systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

20. Januar 2024
von Tom Levold
Keine Kommentare

Über 207 000 junge Menschen wuchsen 2022 in einem Heim oder einer Pflegefamilie auf

  • 121 000 junge Menschen lebten in Heimen und 86 000 in Pflegefamilien
  • In jedem zweiten Fall waren die Eltern alleinerziehend
  • 65 % der Betroffenen oder ihrer Herkunftsfamilien bezogen Transferleistungen
  • Hauptgründe für neue Unterbringungen im Jahr 2022 waren der Ausfall von Bezugspersonen und Kindeswohlgefährdungen 

WIESBADEN – Im Jahr 2022 wurden in Deutschland rund 121 000 junge Menschen in einem Heim und weitere rund 86 000 in einer Pflegefamilie betreut. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, wuchsen damit rund 207 000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene – zumindest zeitweise – außerhalb der eigenen Familie auf. Das waren 1 % oder rund 2 900 weniger junge Menschen als im Jahr zuvor.

Die Betroffenen: In gut jedem vierten Fall jünger als 10 Jahre

In gut jedem vierten Fall (27 %) waren die jungen Menschen, die 2022 außerhalb der eigenen Familie betreut wurden, jünger als 10 Jahre, in knapp jedem zweiten Fall (48 %) jünger als 14 Jahre. Minderjährig waren insgesamt vier Fünftel aller Betroffenen (80 %). Ein weiteres Fünftel (20 %) zählte zur Gruppe der sogenannten „Careleaver“, also zu den jungen Volljährigen an der Schwelle in ein eigenständiges Leben. 

Während die jüngeren Kinder bis 9 Jahre häufiger in Pflegefamilien betreut wurden, überwog ab dem 10. Lebensjahr die Erziehung in einem Heim. Insgesamt wurden etwas mehr Jungen (54 %) als Mädchen (46 %) außerhalb der eigenen Familie erzogen. Im Schnitt endete die Unterbringung in einer Pflegefamilie nach über vier Jahren (50 Monate), eine Heimerziehung dagegen nach weniger als zwei Jahren (21 Monate). 

Die Herkunftsfamilien: In jedem zweiten Fall alleinerziehend

Die Eltern der betroffenen jungen Menschen waren besonders häufig – nämlich in jedem zweiten Fall (50 %) – alleinerziehend. Bei jeweils knapp einem weiteren Fünftel der Herkunftsfamilien handelte es sich um Elternteile in neuer Partnerschaft (18 %) oder um zusammenlebende Elternpaare (18 %). In den verbleibenden Fällen war die Familiensituation unbekannt oder die Eltern verstorben. 

Mit Blick auf die wirtschaftliche Situation bewegten sich die jungen Menschen beziehungsweise ihre Eltern oftmals nahe am Existenzminimum: In 65 % aller Fälle lebten die Betroffenen oder ihre Herkunftsfamilien vollständig oder teilweise von Transferleistungen. Dazu zählten Arbeitslosengeld II (SGB II), Sozialhilfe oder Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (SGB XII) sowie ein Kinderzuschlag. Besonders hoch war auch hier der Anteil bei Alleinerziehenden-Familien: Hier lag der Transferleistungsbezug mit 75 % deutlich über den vergleichbaren Anteilen von Elternteilen in neuer Partnerschaft (64 %) oder zusammenlebenden Elternpaaren (59 %). 

Gründe für Neu-Unterbringungen: Ausfall der Bezugsperson und Kindeswohlgefährdung

58 400 junge Menschen waren 2022 neu in einem Heim oder einer Pflegefamilie untergebracht worden. Hauptgrund war mit 25 % der Ausfall der Bezugsperson der betroffenen jungen Menschen (Unversorgtheit), etwa durch eine Erkrankung oder durch eine unbegleitete Einreise aus dem Ausland. An zweiter Stelle stand 2022 die Gefährdung des Kindeswohls durch Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, psychische Misshandlung oder sexuelle Gewalt (17 %). Dritthäufigster Grund für eine neue Unterbringung war die eingeschränkte Erziehungskompetenz der Eltern (13 %), beispielsweise durch pädagogische Überforderung oder Erziehungsunsicherheit.

Methodische Hinweise:

Die Betreuung in einem Heim nach § 34 SGB VIII oder einer Pflegefamilie nach § 33 SGB VIII sind Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe, auf die Eltern minderjähriger Kinder unter bestimmten Voraussetzungen einen gesetzlichen Anspruch haben (§ 27 SGB VIII). In bestimmten Fällen räumt das Kinder- und Jugendhilferecht auch jungen Volljährigen bis zum 27. Lebensjahr einen Anspruch auf vergleichbare Leistungen ein (§ 41 SGB VIII). Die Pressemitteilung weist alle Leistungen nach §§ 33, 34, 41 SGB VIII nach, die am Jahresende bestanden oder im Verlauf des Jahres beendet wurden. 

Weitere Informationen:

Weitere Ergebnisse der Statistik der Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen bei (drohender) seelischer Behinderung (§§ 27 bis 35, 35a, 41 SGB VIII) können der Datenbank GENESIS-Online (Tabellen 22517) sowie der Themenseite „Hilfe zur Erziehung und Angebote der Jugendarbeit“ entnommen werden. (Quelle: destatis.de)

19. Januar 2024
von Tom Levold
Keine Kommentare

Systemische Therapie wird auch bei Kindern und Jugendlichen eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung

Berlin, 18. Januar 2024 – Die Systemische Therapie steht künftig auch für die psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat heute die entsprechende Änderung der Psychotherapie-Richtlinie beschlossen. Für Erwachsene ist das Verfahren Systemische Therapie bereits seit dem Jahr 2020 eine Kassenleistung.

