Das Thema Covid-19 hat Sprengkraft nicht nur in öffentlichen, sondern auch in privaten und professionellen Beziehungen. Bei letzteren etwa, wenn Handlungs- oder Unterlassungsaufforderungen oder -präferenzen in die eigentlich für andere Themen bestimmte Kommunikation einfließen oder gar einbrechen. Ein aktueller Artikel von Brigitte Schigl, Sabine Klar. Ulrich Kobbé, Karin Macke und Ekkehard Tenschert, der als open access im Psychotherapie Forum unter dem Titel Ebenen therapeutischer Verantwortung – multiple Perspektiven in einer komplexen Welt verfügbar ist, geht es genau darum und um die Frage, welche gesellschaftliche und beziehungsgestaltende Verantwortung von Therapeutinnen und Therapeuten damit aufgerufen wird. Im abstract heißt es: „Der Text thematisiert Dimensionen des Handelns von Psychotherapeut_innen entlang einer Fallvignette, in der ein in den Praxisräumen ausgehängter Aufruf zur Covid-Impfung einen Abbruch der Psychotherapie durch die Patient_in auslöste. Dabei werden verschiedene Ebenen der Verantwortung von Psychotherapeut_innen aufgezeigt: Handeln auf individueller Ebene im Kontakt mit den Patient_innen, Handeln auf gesellschaftlicher Ebene – bzw. deren Einbezug in therapeutische Überlegungen. Schließlich auch daraus erwachsende Aspekte für die Ausbildung von Psychotherapeut_innen. Im Aufzeigen dieser unterschiedlichen Perspektiven sollen die Komplexität und Pluralität psychotherapeutischer Handlungsfelder und Ansätze sichtbar gemacht werden.“ Der vollständige Text kann hier gelesen werden…
„Sexualität findet auch im Kopf statt. Sexuelle Fantasien als mentale Repräsentationen sexueller Wünsche und Befürchtungen spielen eine große Rolle dabei, ob Sexualität zu einem Quell der Freude oder in unglücklichen Fällen zu einem Quell des Leides werden kann. Daher lohnt es, sexuelle Fantasien wohlwollend zu erkunden – allein, zu zweit oder mit der Hilfe einer Paartherapeutin. »Keine Angst vor Fantasien« – das ist die Grundhaltung dieses Buchs“, schreibt Jochen Schweitzer in seinem Vorwort zu einem schmalen, aber gewichtigen Buch von Angelika Eck, systemische Paar- und Sexualtherapeutin aus Heidelberg, das in der Reihe Lieben.Leben.Arbeiten im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht schon 2020 erschienen ist. Markus Bomhard hat das Buch rezensiert und hält es für eine „gelungene Ermutigung, in der systemischen Arbeit dem erotischen inneren Bildermalen nicht auszuweichen, sondern es als wertvolle Ressource im therapeutischen Prozess und als Möglichkeit der Selbstreflexion und Selbsterfahrung zu entdecken“. Seine Besprechung können Sie hier lesen:
Heute feiert Arnold Retzer seinen 70. Geburtstag und systemagazin gratuliert ganz herzlich!
Nach seinem Studium der Medizin, Psychologie und Soziologie arbeitete Arnold Retzer ab 1987 am Universitätsklinikum der Universität Heidelberg bis zum Jahr 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als leitender Oberarzt in der Abteilung für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie, nach der Emeritierung von Helm Stierlin leitete er die Abteilung kommissarisch für zwei Jahre. 1988 wurde er mit einer Dissertation über Interaktionsphänomene im systemischen Familien-Erstgespräch an der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg zum Dr. med. promoviert. Über seine Beschäftigung mit dem Zusammenhang von Familieninteraktion und Psychopathologie bei schizophrenen, schizoaffektiven und manisch-depressiven Psychosen hat er zu vielen Themen aus systemischer Perspektive Veröffentlichungen vorgelegt, vor allem zum Thema Paartherapie und Paarbeziehungen. Auf seiner Website ist ein Interview der Zeitschrift Psychologie Heute von 2016 zu finden, in dem er zu seiner Perspektive auf Paarprobleme und ihre Bearbeitung Stellung nimmt.
