Von der Lektüre des Klassikers The system of professions (Chicago University Press 1988) von Andrew Abbotts angeregt, hat Barbara Kuchler, Soziologin am Institut für Soziologie der Universität München, systemische Therapeutin, Bloggerin und Mitherausgeberin des Kontext einen Text für systemagazin verfasst, in dem sie sich mit den Gefahren von Professionalisierungs- und Professionsbildungsprozessen auseinandersetzt, eine Frage, die sich auch auf die Entwicklung des systemischen Ansatzes und seine Vertreter beziehen lässt.
Barbara Kuchler, München: Professionen und wie sie sich zugrunde richten
Wie Professionen sich entwickeln, ist eine spannende Frage, und die Professionssoziologie hat dazu Interessantes zu berichten. Als jemand, der ein Neuling in der Systemikprofession ist, bisher in der Soziologie zu Hause war und sich gerade durch die Professionssoziologie liest, berichte ich hier ein paar Highlights.
Professionen haben nicht nur ein komplexes Wissen, sondern sie müssen sich auch in einer komplexen gesellschaftlichen Umwelt positionieren. Ihr Platz in der Welt ist ihnen nicht göttlicherseits zugewiesen, sie müssen ihn selbst definieren und erobern und oftmals verteidigen. Sie können dabei erfolgreicher oder weniger erfolgreich sein, und nicht immer ist am Anfang absehbar, was die Konsequenzen einer bestimmten Strategie und Selbstpositionierung sein werden. Hier zunächst drei Möglichkeiten, wie eine Profession, langfristig gesehen, sich zugrunde richten oder sich selbst schaden kann.
Am 29. August dieses Jahres ist Joseph Rieforth im jungen Alter von 65 Jahren gestorben. Seine langjährige Kollegin von der Universität Oldenburg hat für systemagazin einen Nachruf verfasst:
Astrid Beermann, Oldenburg
Am 29. August dieses Jahres ist Joseph Rieforth mit nur 65 Jahren verstorben – ein einfühlsamer Mensch und hochkompetente Fach- und Führungskraft mit herausragender Expertise, der sehr fehlen wird.
1959 im Ruhrgebiet geboren und aufgewachsen, studierte Joseph Rieforth Psychologie in Münster, Wien und Oldenburg. Als wissenschaftlicher Leiter mehrerer Kontaktstudien im Bereich Therapie und Beratung sowie der Ausbildungsstätten und Hochschulambulanzen für Psychologische Psychotherapie und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an der Universität Oldenburg leistete er über vier Jahrzehnte viel Aufbaubauarbeit und etablierte unterschiedliche berufsbegleitende Aus- und Weiterbildungsangebote im universitären Kontext.
Für Joseph Rieforth war der Beruf auch immer Berufung und er übte ihn mit Leidenschaft und Begeisterung aus. Als Tiefenpsychologe und Systemischer Therapeut ließ er diese beiden Richtungen im Sinne eines psychodynamisch-systemischen Modells miteinander verschmelzen. In seiner letzten Veröffentlichung (2020) „Wunschkompetenz. Von der Fähigkeit, das eigene Leben sinnvoll zu gestalten“ verdichtete er seine über die Zeit erworbenen Erkenntnisse und Erfahrungen.
Joseph Rieforth blieb selbst immer auch ein Lernender, ein in besonderem Maße interessierter, kreativer Mensch, der stets neue Impulse aus unterschiedlichen Disziplinen aufnahm und in seine Arbeit integrierte. Mit seinem Profil und seiner einfühlsamen Persönlichkeit als Therapeut, Berater und Lehrer bereicherte er viele Menschen und Organisationen und unterstützte ihre Ideen, Entwicklungswünsche oder Projekte. Es war ihm stets wichtig, eine warmherzige Atmosphäre zu schaffen und gute Arbeitsbündnisse herzustellen, um hilfreiche Bedingungen für entwicklungs- und veränderungswirksame Prozesse zu gewährleisten. Ihm gelang es in besonderer Weise, Menschen in ihrer Entwicklung zu stärken, ihre Potenziale zu wecken, Verbindungen zwischen ihnen herzustellen, abgebrochene Brücken zu erneuern oder neue zu bauen.