Die Systemische Therapie ist ein Psychotherapieverfahren, das insbesondere die sozialen Beziehungen innerhalb einer Familie oder Gruppe in den Blick nimmt. Die Therapie fokussiert dementsprechend darauf, die Interaktionen zwischen Mitgliedern von solchen „Systemen“ zu verändern beziehungsweise ihnen eine funktionalere Selbstorganisation der Patientin oder des Patienten entgegenzusetzen. Sie kann – wie die anderen psychotherapeutischen Verfahren auch – als Einzel- oder Gruppentherapie oder in Kombination von Einzel- und Gruppentherapie angeboten werden. Als spezifische Anwendungsform der Systemischen Therapie ist zudem das „Mehrpersonensetting“ möglich: dabei werden relevante Bezugspersonen der Patientin oder des Patienten in die Behandlung einbezogen.

Weiterlesen →

18. Januar 2024
von Tom Levold
1 Kommentar

Biopsychosoziale Phänomene in der Beratung. Diagnostizieren und intervenieren

Jürgen Beushausen, Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit”
an der Diploma-Hochschule in Hamburg, ist Sozialarbeiter, Diplom-Pädagoge, Supervisor und systemischer Therapeut u.a. mit den Schwerpunkten Beratung, klinische Soziale Arbeit, Systemtheorien, Gesundheit und Sucht. Eine aktuelle Veröffentlichung befasst sich mit den diagnostischen Möglichkeiten in der Sozialen Arbeit. Im abstract heißt es: „Für die Praxis der Sozialen Arbeit wird eine Technik vorgestellt, mit der zum einem psychische, soziale und auch körperliche (leibliche) Phänomene betrachtet und damit diagnostiziert werden und Interventionen entwickelt werden können. Hierbei wird auf biopsychosoziale Modelle zurückgegriffen. Die hier vorgestellte Technik (PDI) wird theoretisch verortet. Die Anwendung erfolgt mit den Phasen Anamnese, subjektive Einschätzung, Kontext und Veränderung.“

Der vollständige Text ist hier zu lesen…

17. Januar 2024
von Tom Levold
2 Kommentare

Bundesverdienstkreuz für Gunthard Weber

Am Freitag vergangener Woche hat Gunthard Weber, eines der maßgeblichen Mitglieder der Heidelberger Gruppe um Helm Stierlin und wichtiger Vertreter des systemischen Ansatzes in Deutschland seit Ende der 1970er Jahre, das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen und systemagazin gratuliert von Herzen. In einer Meldung im Blog des Carl-Auer-Verlages schreiben Matthias Ohler und Elvira Schwebler:

„Die Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (Bundesverdienstkreuz) setzt, wie der Name schon sagt, besondere Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland voraus. Von Dr. Gunthard Weber kann man in ganz besonderer Weise sagen, dass er sich diese Verdienste erworben hat. Folgerichtig erhielt er am Freitag, 12. Januar 2024, in feierlichem Rahmen im Palatin Kongresszentrum seines Wohnortes Wiesloch aus der Hand des Oberbürgermeisters Dirk Elkemann diese höchste Auszeichnung, die unser Land vergeben kann.

Im Jahr 2004, also vor genau zwanzig Jahren, gründete Gunthard Weber gemeinsam mit seiner Gattin Nele Weber-Jensen und Gleichgesinnten den Verein Häuser der Hoffnung e.V. in Mali. Zentrales Anliegen war und ist, malischen Mädchen eine gute Schulbildung und damit den Grundstock für ein selbstbestimmtes und sicheres Leben zu ermöglichen. Das Projekt hatte Erfolg, wuchs rasch, und immer mehr Unterstützer:innen und Förder:innen erkannten das große Potenzial für eine nachhaltige Entwicklung und die Chance, menschliche Not wirklich zu wenden.

Im Jahr 2017 entstand ein weiteres, größeres Projekt, eine gGmbH mit dem Namen Centre Agro-Alimentaire Siby (CAAS). Hier handelt es sich um eine berufsbildende Einrichtung für Mädchen und junge Frauen in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft im Süden Malis. Sie werden dort, wie es auf der Webseite heißt, ,mit Methoden der Bodenverbesserung, modernen, produktiven und nachhaltigen landwirtschaftlichen Anbau- und Produktionstechniken, sowie Verfahren der Lebensmittelverarbeitung und -konservierung vertraut gemacht’“.

Zur vollständigen Nachricht…

10. Januar 2024
von Tom Levold
1 Kommentar

60 % der Erwachsenen leben als Paar zusammen

• Im 1. Halbjahr 2023 lebten 60 % der Erwachsenen mit einem Partner oder einer Partnerin zusammen, 1996 hatte der Anteil noch bei 66 % gelegen
• 84 % der Paare waren im 1. Halbjahr 2023 verheiratet, 1996 waren es noch 90 % – Anteil der Verheirateten bei jüngeren Paaren besonders gering

WIESBADEN – Im 1. Halbjahr 2023 lebten 60 % der Erwachsenen in Deutschland mit einem Partner oder einer Partnerin zusammen. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) auf Basis von Vorabergebnissen des Mikrozensus weiter mitteilt, ist der Anteil der zusammenlebenden Paare damit seit dem Beginn der Zeitreihe im Jahr 1996 zurückgegangen. Damals hatte er noch bei 66 % gelegen.