Als Publizist war er von 1996 bis 2005 Mitherausgeber der Zeitschrift Familiendynamik. Bundesweit über die Therapieszene hinaus wurde er mit einem Buch über „Miese Stimmung“ bekannt, einer „Streitschrift gegen positives Denken“, in der er ein Plädoyer gegen das gegenwärtige Diktat der Selbstoptimierung hält. Auf einer Veranstaltung in der Wiener Arbeiterkammer (s. Video) erklärt er im Gespräch mit Franz Köb, wie sich Zeitgeist, Kultur, Weltverständnis, Lebensentwurf und schlechte Stimmung wechselseitig bedingen.
Lieber Arnold,
zum runden Geburtstag wünsche ich dir mit anderen Kolleginnen und Kollegen alles Gute, Gesundheit und Lebensfreude – und uns weiterhin viele scharfsinnige Impulse und Gedanken, die unsere Diskurse bereichern mögen.
WIESBADEN – In Deutschland waren im Jahr 2020 Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes im Durchschnitt 30,2 Jahre alt. Zehn Jahre zuvor lag das Durchschnittsalter noch bei 29,0 Jahren, wie das Statistische Bundesamt aus Anlass des Muttertages am 8. Mai mitteilt. Das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden ist in den vergangenen zehn Jahren fast durchgehend gestiegen.
Im Jahr 2020 kamen in Deutschland rund 360 000 Erstgeborene auf die Welt. Davon hatten 0,8 % (2 900) eine Mutter, die jünger als 18 Jahre alt war. Bei 2,9 % der Erstgeborenen (10 500) war die Mutter bei der Entbindung 40 Jahre und älter.
EU-Vergleich: Durchschnittsalter der Erstgebärenden in Italien am höchsten
Auch in den anderen Staaten der Europäischen Union bekommen Frauen immer später ihr erstes Kind. Im Jahr 2020 betrug das Alter der Erstgebärenden im EU-Durchschnitt laut Eurostat 29,5 Jahre. In Italien waren die Frauen bei Geburt ihres ersten Kindes mit im Schnitt 31,4 Jahren am ältesten, gefolgt von Spanien mit 31,2 Jahren und Luxemburg mit 31,0 Jahren. Am jüngsten waren die Erstgebärenden 2020 in Bulgarien (26,4 Jahre), gefolgt von Rumänien (27,1 Jahre) und der Slowakei (27,2 Jahre).
Methodische Hinweise:
Die Eurostat-Angaben zum Durchschnittsalter der Frauen bei Geburt können aufgrund methodischer Unterschiede von den Angaben des Statistischen Bundesamtes abweichen.