Joseph Rieforth lehrte an zahlreichen Universitäten, Hochschulen und Instituten im In- und Ausland und war dort immer ein gern gesehener Gastdozent.
Er war sehr offen dafür, ihm sinnvoll erscheinende fach- und berufspolitische Interessen zu unterstützen. 2003 wurde er als Mitglied der Sachverständigenkommission für Psychologische Psychotherapie am Institut für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) in Mainz berufen. Seit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) war er in diesem Fachverband aktiv, prägte jahrelang als Sprecher die DGSF-Fachgruppen Hochschulen und Mediation, veranstaltete 2005 und 2018 zweimal die wissenschaftliche Jahrestagung der DGSF und engagierte sich im noch jungen Verbund für Systemische Psychotherapie (VfSP). Ebenso wirkte er in der Deutschen Fachgesellschaft für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (DfT) mit und arbeitete zudem mit Verbänden, Arbeitsgemeinschaften und Beiräten im Handlungsfeld Supervision, Coaching und Mediation zusammen.
Immer wieder bot Joseph Rieforth mit wissenschaftlichen Fachtagungen, Symposien und Kongressen an der Universität Oldenburg einen zugleich inhaltlich hochwertigen wie sinnlich ansprechenden Rahmen für neue Inhalte, Diskurse und Vernetzung sowie Gelegenheiten des Wiedersehens und in Verbindung-Bleibens.
Nun ist Joseph Rieforth am 29. August verstorben. Am 7. November dieses Jahres wollte er bei einem Festakt anlässlich des 40jährigen Jubiläums der entwickelten Aus- und Weiterbildungsangebote unter dem Motto „Beziehung über Qualität und Zeit gestalten“ die Eröffnungsrede halten, mit uns sein Lebenswerk feiern und sich allmählich in den Ruhestand verabschieden. Nun wird dieser Tag an der Universität Oldenburg ihm zu Ehren und ihn gedenkend gestaltet.
Mit Joseph Rieforth haben wir einen ganz besonderen Kollegen verloren, der mit seiner warmherzigen und zugewandten Art eine große Bereicherung war, uns auf vielfältige Weise geprägt hat und der uns als Freund sowie Fachkollege in guter Erinnerung bleiben wird.
Heute würde Lynn Hoffman (10.9.1924 – 21.12.2017) ihren 100. Geburtstag feiern, ein Grund, an diese wunderbare Pionierin der systemischen Therapie zu erinnern. Im systemagazin ist schon einiges zu ihr veröffentlicht worden, s. hier oder hier. In Heft 4/1985 der Zeitschrift Family Systems Medicine hat sie ihren eigenen therapeutischen Weg von der Begegnung mit der Palo Alto-Gruppe um Don Jackson über die Beschäftigung mit Gregory Bateson, Humberto Maturana und Francisco Varela, die Abgrenzung von strategischen Konzepten etwa von Jay Haley und den frühen Arbeiten der Mailänder Gruppe hin zur Kybernetik 2. Ordnung beschrieben, der Artikel ist auch heute noch sehr lesenswert.
Neun Autorinnen und Autoren behandeln die „dunkle Seite“ der Kommunikation, die Opfer, Zeugen und Täter zum Schweigen bringt: Frauen, religiöse Häretiker, begabte Kinder, Opfer von Rassismus, psychoanalytische Dissidenten und Psychiatriepatienten, Einzelpersonen und Gruppen, völlig Fremde und Familienmitglieder sowie das eigene Ich. All diese Formen des Schweigens werden mit Hilfe von Literatur, Geschichtsschreibung, Interviews, Archivrecherchen sowie psychoanalytischer und familientherapeutischer Forschung analysiert.