Rückgang der Ehepartnerschaften vor allem bei jüngeren Paaren 

Rückläufig ist ebenfalls der Anteil der verheirateten Paare. Im Jahr 1996 waren noch neun von zehn Partnerschaften (91 %) im gemeinsamen Haushalt ein Ehepaar. Bis zum 1. Halbjahr 2023 ging dieser Anteil auf 84 % zurück. Besonders stark war der Rückgang der Ehepartnerschaften unter jungen Paaren: Während 1996 noch acht von zehn zusammenlebenden Paaren (80 %) verheiratet waren, bei denen die ältere Person jünger als 40 Jahre war, so waren es im 1. Halbjahr 2023 nur noch sechs von zehn Paaren (61 %). In der Altersgruppe der Paare mit einer älteren Person von 40 bis unter 60 Jahren fällt der Rückgang von 94 % auf 85 % bereits deutlich schwächer aus. Bei Paaren, bei denen die ältere Person mindestens 60 Jahre alt ist, sank der Anteil der Verheirateten lediglich von 96 % im Jahr 1996 auf 93 % im 1. Halbjahr 2023. 

Methodische Hinweise: 

Mit dem Halbjahresbericht werden bereits im laufenden Erhebungsjahr des Mikrozensus vorab Einblicke in ausgewählte Ergebnisse der Erhebung gegeben. Diese Vorabergebnisse werden bis zur Bereitstellung der ersten Ergebnisse (voraussichtlich im April 2024) auf Basis des gesamten Mikrozensus 2023 weiter aufbereitet und plausibilisiert. 

Dargestellt werden Paare, welche in einem gemeinsamen Haushalt leben (Hauptwohnsitzhaushalte). Partnerschaften ohne gemeinsamen Haushalt bleiben unberücksichtigt. Ausgangspunkt für den zeitlichen Vergleich ist das Jahr 1996, da seit 1996 neben Haushalten auch Lebensformen als soziale Einheiten im Mikrozensus abgegrenzt werden. 

Der Mikrozensus wurde 2020 methodisch neugestaltet. Ausführliche Informationen zu den Änderungen sowie den Auswirkungen der Neugestaltung und der Corona-Krise auf den Mikrozensus sind auf einer eigens eingerichteten Sonderseite verfügbar. (Quelle: destatis.de

29. Dezember 2023
von Tom Levold
Keine Kommentare

Keeping Faith: A Conversation with Michael White

Michael White (1948-2008)

Heute wäre der australische Wegbereiter des narrativen Ansatzes in der systemischen Therapie, Michael White, 75 Jahre alt geworden. Er starb viel zu früh 2008 im Alter von 59 Jahren an einem Herzinfarkt, als er sich für ein Seminar in San Diego, Kalifornien, aufhielt.

Im Journal of Systemic Therapies erschien 2009 ein Interview mit Michael White, das Jim Duvall und Karen Young mit ihm führten und in dem er Einblicke in bestimmte Aspekte seines Lebens gewährte, die Einfluss auf die Entwicklung vieler seiner Ideen und Praktiken ausübten, die das ausmachen, was wir heute als narrative Therapie bezeichnen. Er beschreibt sein Aufwachsen in einem ziemlich gewaltvollen Milieu der Arbeiterklasse, seine Erfahrungen mit einen mittel- und oberschichtsorientierten Schul- und Universitätssystem, der Protestbewegung der 60er Jahre und seine ersten beruflichen und therapeutischen Erfahrungen, die ihm geholfen haben, seinen therapeutischen Ansatz zu entwickeln. Das ganze Interview ist hier zu lesen …

24. Dezember 2023
von Tom Levold
4 Kommentare

systemagazin Adventskalender 2023 – 24. Tom Levold

Wohl die meisten Ereignisse in unserem Leben machen einen Unterschied, der einen Unterschied ausmacht: indem sie kleinen und großen Dingen einen neuen Dreh geben, Gelegenheiten eröffnen, gewünschte Entwicklungen verbauen oder Chancen zunichte machen. Im Laufe unseres Lebens sind wir wohl mit Millionen kleiner und kleinster Unterschiede konfrontiert, die alle ihre Bedeutung haben, wogegen die Zahl der wirklich großen Unterschiede, die den Lebensweg nachdrücklich verändern, im Allgemeinen eher überschaubar sein dürfte. 

Schaue ich auf meine vergangenen siebzig Lebensjahre zurück und vergegenwärtige ich mir die Weichenstellungen, die für mich persönlich die wirklich großen Unterschiede gemacht haben, fallen mir weniger die vielen spannenden beruflichen und professionellen Momente ein, auf die ich gleichwohl mit Freude und Befriedigung gucken kann. Viel bedeutsamer jedoch sind die vielfältigen Erfahrungen von Liebe und Freundschaft, die mein Leben bis heute kostbar machen. 

Den ersten fundamentalen Unterschied in meinem Leben erlebte ich in meiner langen Psychoanalyse, die mir geholfen hat, diese Erfahrungen – ganz gegen meine Zweifel – überhaupt erst zulassen zu können. Dafür bin ich meinem Analytiker, von dessen Zuneigung ich mich getragen fühlen konnte, bis heute dankbar. 