Das aktuelle Heft der Zeitschrift systhema vereinigt Beiträge der Tagung des Instituts für Familientherapie Weinheim, die im November 2021 in Köln unter dem Titel „Und so wollen wir leben?!“ statt fand – zum 45-jährigen Jubiläum des IF Weinheim. Darüber hinaus gibt drei methodische Impulse für die Praxis und viele Rezensionen. Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…
Das aktuelle Heft der Familiendynamik beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Projekt „Systemtherapeutischer Methoden in der Psychiatrischen Akutversorgung“ (SYMPA). In ihrem Editorial „Kollektive Interventionskulturen haben Konjunktur“ schreiben die Herausgeberinnen Rieke Oelkers-Ax und Christina Hunger-Schoppe: „Psychische Erkrankungen sind seit Jahren auf dem Vormarsch. Infolge der Coronapandemie steigen sie weltweit weiter sprunghaft an, sodass der viralen eine »psychische« Pandemie folgt. Auf der Suche nach Lösungen lohnt ein Blick auf kollektive Interventionsformen, wie z. B. die Systemtherapeutischen Methoden in der Psychiatrischen Akutversorgung (SYMPA). Sie folgen dem Prinzip von »Heilung als Gemeinschaftsleistung« und spiegeln ein Verständnis von Psychotherapie wider, das in modernen Gesellschaften zugunsten individueller »Einzelsettings« zurückgedrängt wurde. Historisch verschärfte die Psychiatrie-Enquete 1975 diese Zuspitzung: Die psychiatrische Versorgungsleistung wurde de-institutionalisiert und teilweise an die Familie »zurückverwiesen«. Gleichzeitig stieg die Lebenszeitprävalenz für depressive Störungen bei Partner:innen psychiatrischer Patient:innen und lag schließlich bis zu 60 % höher als in der Normalbevölkerung. Entlastete Mitglieder betroffener sozialer Systeme tragen hingegen zu einem verminderten Rückfallrisiko von Patient:innen bei. Angesichts sich zuspitzender Krisenerscheinungen haben Ansätze kollektiver Interventionskulturen wieder Konjunktur. Im Krankenhausbereich wurde in den letzten 20 Jahren in über ein Dutzend Kliniken SYMPA praktiziert. SYMPA und ihrem Mitbegründer, Jochen Schweitzer-Rothers, ist unser Schwerpunktthema gewidmet“. Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…
25. April 2022
von Tom Levold Kommentare deaktiviert für Dörte Foertsch wird 65!
Heute feiert Dörte Foertsch ihren 65. Geburtstag – dazu ganz herzliche Glückwünsche! Nach ihrem Psychologiestudium im Fachbereich Kritische Psychologie an der FU Berlin machte sie ihre Weiterbildung zur Systemischen Therapeutin von 1984-1988 am Berliner Institut für Familientherapie BIF, zu der Zeit lernten wir uns auch kennen. In den Folgejahren trug sie aktiv zur Weiterentwicklung des Institutes bei, für das sie mit Leidenschaft einige Generationen von systemischen Therapeutinnen und Therapeuten ausgebildet hat und auch lange Zeit als Vorstandsmitglied tätig war.
Von 2005 bis zu ihrem Ausscheiden 2019 haben wir dann intensiv im Herausgebergremiums der Zeitschrift Kontext zusammengearbeitet.
Dieser Zusammenarbeit hat sie mit ihrer Kreativität, ihrem Witz, ihrer Empathie und dem Gespür für (neue) Themen ein ganz wichtiges Gepräge gegeben. Frei von Konkurrenzgebaren und ausgestattet mit einer großen Herzlichkeit und einer unglaublichen Gastfreundschaft, sei es bei ihr zuhause, in Ligurien oder in ihrem Domizil in der Uckermarck, hat sie die Arbeit an der Zeitschrift enorm bereichert und eine persönliche Atmosphäre geschaffen, die in Arbeitsbeziehungen nicht selbstverständlich ist. Ihr unbestechliches Gerechtigkeitsgefühl und ihre Einfühlung in Benachteiligte und Machtunterworfene hat sie aber auch in die Diskurse der Systemischen Gesellschaft eingebracht, in der sie lange wie auch andere Kollegen des BIF aktiv war. In den letzten Jahren hat sie sich zunehmend auf ihre Familie – als Patchworkmutter von fünf Kindern und Großmutter – sowie auf ihre künstlerische Arbeit als Bildhauerin konzentriert, die sie u.a. auch als Lehrbeauftragte an der Berliner Kunsthochschule Weißensee weitergibt. Die Arbeit mit Skulpturen aus Stein hat Dörte Foertsch auch zu einem Text über Skulpturen in der Systemischen Therapie inspiriert, den Sie hier als PDF lesen können.
Liebe Dörte, lass es dir heute und in den kommenden Jahren gut gehen! In der Hoffnung, dass wir noch manche freundschaftliche Begegnungen haben werden, wünsche ich dir alles Gute, aber vor allem Gesundheit und weiterhin große Schaffenskraft.