Die sehr geschätzte Kollegin aus Wien, Evelyn Niel-Dolzer, die dem systemagazin-Publikum schon durch andere Beiträge (hier und hier) bekannt geworden ist, hat dieses Buch, dessen primäre Zielgruppe die psychoanalytische Community ist, als systemische Familientherapeutin für systemagazin gelesen und ist begeistert:
WIESBADEN – Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Deutschland hat im Jahr 2023 einen neuen Höchststand erreicht: Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) mitteilt, stellten die Jugendämter bei mindestens 63 700 Kindern oder Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt fest. Das waren rund 1 400 Fälle oder 2 % mehr als im Jahr zuvor. Da einige Jugendämter für das Jahr 2023 keine Daten melden konnten, ist aber sicher, dass der tatsächliche Anstieg noch deutlich höher ausfiel: Werden für die fehlenden Meldungen im Jahr 2023 die Ergebnisse aus dem Vorjahr hinzugeschätzt (+3 300 Fälle), liegt der Anstieg der Kindeswohlgefährdungen gegenüber dem Vorjahr bei 4 700 Fällen oder 7,6 %. Wird zusätzlich der allgemeine Anstieg berücksichtigt, erhöht sich das Plus sogar auf rund 5 000 Fälle beziehungsweise 8,0 %. Nach dieser Schätzung läge die Gesamtzahl im Jahr 2023 bei 67 300 Fällen. Neben Fehlern bei der Datenerfassung und dem Cyberangriff auf einen IT-Dienstleister wurde als Grund für die fehlenden Meldungen im Jahr 2023 auch die Überlastung des Personals im Jugendamt genannt.
Der langfristige Anstieg der Zahl behördlich festgestellter Kindeswohlgefährdungen setzte sich damit auch 2023 fort. Mit Ausnahme des Jahres 2017 und des Corona-Jahres 2021 nahmen die Fallzahlen seit Einführung der Statistik im Jahr 2012 stets zu. Am höchsten waren die Anstiege von 2018 bis 2020 mit jeweils 9 % bis 10 % mehr Fällen als im Vorjahr. Gründe für diese Entwicklung können – neben einer tatsächlichen Zunahme der Gefährdungsfälle – auch eine höhere Sensibilität und Anzeigebereitschaft der Öffentlichkeit und Behörden beim Thema Kinderschutz sein.
Das aktuelle Heft von Organisationsberatung, Supervision, Coaching setzt sich mit einem Thema auseinander, dem schon in 2022 und 2023 Themenhefte der Zeitschrift gewidmet waren – ein Zeichen für die Dringlichkeit der Befassung auch auf Seiten der Berater, Coaches und Supervisoren. Im Editorial schreiben Silja Kotte und Thomas Webers: „Digitalisierung hat sich in Organisationen zum Dauerthema entwickelt. Schon mehrfach hat diese Zeitschrift sich mit den Auswirkungen beschäftigt. Das OSC-Heft 4/2022 hat die Auswirkungen der Digitalisierung auf virtuelles Arbeiten und Führung auf Distanz beleuchtet. „Digitalisierung in der Beratung“ lautete der Titel des OSC-Hefts 1/2023. Das aktuelle Themenheft „Digitale Transformation in Organisationen“ nimmt eine breitere organisationale Perspektive ein: Wie transformiert Digitalisierung Organisationen? Wie gestalten Organisationen die damit verbundenen Change-Prozesse? Welche neuen Formen der Kooperation bilden sich dadurch heraus? Wie kann digitale Arbeit gut gestaltet werden?
Digitalisierung ist ein Querschnittsthema, das alle Funktionsbereiche und Prozesse in Organisationen grundsätzlich transformiert – von der Produktion bis zum Controlling, von den Kern- bis zu den Unterstützungsprozessen. Auch das neuerdings People- statt HR- genannte Management und die Beratung sind davon nicht ausgenommen (Strohmeier 2022): Von der Personalauswahl über die Arbeitsgestaltung, die Zusammenarbeit in Organisationen, Führung, Personalentwicklung und -beurteilung bis hin zur Organisationsentwicklung – alle Bereiche sind von der Digitalisierung betroffen.