Was mein Leben aber dann später grundlegend geändert hat und insofern bis heute den größten Unterschied macht, hat damit zutun, dass ich vor bald dreissig Jahren praktisch über Nacht in die Verantwortung als Vater katapultiert wurde. Vier Kinder großziehen,  an ihrem Leben Anteil nehmen und ihr Vertrauen genießen zu dürfen, war und ist das größte Geschenk, das mein Leben mir bereiten konnte. Wie wunderbar, dass ich nun auch die Liebe meiner Enkelkinder erleben darf. Im Alter die fortdauernde Liebe meiner Frau und die Zuneigung meiner Freunde zu erleben und zu genießen, ohne die ich nicht der wäre, der ich bin, ist etwas, für das ich zutiefst dankbar bin.

Die Liebe und Zuneigung in meinem privaten Kosmos erlebe ich als einen unfassbar großen Unterschied in einer Welt, in der so viel Lieblosigkeit, Gewalt und Kälte herrscht. Welch ein unverdientes Privileg! In diesen Tagen, in denen überall hierzulande die Weihnachtsbotschaft von Frieden und Freude herausposaunt wird, sind meine Gedanken bei den Menschen, die überall auf der Welt hungern, frieren, bombardiert und beschossen werden, die auf der Flucht vor Verfolgung und Verelendung sind und nicht wissen, wo sie die Nacht verbringen können. Der größte Teil meines diesjährigen Weihnachtsbudgets geht deshalb an die Kinder und ihre Familien in Gaza: https://www.unicef.de.

Ich wünsche Ihnen allen friedliche, gesunde, freundliche und liebevolle Weihnachten mit den Menschen, die Ihnen wichtig sind!

23. Dezember 2023
von Tom Levold
2 Kommentare

systemagazin 2023 – 23. Lina Nagel

Zwei Welten, die Unterschiede machen – zu Weihnachten 

Passend zur Adventszeit und für eines dieser Kalendertürchen habe ich recherchiert, was Bateson wohl zu Weihnachten gesagt hat oder hätte. Geschenke, Rentier, Tannenbaum, Spekulatius – nichts dergleichen findet sich in den Schlagwortverzeichnissen seiner Hauptwerke. Umpf… 

Bei genauerem Hinschauen bin ich doch noch fündig geworden. Auch wenn nicht klar ist, ob er diese zu Weihnachten verschenken wollte, aber Bateson hat im Laufe seines Lebens zwei Kisten gepackt (1979, S. 14f) – und es spricht ja nichts dagegen, sie jetzt im Advent mal auszupacken. Auch wenn sich nur Beschreibungen und Probleme darin befinden; aber das ist ja zur Weihnachtszeit bekanntlich gar nichts so Ungewöhnliches.

Also Bateson hat zwei Kisten gepackt.

In die eine Kiste hat er „die Beschreibungen von Stöcken, Steinen und Billardkugeln“ (1979, S. 14) gesteckt. In die andere „Krebse, Menschen, Probleme der Schönheit und Probleme des Unterschieds“ (Ebd.). Jede dieser Kisten beinhaltet nun eine Welt: die erste die des Unbelebten, die zweite die des Lebendigen[1]. So weit – so gut. Und nun? Was macht das für einen Unterschied?

Ich denke an sein Beispiel mit dem Stein und dem Hund (Ebd., S. 126f): Ersterer fliegt auf einigermaßen vorhersehbare Weise, wenn wir ihn treten. Mit Stöcken und Billardkugeln wird es sich wohl ähnlich verhalten, je nach Talent und Übung. Anders der Hund – ob er jault, beißt oder auch fliegt, wenn wir ihn treten[2], wissen wir vorher nicht, da nützen auch Talent und Übung nichts. Mit Krebsen und Menschen wird es sich wohl ähnlich verhalten, aber Probleme der Schönheit und des Unterschieds treten? Hm… 

Jedenfalls scheint es wichtig zu sein, sich dieser zwei Welten bewusst zu sein, wie Watzlawick schreibt: 

“Wir müssen umdenken lernen. Wie das aussehen kann, dafür bietet uns Bertrand Russell einen sehr wichtigen und brauchbaren Hinweis. Er verweist darauf, daß ein häufiger Fehler in der Wissenschaft darin liege, zwei Sprachen zu vermengen, die streng voneinander getrennt sein müßten. Nämlich die Sprache, die sich auf die Objekte bezieht, und die, die sich auf Beziehungen bezieht. Ein Beispiel: wenn ich sage, dieser Apfel ist rot, dann habe ich in der Objektsprache eine Eigenschaft dieses Objektes Apfel bezeichnet. Sage ich dagegen, dieser Apfel ist größer als jener, dann habe ich eine Aussage über die Beziehung gemacht, die sich nicht mehr auf den einen oder den anderen Apfel zurückführen läßt. Die Eigenschaft des Größerseins kann nur in Bezug auf die Beziehung verstanden werden. Das ist so schwer zu begreifen. Unser beginnendes Verständnis der Eigenschaften von Beziehungen ist noch ein sehr rudimentäres und gibt uns bisher eigentlich mehr Rätsel auf als Erklärungen.” (1992, S. 26f)

Ob Bateson diese rätselhaften Kisten wohl mal zu Weihnachten verschenkt hat? Dazu ist nichts überliefert. Für mich sind sie dennoch ein Geschenk.

Bateson, G. (1979). Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. (4. Auflage, 1984). Frankfurt: Suhrkamp.

Watzlawick, P. (1992). Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns. Wien: Picus.