Am 24.3. hat der österreichische Konfliktforscher und -manager Friedrich Glasl in einen Online-Vortrag für die Trigon-Entwicklungsberatung zum Thema der „Konfliktdynamik und Friedenschancen in der Ukraine“ Stellung bezogen. Darin geht er sehr ausführlich auf die Vorgeschichte und den Kontext des Krieges ein. Das Video ist mit über zwei Stunden recht lang, es lohnt aber das Anschauen. Nach dem Intro beginnt der Vortrag etwa bei Minute 10. Wer über die derzeit dominante moralische und dämonisierende Betrachtung des Krieges hinaus kommen will, sollte sich dieses Video anschauen!
Wenn Sie Flüchtlinge aus der Ukraine betreuen oder auf andere Art und Weise mit der psychosozialen Versorgung ukrainischer Flüchtlinge befasst sind, könnten Materialien hilfreich sein, die Alexander Korittko, langjähriger Sprecher der DGSF-Fachgruppe „Trauma“, und Björn Enno Hermans, Psychotherapeut und ehemaliger DGSF-Vorsitzender, erstellt haben. Es handelt sich um Infoblätter für erwachsene Betroffene sowie für betroffene Kinder und Jugendliche (ab 10-12 Jahren), jeweils in deutsch und ukrainisch. Die Blätter können hier heruntergeladen werden…
Barbara Kuchler ist Soziologin, Systemtheoretikerin und Systemische Familientherapeutin in München. Sie betreibt einen klugen Blog unter dem Titel familienknatsch.blog, in dem sie paar- und familientherapeutische und -theoretische sowie gesellschaftspolitische Themen behandelt. In den letzten Tagen hat sie aus der Perspektive der systemtheoretischen Konflikttheorie zum Krieg in der Ukraine Stellung bezogen. Ich konnte sie gewinnen, ihren letzten Text „Eskalation oder Warum wir Teil des Konflikts sind“ als Gastautorin auch hier im systemagazin zu veröffentlichen und hoffe, hier eine Diskussion in Gang zu bringen, die jenseits der momentanen dominanten Diskurse geführt werden sollten.
Barbara Kuchler, München: Eskalation oder Warum wir Teil des Konflikts sind
Was ist das für eine Dynamik, die jetzt zwischen Russland und dem Rest der Welt in Gang ist? In einem Versuch, das zu verstehen, greife ich auf systemisch-therapeutische Begriffe (I.) und auf systemtheoretisch-soziologische Begriffe (II.) zurück. Diese Denkweise habe ich u.a. von Fritz Simon gelernt (https://www.carl-auer.de/todliche-konflikte) und auch hier schon angewandt: https://familienknatsch.blog/2022/02/25/russland-und-die-nato/.
I. Symmetrische und Komplementäre Eskalation
Wir befinden uns in einer Eskalation, oder besser: in zwei Eskalationen gleichzeitig.
(1) Russland und die Ukraine befinden sich in einer symmetrischen Eskalation, wohlbekannt aus der Konfliktforschung. Das Prinzip ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Schlag um Schlag, Tote um Tote, Rakete um Rakete, notfalls: Rakete um Molotowcocktail. Gleiches wird mit Gleichem vergolten, oder jedenfalls mit Ähnlichem.
