein und wollte wissen, wie die neuen Weine schmecken. Schmecken – etwas, was jeder Mensch kennt, jeder unweigerlich tut, unter halbwegs normalen Umstanden sogar mehrmals täglich. Und nicht nur, was den Geschmack von Wein betrifft. Wir wissen nämlich, dass Tomaten den Geschmack von Tomaten haben, Milch den Geschmack von Milch, Gurken den Geschmack von Gurken. Das alles kennt man – glaubt man. Aber was ist der Geschmack von Wein?
Mir fällt also auf der Suche nach Wein ein Katalog eines Weinhandels in die Hände. Und was lese ich da über die Weine? Manche duften nach Kirschen, Brombeeren und haben den Geschmack von Marzipan, frischen Mandeln, von Weichselkirschen, Vanille, Süßholz usw. So steht es da. Und das muss wohl stimmen. Immerhin haben sich Experten mit dem Geschmack des Weins beschäftigt.
Ich bestelle also verschiedene Weine und probiere. Ich lese die Beschreibung, koste und stelle fest, dass ich genau das schmecke, was ich über den Wein gelesen habe: Pflaumen, Rosinen, dunkle Beerenfrüchte und, mit etwas Mühe: Datteln.
Dann probiere ich einen anderen Wein im Vergleich. Leider habe ich vergessen, vorher die Beschreibung des Weins zu lesen. Ist auch egal, denke ich. Schmecken kann ja jeder. Ich trinke und schmecke Schokolade, entdecke Brombeernoten und eine Anspielung an Leder. Nicht schlecht, denke ich, aber dieser Wein kann noch etwas lagern.
Da fällt mir ein, dass ich ja mal überprüfen könnte, ob ich den Geschmack richtig erkannt und alle Geschmacksnuancen wahrgenommen habe. Ich hole mir die Beschreibung der Experten und lese: „Der Duft hat neben seiner feinen Frucht von Kirschen und Brombeeren auch sehr attraktive Noten von Kirschkompott oder Konfitüre zu bieten, durch das sich eine feine Spur von Pfeffer und roter Paprika zieht. Der Wein ist trinkreif.“
Donnerwetter! Was nun? Schmecke ich unzureichend, vielleicht etwas dumpf und kann ich deshalb den Geschmack des Weins nicht feststellen? Schmecken die Experten falsch? Schmeckt der Wein mal so, mal so? Und wieder die Frage: Was ist der Geschmack des Weins?
Da kommt mir der Gedanke, dass Schmecken und Geschmack zwei durchaus unterschiedliche Phänomene sein könnten. Sie vielleicht ein Verhältnis zueinander haben wie der japanische Autor Haruki Murakami in seinem Buch „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ über die Beziehung von Schmerz und Leiden schreibt: „Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist eine Option.“ (S. 8) Also: „Geschmack ist unvermeidlich. Schmecken ist eine Option?“ Hat man denn noch nicht einmal beim Weintrinken in seiner Freizeit Ruhe vor den Tücken des konstruktivistischen Denkens?
Ich recherchiere also im Internet. Und tatsächlich finde ich eine Seite, auf der sich Autorinnen und Autoren mit dem Phänomen des Weinschmeckens, nicht etwa des Weingeschmacks beschäftigen. „Die Weinprobe findet im Kopf des Konsumenten statt“ lese ich da und erfahre, einiges über die Bedeutung des Riechens beim Schmecken, über die Geschmackszonen meiner Zunge und über neurophysiologische Zusammenhänge beim Schmecken.
Und als ob ich nicht schon genug bei meiner Wahrheitssuche über den Geschmack eines Weins verunsichert worden wäre, muss ich auch noch den Einfluss emotionaler Prozesse und den Bedeutungszuschreibungen, die aus spezifischen Narrationen über Weine resultieren, erkennen. Menschen könnten, so steht es da, Geschmack nicht objektiv wahrnehmen. Das alles kommt mir doch irgendwie bekannt vor.
Als Krönung werden verschiedene Experimente mit professionellen Verkostern geschildert, von denen mir eines besonders gut gefiel: Die Önologen sollten einen Weißwein und einen Rotwein blind verkosten, d.h. es wurden keine näheren Angaben zu den Weinen gemacht. In Wirklichkeit enthielten beide Flaschen denselben Weißwein, wovon eine Probe mit geschmackloser Lebensmittelfarbe rot eingefärbt worden war. Dennoch schrieben die Önologen dem Weißwein typische Weißwein- und dem angeblichen Rotwein Rotweinaromen zu.
Übrigens: Mir haben beide Weine (und die anderen bestellten Exemplare auch) sehr gut geschmeckt – nach was auch immer. Vielleicht sollten wir Weinproben in der Ausbildung berücksichtigen. Zur Verdeutlichung der radikalkonstruktivistischen Perspektive – versteht sich.
Wer sich mit diesen und anderen Experimenten oder mit dem Thema Schmecken und Geschmack näher beschäftigen will – hier gibt es einen Beitrag im Ärzteblatt – und hier noch einen – und einen Beitrag in wikipedia zum Stichwort „Geschmack“.

2. September 2008
von Tom Levold
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Dissoziation als Leistung und Störung

Hans Christ, den ich als alten Freund und neuen systemagazin-Autor an dieser Stelle herzlich begrüße, ist als Psychoanalytiker und systemischer Therapeut der ersten Stunde ein ausgesprochen erfahrener Kliniker, der sich immer wieder auch mit übergreifenden theoretische Perspektiven und ihrer Integration in klinisches Denken befasst hat. 2005 erschien in„systeme“ ein umfangreicher Aufsatz über„Dissoziationen als Leistung und Störung“, in dem diese Fähigkeiten zum Ausdruck kommen, und der jetzt auch in der Systemischen Bibliothek zu lesen ist. Im abstract schreibt Hans Christ:„Dissoziative Prozesse der Spannungsregulation können Alltagsphänomene ebenso gut erklären wie Krankheitsphänomene. Ich beginne mit dem vernachlässigten Alltagsbereich salutogenetisch bedeutsamer Dissoziation für Erholungsprozesse, affektive Diskriminierung und die Förderung von kreativen Prozessen und wende mich darauf der Begriffsgeschichte zu um dann den heutigen Stand der Dissoziationsforschung zu skizzieren. Unter Berücksichtigung neurowissenschaftlicher und mentalistischer Konzepte der Psychoanalyse und Bindungsforschung stelle ich ein Aufmerksamkeitsmodell der Dissoziation vor. Komplexitätsreduktion als Prozess der Erregungsabkopplung durch Konstriktion und Selbsterregung verdeutliche ich an Fallmaterial aus der eigenen Praxis als Psychotherapeut und Supervisor. Therapeutische Überlegungen beschließen die vorliegende Arbeit“
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