[1] Diese zweite Kiste ist übrigens Inhalt seines Buches „Geist und Natur“ (1979). 

[2] Ich gehe nicht davon aus, dass Bateson das selbst ausprobiert hat oder es zu tun empfehlen würde.

22. Dezember 2023
von Tom Levold
8 Kommentare

systemagazin 2023 – 22. Lothar Eder

„Die Erklärungswelt der Substanz
kann keine Unterschiede und keine Ideen
anführen, sondern nur Kräfte und Einflüsse.
Und umgekehrt führt die Welt der Form
und der Kommunikation keine Dinge, Kräfte
oder Einflüsse an, sondern nur
Unterschiede und Ideen. Ein Unterschied,
der einen Unterschied macht, ist eine Idee“
(Ökologie des Geistes, Suhrkamp 1981, stw 571, S. 353).


Der Akkusativ, der Dativ und die geistige Ökologie der Ökologie des Geistes

Unterschiede?

Weder in meinem persönlichen noch in meinem professionellen Erleben haben Unterschiede einen herausgehobenen Platz. Da gibt es Bindung oder Ungebundensein, da gibt es Freiheit oder Unfreiheit, da gibt es Wohlbefinden oder Missbehagen, Bedürfnisse, Gefühle wie Freude, Liebe, Trauer, Ärger, Angst oder Wut. Es gibt Licht und Dunkel, Schwere und Leichtigkeit. Und es gibt das Leben, be-seelte Existenz. Kein Stein ist wirklich tot, er ist Teil zyklischer Abläufe.
Da gibt es Jahreszeiten, expandierende oder zusammenziehende Kräfte, die auf die Seele wirken. Therapeutisch sind für mich Kategorien wie Bedürfnis, Mangel oder Fülle, Ladung und Entladung, Angst oder Sehnsucht, Kontraktion oder Extension bedeutsam. 
Menschen sind für mich Bindungswesen, die v.a. in ihren ersten Lebensjahren ein grundlegendes Bedürfnis nach Halt, Geborgenheit, körperlicher Nähe und Resonanz haben. 
Eine Theorie, die sich darauf nicht wesentlich bezieht, hat für mich wenig Anziehungskraft und Erklärungswert. 
Überhaupt: Theorie. Mehr als 99% ihres Existierens auf dieser Welt ist die Tierart Homo sapiens sapiens ohne Theorien in unserem heutigen Sinn ausgekommen. Theoria ist in der Antike eigentlich die Schau auf die Dinge. Der Beherrschungswille, der sich in der frühen Renaissance in Europa Bahn bricht, macht aus der kontemplativen Schau ein Instrumentarium der technischen Beherrschung. Die Ergebnisse dieses Wandels – Zerstörung der Natur und der Lebensgrundlagen des Menschen einschließlich seiner seelischen Integrität –  bringen mich zu dem Gedanken, dass der theoriefreie Teil der Evolution wohl der bei weitem erfolgreichere (und womöglich glücklichere) war.
Das kann einem zu denken geben. Vielleicht als Anregung zu einer kontemplativen Schau. Verbunden mit dem Impuls, das kontemplative Sinnen wieder mit der Lebenskunst zu verbinden, wie wir es sowohl aus der europäischen als auch aus der asiatischen Antike kennen. 

Der Akkusativ überwuchert den Dativ – vom andauernden Gemache

Genau genommen ist der Satz vom „Unterschied, der einen Unterschied macht“ kein Deutsch. Er übernimmt den englischen, v.a. amerikanischen Sprachduktus des making a difference.
Weder Goethe noch Schiller, weder Kant oder Hegel noch Schopenhauer hätten wahrscheinlich von einem „Unterschied“, der etwas „macht“ gesprochen. 

In meiner persönlichen Unterscheidung gibt es den Akkusativ- und den Dativmodus. Dieser Unterschied, der tat-sächlich einen Unterschied ausmacht, beruht nicht auf einer Idee, sondern auf der Tatsache der Polarität des vegetativen Nervensystems.
Die heutige Welt präferiert den Akkusativmodus, in dem wir mit den Dingen, der Welt, mit uns und anderen etwas machen. Das entspricht dem sympathischen Aspekt des Vegetativums. Der andere Pol, der parasympathische, also der Ruhenerv Vagus, steht für Passivität, Ruhe, Verdauung, Immunsystem, Sexualität und Regeneration. Um in diesen Modus zu gelangen, muss das Gemache, also der Akkusativmodus aufhören- Eine Welt, in der wir ständig etwas zu tun haben, in welcher selbst Freizeit[1] zum Stress wird, in der man sich stets in-formieren und auf dem Laufenden sein muss, macht uns sympathikuslastig.
Deshalb sind stressbedingte Erkrankungen in der westlichen ZUVIELisation so dominant, angefangen beim erhöhten Blutdruck bis hin zu Krebs. 

Der Akkusativmodus hat Ziele, er denkt entlang der Linie, er will fort schreiten (und kommt nie an). Der Dativmodus weiß um die Wiederholung, die Wiederkehr, das Zyklische. Er folgt dem „Wohin wir gehen? Immer nach Hause!“ von Novalis.

Auf der sprachlichen Ebene korrespondiert dies mit einem Ge-mache, wo einst Er-fahrung oder Wider-fahrnis stand. Unterschiede ergeben sich in unserer Sprache ebenso wie Sinn. Die verdeutschten Sprachneophyten making a difference oder making sense machen aus einer Erfahrung etwas, das gemacht wird. Sinn also ergibt sich nicht mehr, z.B. aus der Kontemplation, dem Innehalten, dem Verweilen, dem Poetischen, er wird in die Welt des
Her-gestellten verwiesen und geht damit verloren. 