Organisationen müssen sich mit den technologischen Entwicklungen auseinandersetzen und sich positionieren. Sie sehen sich derzeit vielen Ideen und Initiativen gegenüber, von denen nicht immer absehbar ist, ob sie sich als nützlich herausstellen und einen Mehrwert generieren können. Neuen Möglichkeiten stehen auch Skepsis und Vorbehalte gegenüber. Nicht alles, was (technisch) machbar erscheint, ist auf den zweiten Blick betrachtet sinnvoll – und findet auch nicht immer Akzeptanz. Nicht zuletzt stehen Fragen des Datenschutzes und der Ethik auf der Agenda, die nicht immer angemessen beantwortet werden. Organisationen gehen diese Transformation mehr oder weniger strategisch an: Sie entwickeln Digitalisierungsstrategien, setzen zentrale Stabsstellen oder cross-funktionale Teams ein, die diese umsetzen sollen, und schreiben Stellen wie „Digital Transformation Manager“ oder „Digital Transformation Specialist“ aus, für die ein unternehmerisches Verständnis der Zusammenhänge zwischen Business, IT und Digitalisierung sowie Erfahrung in der Umsetzung von Transformationsprojekten gefordert wird.“
In einem sehr lesenswerten Beitrag, der als Open-Access-Artikel im Psychotherapie Forum erschienen ist, beschäftigt sich Elisabeth Wagner aus Wien mit der Relevanz systemtheoretischer Theorien für die klinische Praxis. Im Abstract heißt es: „Die enorme Binnendifferenzierung der Systemischen Therapie bietet zwar eine nützliche Vielfalt an Interventionsmöglichkeiten, führt auf der theoretischen Ebene jedoch zu Unvereinbarkeiten und Widersprüchen. Dies erschwert nicht nur die Vermittlung der systemtheoretischen Grundlagen in der Ausbildung sondern auch eine verlässliche theoretische Fundierung des professionellen Handelns von Praktiker:innen. Nach einer grundsätzlichen Diskussion des Theorie-Praxisverhältnisses in der Psychotherapie, soll in diesem Beitrag dargelegt werden, wie eine konstruktivistische Grundhaltung die absichtsvolle und reflektierte Nutzung verschiedener Systemtheorien erlaubt. Dabei werden die soziologische Systemtheorie sensu Luhmann und die Synergetik in Hinblick auf ihr Auflösungsvermögen und die Passung für verschiedene Phänomenbereiche gegenübergestellt und Anforderungen an eine klinische Theorie der systemischen Therapie definiert.“
Am 14. August ist der Physiker und Begründer der Synergetik Hermann Haken im Alter von 97 Jahren verstorben. Die Synergetik ist die Lehre vom Zusammenwirken von Elementen innerhalb komplexer dynamischer, nicht-linearer Systeme und befasst sich mit der spontanen Bildung synergetischer Strukturen in diesen Systemen (Selbstorganisation). Ursprünglich im Bereich physikalischer Phänomene entwickelt, zeigte sich, dass die zentralen theoretischen Konzepte wie das Prinzip der Ordnungsparameter, das Versklavungsprinzip und die Theorie der Phasenübergänge auch auf Phänomene in der Chemie, Biologie, Psychologie und Soziologie angewendet werden konnten. Die Arbeit Hermann Hakens spielte auch in der Entwicklung des systemischen Ansatzes eine wichtige Rolle und wurde vor allem durch die Arbeiten von Günter Schiepek und Jürgen Kriz für die therapeutische und beraterische Arbeit fruchtbar gemacht.
Jürgen Kriz hat folgenden Nachruf auf Hermann Haken für das systemagazin und die Website der DGSF verfasst.
Heute würde Daniel N. Stern (16.8.1934 – 12.11.2012) 90 Jahre alt. Er war einer der führenden Säuglingsforscher des vergangenen Jahrhunderts, der die Ergebnisse seiner empirischen Untersuchungen in vielen Veröffentlichungen auf beeindruckende Weise in therapietheoretische und -praktische Modelle überführte. Auf der Website des John Bowlby-Centre ist eine Fallgeschichte von ihm zu finden, in der er beispielhaft zeigt, was er unter einem „Gegenwartsmoment“ versteht, und die erstmals im Band „Attachment: New Directions in Psychotherapy and Relational Psychoanalysis – Vol. 1 No.1” (Karnac) erschienen ist.