(2) Russland und die westliche Welt befinden sich in einer komplementären Eskalation. Das ist eine Form von Eskalation, die Kriegsforschern normalerweise nicht bekannt ist, Paartherapeuten aber umso besser. Hier agieren die Beteiligten in verschiedenen und sogar gegensätzlichen Positionen, die sich aber trotzdem – oder: deswegen – so ineinander verschrauben, dass beide immer tiefer in ihre jeweilige Position hineingeraten und nicht mehr herausfinden. Jeder übernimmt seinen Pol des Spektrums, versteift sich immer mehr darauf und verstärkt dadurch auch den Anderen darin, in seinem Pol zu bleiben. Eine komplementäre Eskalation muss nicht unbedingt ein Konflikt sein, es kann durchaus eine freundlich-kooperative Beziehung sein, in Paaren z.B. nach dem Schema hilfsbedürftig vs. helfend, oder führend vs. folgend, oder spaßorientiert vs. pflichtorientiert, oder sonst irgendeine polare Rollenkonstellation. Eine Eskalation ist das nicht im Konfliktsinn, sondern nur in dem sehr abstrakten Sinn, dass jeder der Beteiligten mit der Zeit immer extremer in seiner Ausprägung wird und extremer in seiner Ausprägung wird, als er es ohne den Partner wäre.[1]
Ich versuche unten, die Positionen in einer Schemazeichnung darzustellen. Und ich versuche, sie möglichst deskriptiv und nicht-normativ darzustellen, also ohne Vorabfestlegung darauf, dass die westliche Position die „richtige“ ist, was natürlich ansonsten auch meine Meinung ist.
– Russland vertritt die Position der Macht, der nackten Gewalt, der militärischen Aggression, der Realpolitik, der Großmachtambition, der alten und unaufhebbaren Einsicht, dass Gewehre im Zweifel stärker sind als Kugelschreiber und Amtssiegel. Je stärker der Widerstand der Ukrainer und der solidarische Beistand des Westens, desto mehr verstärkt Russland seine Kriegführung, damit der einmal begonnene Kriegszug nicht erfolglos ist.
– Der Westen vertritt die Position des Rechts, hier: des Völkerrechts, das besagt: Staaten sind souverän, Gewalt darf kein Mittel der Politik sein, Angriffskriege sind verboten, und das Resultat kriegerischer Aggressionen darf unter keinen Umständen hingenommen werden.
Je brutaler die russische Kriegführung wird, desto entsetzter verweist der Westen auf das Völkerrecht, und desto entschlossener ist er, dieses Vorgehen und diese Art der Herstellung politischer Ergebnisse zu ächten.
Die beiden befinden sich in einer komplementären Eskalation, vermittelt über die Ukraine, die sich wiederum mit Russland in einer klassischen symmetrischen Eskalation befindet. Die beiden Eskalationszirkel hängen in der Weise zusammen, dass durch die Solidarität des Westens der Kriegswille der Ukrainer viel länger aufrechterhalten werden kann, als er es angesichts eines aussichtslosen militärischen Kräfteverhältnisses sonst könnte, und dass dies die Intensität und Brutalität der russischen Kriegführung anheizt, was wiederum die Solidarität des Westens anheizt, usw.
An sich wäre in der gegebenen Lage die naheliegende Lösung die: Russland darf sich mit einer akzeptablen „Beute“ davonmachen – etwa Donezk, Luhansk, Krim, Asowsches Meer –, lässt dafür den Rest der Ukraine als unabhängiges Land bestehen (unter Druck der westlichen Sanktionen) und entkommt damit der gegenwärtigen Lage, die auch für Russland ein Schlamassel ist. Diese Lösung scheint vielen im Westen derzeit nicht akzeptabel, weil man damit einen Völkerrechtsbruch Russlands anerkennen müsste, eine gewaltsame Änderung der politischen Landkarte. Es kann doch nicht angehen, dass jemand, der nur skrupellos genug ist, sich einfach einen Teil des Nachbarlandes krallen kann.
Aber man kann wissen: Ohne Nachlassen (auch) in der eigenen Position kommt man aus einer Eskalationsspirale nicht heraus. Nur dass das Bestehen auf dem Völkerrecht und der Nicht-Anerkennung gewaltsamer Annexionen für uns wie eine eskalierende, konservative, status quo-bewahrende Position aussieht, verhindert nicht, dass sie in der faktischen Welt Teil eines Interaktionszirkels oder einer Eskalationsspirale ist.