Das ist ein Verlust. Denn die Schönheit, die aus dem Betrachten entstehen und zur inneren Ruhe führen kann, entsteht aus dem Verweilen, nicht aus dem Machen und Tun. Sie ist vagal, nicht sympathisch. Byung-Chul Han nennt diesen inneren Modus ein „Verweilen am Schönen“. 

Die geistige Ökologie der Ökologie des Geistes

Für die Naturvölker der Jungsteinzeit war die Natur be-seelt, sie war durchzogen von Geist. Dies findet sich auch im antiken Denken. Geist und Atem teilen sich ein Wort – spiritus, gr. pneuma. Wer in-spiriert ist, ist zugleich be-atmetund be-geistert.

Zwar finden sich in der antiken Philosophie kategoriale Unterscheidungen von Geist, Seele, Wirkprinzipien und Lebenskraft, aber letztlich ist der antike Kosmos be-atmetbe-seeltdurch-geistigt. Im Gegensatz zu heute hatten die Menschen der europäischen Antike, so Peter Sloterdijk, nicht ihre Gefühle, sondern Gefühle hatten ihre Menschen. Wut, Zorn, Freude, Liebe waren Kräfte, die im Menschen und durch ihn hindurch wirkten; seine Aufgabe war es, diese Kräfte, die sowohl innen als auch außen waren, zu kultivieren.

Ähnliches lässt sich von den Naturvölkern Nordeuropas sagen, den Kelten und Germanen. Weder Kelten noch Germanen kannten Tempel. Ihre heiligen Stätten waren Wälder, heilige Orte und Bäume. Letztlich war die Natur und war alles Tempel, war durchzogen von Heiligem. 

Die sog. Christianisierung, die eigentlich eine Kirchianisierung war (weil sie mit der von Jesus gepredigten Liebe nichts gemein hatte), setzte dem eine Ende. Karl der Große rottete im 8. Jahrhundert durch Mord, Folter und Verschleppung v.a. die naturreligiösen Sachsen aus und bereitete der ursprünglichen Spiritualität und damit einem ganzen Weltbild ein blutiges Ende. Die heiligen Stätten wurden zerstört, es gab Zwangstaufen und Tod für diejenigen, welche die alten Rituale pflegten. Diejenigen, die sich Christen nannten, nutzten die alten Kraftplätze, um ihre Kirchengebäude darauf zu errichten und definierten die keltischen und germanischen Feste als christlich um[2].

Fortan gibt es eine Trennung von Seele/Geist und Natur/Materie. Der Geist wohnt im Gotteshaus und „draußen“ ist die unbeseelte Natur. Erst diese radikale Dichotomie macht Descartes und die mit der Industrialisierung einsetzende Naturzerstörung möglich. Denn das Un-heilige (die Natur) darf ge- und benutzt und rücksichtslos ausgebeutet werden. 

Über Bateson ist zu lesen, er habe sich strikt gegen die Leib/Seele-Dichotomie Descartes gewandt. Betrachtet man aber das Eingangszitat, so findet man mE, dass er zumindest darin die kirchianische und cartesianische Spaltung fortschreibt: er attestiert der Welt der Substanz, dass sie nur (!) Kräfte und Einflüsse aufweise. Allein die Welt der „Form“ und der „Kommunikation“ beinhalte Geistiges (Ideen). 

Was würde ein Kelte oder Germane, für den es keine Dichotomie von Beseeltem und Unbeseeltem gab, darauf antworten? Ich vermute, er würde Batesons Worte garnicht verstehen, sie würden für ihn keinen Sinn ergeben. 

Ich fand Wolfgang Loths fiktiven Dialog von Bateson und Heraklit sehr in-spirierend (https://systemagazin.com/systemagazin-adventskalender-2023-wolfgang-loth/). Denn er gibt dem Batesonschen Denkgebäude eben das, was ihm mE fehlt: Rhythmus, Fluss und Atem. Er stellt damit für meine Begriffe Batesons Denken vom Kopf auf die Füße. 

Im Atmen entsteht Leben. Im Atmen entsteht Rhythmus, das Pulsieren jeder Körperzelle findet im Kosmos seine Entsprechung. Im Atmen entsteht Erkenntnis. Eine von der Sorte, die uns mit der Welt verbindet und uns und die Welt als Einheit erleben lässt. Das ist eine andere Art Erkenntnis als die diskursive. Womöglich die bessere.

So müsste der cartesianische Satz „cogito ergo sum“ eigentlich lauten:
Spiro ergo sum
Ich atme also bin ich


[1] Frei-Zeit? Was ist die andere Seite, die Gefangenen-Zeit?

[2] Die Wintersonnwende wurde zu Weihnachten, Imbolc zu Mariä Lichtmess, Samhain zu Allerheiligen etc.

21. Dezember 2023
von Tom Levold
3 Kommentare

systemagazin 2023 – 21. Wolfram Lutterer

„Unterschiede, die Unterschiede machen…“: Was meinte Bateson eigentlich mit seiner berühmten Chiffre, die – auch wenn oftmals zitiert – sich heute wohl noch ähnlich sperrig liest wie vor fünfzig Jahren?