Darin heißt es: „This kind of moment is what the Boston Change Process Study Group calls a ‘now moment’. (…). It is a moment of Kairos when, all at once, many things come together and come to crisis in the therapeutic relationship. In that short time window if you act, you can change the destiny of what will happen. And if you don’t act, the destiny will be changed anyway because you didn’t act. Kairos is the ‘moment of opportunity’, like a ‘moment of truth’ or a ‘decisive moment’. Such ‘now moments’ cause much anxiety in the therapist, who is not sure what to do, and there is not an appropriate technical fall back position that is acceptable, clinically and perhaps morally. Therapist and patient both sense that something momentous is happening, that the ongoing therapeutic relationship has been threatened and put at risk. Also hanging in the air is the therapeutic framework or at least the traditional, personal way the patient and therapist have been working together, up until now. Such moments demand an alteration in the intersubjective field between the two. It is not important whether one wants to put this in terms of the transference–countertransference momentary stance. It is a two-person event involving a potentially perturbing change in the intersubjective field of the total relationship, transferential and real.“
Im Dezember findet an den Sigmund Freud-Privat-Universität Wien eine dreitägige Tagung über unterschiedliche Konzepte des Familienliebens sowie über psychotherapeutische Ansätze für verschiedene Familienthemen statt. Dabei werden herkömmliche Vorstellungen über Familie und leitende familientherapeutische Theorien, die meist auf ein Familienkonzept gründen, das seine Hochphase in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg hatte und den damals vorherrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entsprach, auf ihre Brauchbarkeit für die Herausforderungen familiären Zusammenseins in der Gegenwart überdacht. Vortragende aus Italien, Slowenien, Kroatien, Deutschland, Österreich, aber auch aus Israel, China und Iran geben einen Einblick in ihre unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Perspektiven auf das Thema. Das detaillierte Programm und Anmeldungsmöglichkeit ist hier zu finden …
„Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es“! So wenig diese Einsicht des großen Erich Kästner heute, beinahe 100 Jahre später, an Glanz verloren hat, so sehr muss sie doch um das psychologische und soziologische Wissen darum ergänzt werden, dass gutem Handeln ganz unterschiedliche Motive zu Grunde liegen können. Wer anderen seine moralische Integrität handelnd zur Schau stellt, dem werden beträchtliche Achtungsgewinne zu Teil, die gerade unter dem Gesichtspunkt von Nutzenmaximierung eine üppige Dividende abwerfen können. Denn nicht nur die Mafia, sondern alle sozialen Gemeinschaften belohnen das Handeln einzelner, wenn es von Eigeninteressen absieht und sich in den Dienst der Gruppe stellt mit einem der höchsten Güter, die uns erstrebenswert erscheinen: sozialer Anerkennung. Der Soziologe Peter M. Blau argumentiert deswegen, dass noch scheinbar selbstlose Handlungen in der Regel auf Eigeninteresse basieren und durch die Erwartung indirekter Belohnungen motiviert werden. Die Warnung vor Moral aus ethischen Gründen ist zudem ein alter systemtheoretischer Topos. Und ohnehin betrifft alles, was wir den Tag über so tun, uns selbst und zahlreiche andere auf mannigfaltige und höchst unterschiedliche, gute wie schlechte Weisen. Von dieser (konstruktivistischen) Warte aus ist also schon eine prinzipielle Skepsis geboten – wenn Gutes reklamiert wird, gerade wenn es sich als Handlung der praktischen Überprüfung entzieht.
Letzteres wird in Zeiten der Social Media-Echtzeitkommunikation zunehmend einfacher für Menschen, die es bloß auf Achtungsgewinne abgesehen haben. Gerade sie werden daran interessiert sein, die Preise zu senken und die Achtung günstiger für sich zu gewinnen: Durch bloßes Zurschaustellen des eigenen Feinsinns in moralischen Belangen etwa, ganz ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Ohnedies halten wir alle von uns selbst gerade unter dem Gesichtspunkt unserer Sittenhaftigkeit eine Menge. Noch Gewaltverbrecher, das wissen wir aus der psychologischen Forschung, halten sich im Allgemeinen für moralisch besonders achtenswert. Sie beurteilen sich in allen pro-sozialen Eigenschaften vorbildlich, lediglich in Punkto Rechtstreue als Durchschnitt.