Natürlich ist das vor allem etwas, was die Ukraine machen müsste: den Verlust von Teilen ihres Territoriums akzeptieren. Das ist nicht unsere Sache. Aber wir können auf Selenskyj so oder so einwirken. Wir können ihn dabei unterstützen, eine defensive Verhandlungsstrategie einzuschlagen, sich auf Kompromisse einzulassen und einen aussichtslosen Krieg aufzugeben, oder wir können Waffen liefern und ihm in seiner Unbeugsamkeit den Rücken stärken.
II. System und Rechtfertigung
Nun kann man sagen: Das läuft auf eine Rechtfertigung der russischen Aggression hinaus. Hübsch systemisch dekoriert, aber doch nichts anderes als eine Rechtfertigung der gewaltsam durchgeführten Großmachtambitionen oder Weltbeherrschungspläne Putins. Man braucht nur irgendwo einzumarschieren und sich ausreichend eskalationsbereit zu zeigen, schon sagen die Eskalationstheoretiker, dass es Kompromisse braucht und dass die Akzeptanz der geschaffenen Fakten die beste Lösung ist.
An diesem Punkt muss ich kurz auf Systemtheorie und Gesellschaftstheorie umschalten. Soviel ist klar: Das Völkerrecht ist eine großartige Sache, es ist eine Errungenschaft, es gehört unaufhebbar zur modernen Gesellschaft, wie die Demokratie, wie die romantische Liebe, wie der Individualismus des Individuums u.a.m. Aber es ist nur ein Ausschnitt aus der Welt, die daneben viele andere Dinge enthält, unter anderem Panzer, verrückte Potentaten und Atombomben, abstrakter gesagt: das Machtmedium, eine internationale Ordnung voller Großmächte und Großmachtanwärter und einen stark machtabhängigen, nicht als Weltregierung etablierten UN-Sicherheitsrat. Das Völkerrecht darf – wie alles andere auf der Welt – nicht verabsolutiert werden. Es ist ein Partialstandpunkt wie jeder andere, nämlich der Standpunkt des Rechts und der Rechtfertigung. Es ist riskant, zuzulassen, dass das Völkerrecht unseren gesamten Standpunkt in der Ukrainefrage definiert.
Soziologen wissen, dass das formale Recht oder die formale Ordnung immer nur einen Teil der sozialen Realität ausmacht. Schon jede Organisation enthält Rollen, Routinen, Kooperationsformen, die formal nicht vorgesehen, vielleicht sogar formal verboten sind und doch tragende Bedeutung für ihr Funktionieren haben. (Jeder kann hier an seinen eigenen Arbeitskontext denken.) Jedes politische System enthält Praktiken und Kommunikationskanäle, die nicht den offiziellen Mandaten, Blaupausen und Demokratielehrbüchern entsprechen, die nicht legitimiert und nicht legitimierbar sind und doch zur Stabilisierung und Balancierung der Gesamtordnung beitragen.
Das rechtfertigt nicht den russischen Angriff. Vielmehr besagt es: Soziale Systeme enthalten Aspekte, die nicht rechtfertigbar sind und die trotzdem real sind. Recht und Rechtfertigung ist nur ein ganz kleiner Teil der Welt. Nur bei Habermas ist das anders. Systemtheoretiker wissen, dass die Realität von Systemen immer über das hinausgeht, was in ihren offiziellen Strukturen und Prinzipien kristallisiert, und dass kein System alles rechtfertigen kann, was es tut. Kein Mensch, keine Organisation, kein Staat. Jedes System muss damit leben, dass es gelegentlich Dinge sagt oder tut, die seiner eigenen Glaubensordnung und Rechtsordnung widersprechen, die zu tun oder zu sagen es sich aber trotzdem in dem Moment entschließt. In den Worten von Niklas Luhmann: Es gilt, „daß jedes Sozialsystem … mehr Informationen besitzen muß, als es integrieren und legitimieren kann“.[2] Ein System ist das Gegenteil eines Prinzips. Diese Weisheit habe ich von Luhmanns Nachfolger André Kieserling gelernt.