Nun, auch wenn wir uns heute als in einer „Informationsgesellschaft“ lebend verstehen, uns über zig Medien vielfach „informieren“ und routiniert im Internet nach „Informationen“ suchen, für Bateson wäre all dies haarscharf vorbei an seinem Verständnis von Information und der damit verbundenen Botschaft.

Denn Information liegt nicht einfach nur irgendwo herum oder ist in Büchern und anderen Medien verborgen: Wir sind es, die die Unterscheidungen vornehmen, die etwas als relevant wahrnehmen, auswählen sowie kontextualisieren und demnach Bedeutung zusprechen. Wir sind es, die die Unterschiede ausmachen.

Meine adventliche Botschaft wäre demnach, hinein zu spüren, ob wir nicht selbst ein paar Unterschiede machen und vielleicht auch teilen wollen, um uns vielleicht mit etwas mehr an Mut, Freude, Gelassenheit und Freundlichkeit den Wirrungen des sozialen und ökologischen Alltags zu stellen, anstelle uns von Angst, Verzagen, Verzweiflung oder gar Hass in mentale oder auch politische Ecken drängen zu lassen. Bateson selbst gab übrigens in einem Brief an einen Freund eines Suizidierten einen für mich nach wie vor sehr berührenden Rat:

Was ein Mensch für einen anderen tun kann, ist nicht viel, aber wahrscheinlich hilft es manchmal dem Geholfenen, wenn sich der Helfer im klaren ist, wie wenig Hilfe gegeben werden kann. Etwas zeit­wei­li­ger Schutz vor den kalten Winden einer kran­ken Zivilisation, einige geteilte Tränen und Lachen, das ist alles. (Bateson, Coun­sel for a Suicide’s Friend)

20. Dezember 2023
von Tom Levold
7 Kommentare

systemagazin Adventskalender 2023 – 20. Arist von Schlippe

Mikroskopische Unterschiede

Es ist März 2023, eine der letzten Prüfungen zu meiner Lehrveranstaltung „Konflikt und Konfliktmanagement“. Ein Student besteht sie mit einer einigermaßen akzeptablen Note, die ihm im Nachgespräch mitgeteilt wird. „Jetzt zum Schluss,“ sagt er, „möchte ich Ihnen aber doch noch ein Feedback zu Ihrem Buch[1] geben!“ – „Ja, gern!“, ich bin gespannt. „Sie haben dort zweimal das Wort ‚Farbiger‘ erwähnt! Das ist nicht in Ordnung!“ – „Oh,“ sage ich etwas verwirrt, ich kann mich auch gar nicht daran erinnern, dass das Thema kultureller Differenzen im Buch einen größeren Raum eingenommen hat, „was ist denn da das Problem?“ – „Nun,“ antwortet er, „ich habe zum Beispiel schwarze Freunde, die sagen: ‚Warum nennt Ihr uns farbig, wir sind doch nicht farbig, wir sind schwarz!‘“ – „Ach so,“ antworte ich, „dann sollte man also richtigerweise ‚Schwarze ’schreiben? Aber das würde dann doch wieder eine ganze Reihe anderer Gruppen ausgrenzen, die mit dem Wort ‚farbig‘ bezeichnet sind.“ – „Genau, ‚Schwarze‘ geht auch nicht!“

Ich bin verwirrt, es ist mir wichtig und ich bemühe mich auch, so zu schreiben, dass keine Gruppe von Menschen mit entwertenden Begriffen belegt wird, ich gebe aber zu, manchmal auch überfordert und genervt zu sein von den Feinheiten, die da zu beachten sind. Immer wieder bin ich auch erstaunt und frage mich, wie es eigentlich kommt, dass heute so laut, zum Teil auch so aggressiv Mikrounterscheidungen eingefordert werden, wo wir doch in einer Kultur leben, in der es so viele Möglichkeiten gibt wie wohl nie zuvor, sich individuell für Lebensentwürfe zu entscheiden. Im Vergleich zu früheren Stadien unserer Gesellschaft versperren Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung o.ä. in viel geringerem Maß die Entscheidung für Lebenswege. Dass es genug Baustellen gibt, an denen noch zu arbeiten ist, ist mir natürlich bewusst, aber die sind ja auch intensiv Thema in der gesellschaftlichen Debatte, und ich bin mir ziemlich sicher: sie werden nicht durch eine immer feinere Wortwahl korrigiert. Wie viele Möglichkeiten gibt es heute, „Fehler“ der politischen Korrektheit zu machen! Offenbar habe ich jetzt gerade solch ein Fettnäpfchen erwischt.

„Was würden Sie denn vorschlagen?“ – „Sie sollten schreiben: ‚PoC‘!“ – „Hmmm, aber das heißt doch ‚People of colour‘, oder?“ – „Ja, genau!“ – „Ist das dann nicht dasselbe wie ‚Farbiger‘?“ – „Nein, PoC ist der Terminus, der korrekte Begriff!“

Plötzlich fühle ich mich alt. Zu Hause schaue ich nach: an zwei Stellen taucht das Wort auf, jeweils mit einem Verweis auf andere Literatur verbunden. Einfacher macht es das nicht. Die Geschichte lässt mich nicht los, bis heute.