Zu den wichtigen Lektüreerfahrungen dieses Sommers gehört für mich das Buch „Ideologiemaschinen. Wie Cancel Culture funktioniert“ von Harry Lehmann, das kürzlich im Carl-Auer-Verlag erschienen ist. Es handelt sich um einen Sonderband aus der Reihe update gesellschaft, die Essays über relevante zeitgenössische Diskurse und Konfliktlagen bereit hält. Harry Lehmann, 1965 in Dohna bei Dresden geboren, ist Physiker und Kunstphilosoph, der 2003 mit einer systemtheoretischen Arbeit zur Wahrheit der Kunst promovierte.
Das vorliegende Buch untersucht das sich auch hierzulande ausbreitende Phänomen der Cancel Culture in Hinblick auf die Frage, welche Konsequenzen das Cancel-Culture-Syndrom – „worunter wir den ganzen Komplex aus cancel culture, wokeness, victimhood culture, safetyism und identity politics verstehen“ (S. 7) für die Verfasstheit unserer Gesellschaft hat. Seine These ist, dass „infolge der digitalen Medienrevolution … die Institutionen in liberalen Demokratien die Fähigkeit [verlieren], eine Grenze zwischen politischer und nichtpolitischer Kommunikation zu ziehen, was zu erheblichen Dysfunktionalitäten führt“ (ebd.). Das lässt sich derzeit paradigmatisch an den Funktionssystemen der Wissenschaft und der Kunst zeigen, deren Institutionen leider zunehmend „anstelle von Wissen, Bildung und Kunst Ideologie produzieren: Sie verwandeln sich in Ideologiemaschinen“ (S. 8).
Vorbemerkung: Dieser Text ist ziemlich umfangreich. Er betrifft die Fragen des Spielraums, den inhaltliche Kontroversen in einem Fachverband wie der DGSF und ihrer Zeitschrift Kontext – Zeitschrift für systemische Perspektiven haben sollten, wieviel Polemik dabei statthaft und wie mit Forderungen nach einer Zensur von unliebsamen Beiträgen umzugehen ist: ein Thema, das auch für das systemische Feld im allgemeinen von Relevanz sein dürfte.
Wer die vorletzte Ausgabe des Kontext aufmerksam gelesen hat, ist am Ende des Editorials auf einen Absatz gestoßen, der sich auf eine Kontroverse bezieht, die um die Rezension eines Buches des Soziologen Martin Schröder „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“ durch einen der Herausgeber in Heft 3/2023 entstanden ist und in deren Rahmen der DGSF-Vorstand, der Wissenschaftliche Beirat des Kontext (dem ich seit meinem Ausscheiden als Herausgeber anzugehören die Ehre habe) sowie der Ethikbeirat der DGSF zu Stellungnahmen aufgefordert wurde. Dort wurde darauf hingewiesen, dass die Dokumentation dieser Kontroverse (die durch eine sogenannte „Replik“ auf die Rezension durch einige Mitglieder in Gang gebracht wurde) mit allen dazu eingegangenen Stellungnahmen der Verbandsöffentlichkeit auf der DGSG-Webseite zugänglich gemacht würde.
Erst einige Zeit später wurde diese Dokumentation im Mitgliederbereich der DGSF-Webseite veröffentlich, doch so kunstvoll versteckt, dass jemand, der nicht in diese Kontroverse einbezogen worden ist, wohl nur durch einen Zufall auf die Seite stoßen kann. Leider sind die Texte der „Replikgruppe“ in dieser Dokumentation aus Gründen vollständig geschwärzt, auf die noch zurückzukommen sein wird. Das ist bedauerlich, denn die Art und Weise, wie diese Auseinandersetzung geführt wurde, und vor allem die darin erhobenen Forderungen an den Verband, die auf die Beschneidung der Unabhängigkeit der Herausgeber sowie auf die inhaltliche Kontrolle der veröffentlichten Texte abzielen, sind nicht nur relevant für die DGSF mit immerhin 10.000 Mitgliedern, sondern dürften auch von Interesse für die gesamte systemische Community sein.