[1] Es war Grundlage der Veranstaltung: Schlippe, A.v. (2022). Das Karussell der Empörung. Konflikteskalation verstehen und begrenzen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

19. Dezember 2023
von Tom Levold
5 Kommentare

systemagazin Adventskalender 2023 – 19. Kurt Ludewig

Apropos Unterschied Patriotismus/Nationalismus

neben den alltäglichen Unterschieden, die es uns bekanntlich ermöglichen, am Leben zu bleiben, habe ich in meinem mittlerweile recht langen Leben einige mich prägende oder zumindest verunsichernde Situationen erlebt, weil sie einen Unterschied zum Üblichen und Bisherigen machten. Heute wähle ich zum Thema des diesjährigen Adventskalenders davon die Folgende:

Sie geschah, als ich Anfang der 1960er Jahre für zwei Jahre in Los Angeles, Kalifornien, lebte. Als junger eingewanderter Chilene schloss ich mich einer Gruppe von ebenfalls eingewanderten jungen Menschen an, die aus England, Argentinien und aus dem Westen des damals geteilten Deutschlands stammten.

Neben den vielen Aktivitäten, denen junge Menschen üblicherweise miteinander nachgehen, nahmen einige unter uns, die Liebhaber der klassischen Musik waren, das Angebot des malerisch gelegenen Amphitheaters Hollywood Bowl an und besuchten dort gemeinsam die sommerlichen open air Konzertabende. Es spielte die Los Angeles Philharmonic Orchestra unter dem damals noch jungen indischen Dirigenten Zubin Mehta.

An einem dieser Abende spielte das Orchester zu Anfang – wie in USA üblich bei allen möglichen Veranstaltungen – die US-amerikanische Nationalhymne. Wer die USA bereist hat, wird sicherlich wahrgenommen haben, wie dort die Zuneigung zum eigenen Land offenbar etwa durch Aufstellen der Nationalflagge vor dem Haus ausgedrückt wird, und zwar nicht nur an besonderen nationalen Feiertagen, sondern durchgängig. Kaum ein Football-Spiel oder ein Rodeo beginnt ohne das Vorspielen der Nationalhymne. Vermutlich verstärkt diese als patriotisch bedachte Sitte das Gefühl von Zugehörigkeit, vor allem in den Ländern der sog. Neuen Welt, die zu einem wichtigen Teil von Einwanderern aus unterschiedlichen Kulturen bevölkert wurden. Dies gilt auch für mein Heimatland Chile. Auch dort ist ein patriotisches Gefühl ein wichtiges verbindendes Element der gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit. Daran aus eigenen Erfahrungen gewöhnt, erhob mich geradezu automatisch, als die Nationalhymne der USA angestimmt wurde. Gleiches tat ein Großteil der vielen Besucher des Hollywood Bowls.

Bei einem zufälligen Blick zur Seite erkannte ich aber, dass eine aus unserer Gruppe entgegen allen Gepflogenheiten als einzige sitzen geblieben war. Es war Helga, eine junge Bremerin, die nach den USA ausgewandert war und in Los Angeles als Angestellte arbeitete. Ich konnte ebenfalls feststellen, dass einige der Anwesenden sich zu ihr hindrehten und sie anschauten. In einer ersten Einschätzung fand ich diesen Unterschied im Vergleich zu allem anderen um sie herum als schlicht ungehörig und als Zeichen von Respektlosigkeit.

Dieses Verhalten, das für mich einen verstörenden Unterschied ausmachte, war so außerhalb des Erwartbaren, dass ich mich nicht einmal getraut habe, sie nach dem Grund zu fragen. Statt dessen fragte ich ihre Freundin, mit der sie eine Wohnung teilte. Die Erklärung, die ich bekam, war irgendwie einleuchtend und dennoch verunsichernd: Sie stamme aus Deutschland, wo sie in ihrer Kindheit nach dem Weltkrieg gelernt habe, alles Nationalistische abzulehnen oder zu umgehen.

Statt meine Neugier zu befriedigen, löste diese Erklärung in mir eine Reihe von Fragen aus, die mich aus dem wohligen Nest des ungefragt Selbstverständlichen herausstieß. Hatte sie Recht und deshalb auch die Courage, derart öffentlich gegen den Strom zu schwimmen? War jede Form patriotischer Ergebenheit ein Ausdruck von verinnerlichtem Nationalismus, der sich bei passendem Ansporn als solcher entlarven und Schlimmes ausrichten könnte? War ich eben im Recht, als ich unbedacht die Elemente des Nationalen respektierte? Oder war sie im Recht, wenn sie dieses Ganze ignorierte? Ganz sicher bin ich mir heute nicht, wie ich auf diese Fragen mit einem überzeugten Gefühl antworten sollte. Auf der Suche nach innerer Klarheit habe ich sogar beim nächsten Konzert versucht, während der Nationalhymne sitzen zu bleiben, hielt aber die fragenden bis bösen Blicke meiner Umgebung nicht stand und erhob mich.

Wie einfach es ist, im sanften Strom des Selbstverständlichen zu schwimmen, wie schwierig es wiederum ist, sich dagegen aufzulehnen und in der eigens gewählten Richtung zu schwimmen, besonders dann, wenn man sich dabei sozial isoliert.

Helgas Sitzenbleiben hat einen Unterschied erzeugt, der meinen bis dahin unbelasteten, fast niedlichen Patriotismus dauerhaft erschütterte und mir die kniffliche Frage auferlegte zu prüfen, wie sehr in mir ein Nationalismus schlummerte, der nicht nur die patriotische Liebe zum Eigenen, sondern auch die Ablehnung und Abwertung des Anderen beinhaltet.

Insofern war dies also ein Unterschied, der einen bedeutsamen Unterschied ausmachte!