Das ist nicht schön, aber das ist der Punkt, an dem wir stehen, glaube ich. Es ist nicht klug, an die Welt höhere Maßstäbe anzulegen, als jeder von uns an sich selbst und an sein eigenes Leben anlegt. Man kommt mit Prinzipien nur begrenzt weit. Das heißt nicht, dass Prinzipien unnütz sind und über Bord geworfen werden können. (Dann würde man ein Prinzip daraus machen, prinzipienfrei zu leben.) Es heißt nur, dass man Prinzipien nicht prinzipienhaft anwenden sollte, dass man sich ihrem Gegenteil: dem situativ Notwendigen, nicht verschließen sollte.
Aber kann dann nicht in Zukunft jeder beliebige machtgierige oder territoriumsgierige Potentat kommen und sich irgendetwas unter den Nagel reißen? Ich glaube: Das folgt nicht. Das wäre das Prinzip, das daraus abgezogen würde. Aber mein Punkt ist: Wir haben jetzt eine Situation, um nicht nach Prinzipien zu handeln. Prinzipien sind eine späte Errungenschaft. Situationen sind basaler als Prinzipien. Wir brauchen eine Situationslogik, die Prinzipien übersteigt, die mehr schon eine Überlebenslogik ist.
Wie sich eine Situation zur Situation qualifiziert, die es erlaubt oder empfiehlt, von Prinzipien abzusehen, kann man nicht genau definieren. Man kann es nur sehen. Im Moment geht es darum, einen Atomkrieg zu verhindern und gleichzeitig einen zerstörerischen Flächenkrieg in einem Land zu beenden. Das passiert nicht jeden Tag. Es ist eine Ausnahmesituation, die nicht zur Jedermanns- und Jedentags-Situation hochgeneralisiert werden kann. Das wissen auf irgendeiner Ebene auch die machtgierigen Potentaten dieser Welt. Jedenfalls ist es im Moment klüger, davon auszugehen.
Im Bedenken gegenüber Prinzipien deckt sich übrigens der systemische mit dem systemtheoretischen Ansatz. Paartherapeuten wissen: Menschen, die nur nach Prinzipien leben, sind prädestiniert, ins Unglück zu laufen. Solange in einem Paarkonflikt ein Partner auf Gerechtigkeit besteht, auf Ausgleich, auf Rückzahlung aller Schulden, solange kommt kein Frieden, keine Heilung, keine Beruhigung der Lage zustande. Gerechtigkeit und Tragik hängen zusammen, und ebenso hängen die Bereitschaft zum Nachlassen in Gerechtigkeitsansprüchen und die Chance auf Lebensglück zusammen. Im Moment wäre der Zeitpunkt, das auf Weltebene einzusehen.
[1] Den Gedanken der symmetrischen und der komplementären Eskalation entnehme ich Paul Watzlawick / Janet H. Beavin / Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation, Bern 1969. Dort ist, genau genommen, von „symmetrischer Eskalation“ und „komplementärer Rigidität“ die Rede. Die Verwendung des Eskalationsbegriffs für beide Formen scheint aber nicht sinnverzerrend, und jedenfalls kann in systemischen Kontexten ohne weiteres davon die Rede sein, dass sowohl symmetrische als auch komplementäre Interaktionsmuster ihre Risiken, Pathologien und Eskalationspotentiale haben.
[2] Niklas Luhmann, Spontane Ordnungsbildung, in: Fritz Morstein Marx (Hg.), Verwaltung, Berlin 1965, S. 163-183, hier S. 178.
Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Organisationsberatung Supervision Coaching beschäftigt sich mit dem Thema Agilität in Organisationen, einem Konzept, das in den vergangenen Jahren zunehmend Furore gemacht hat. In ihrem Editorial schreiben Rainer Bäcker und Heidi Möller dazu:
„Wenn man sich mit dem Thema ,Agilität’ inhaltlich befasst, erscheint es nicht angeraten, es in erster Linie als ein einheitliches theoretisches Konstrukt oder Modell zu betrachten, das man auf seine interne logische Stimmigkeit seiner einzelnen Bestandteile und auf deren empirische Verankerung hin überprüft. Damit würde man Kriterien anlegen, bei denen von vorneherein offensichtlich ist, dass der agile Ansatz dem weder gerecht werden kann noch will. Die eigentliche Bedeutung des agilen Konzepts liegt nicht in seiner theoretischen Stimmigkeit, sondern in seiner praktischen Wirksamkeit. Insofern erscheint es sinnvoll, das uns interessierende Thema Agilität als eine relevante und interessante ,Wirkungseinheit’ (Salber 1969), oder moderner ausgedrückt, als ,Erzählung’ in den Blick zu nehmen und zu versuchen, es in seiner inneren Dynamik, seinem Funktionieren und seiner Entwicklung zu verstehen.
Um die unbestreitbare Erfolgsgeschichte und anhaltende Attraktivität der agilen Erzählung nachzuvollziehen, ist es wichtig, sie nicht als ein allgemeingültiges Phänomen in der modernen Arbeitsorganisation zu sehen, sondern sie als eine unter verschiedenen Ausdrucksformen der ,Singularisierung’ (Reckwitz 2019) der postindustriellen Ökonomie und Arbeitswelt zu verstehen. Damit wird auch deutlich, dass ,New Work’ und der agile Diskurs vor allem die Arbeitsweisen der kulturbestimmenden neuen Akademiker- und Mittelklasse betreffen, während die Arbeitsweisen und -bedingungen der ,neuen Unterklasse’ (Reckwitz 2019), obwohl diese ungefähr ein Drittel der Gesamtgesellschaft ausmacht, in dieser Erzählung kaum vorkommen und darin bestenfalls ein ebenso randständiges Dasein fristen wie in der gesellschaftlichen Realität.
Unter dieser Perspektive erscheint Agilität eher als eine – neben anderen – Ausdrucksform von grundlegenden Veränderungen und Umbrüchen, die unsere aktuelle Gesellschaft und die damit verbundene Arbeitsorganisation prägen, und weniger als ein einfaches Modell einer neuen Arbeitsweise. Die übergreifenden Themen der neuen Mittelklasse in den postindustriellen Gesellschaften entsprechen von daher auch zentralen Motiven des agilen Mindset, wie z. B.:
dem Streben nach Selbstverwirklichung und Freiheit einerseits und der Suche nach Sicherheit in der Gemeinschaft/im Schwarm andererseits,
der Infragestellung von Autoritäten und gleichzeitig dem Streben nach Orientierung gebenden neuen Idolen und Vorbildern,
dem Bedürfnis nach ideellem „Sinn“ in der Arbeit versus die permanente Steigerung von Effizienz und Tempo in der Arbeitsgestaltung,
der Gestaltung einer stabilen, „einzigartigen“ Identität einerseits und der Entwicklung von allumfassender Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft andererseits.
Die besondere Wirkkraft der agilen Erzählung scheint zumindest in Teilen darin zu liegen, dass sie das Versprechen beinhaltet, diese, zumindest scheinbaren, Widersprüche zusammenzubringen und miteinander zu versöhnen. Geht es im Kern der agilen Erzählung nicht darum, selbstbestimmtes und ,freies’ Arbeiten für alle mit einer neuen Effizienzdynamik der postindustriellen, kapitalistisch organisierten Ökonomie zu verbinden? Von daher ist und bleibt es interessant, zu verfolgen, wie sich die zentralen Motive der agilen Erzählung bei ihrem ,Realitäts-Check’ in der täglichen praktischen Arbeitsgestaltung weiter ausgestalten und wie sich dabei neue (Erzähl‑) Versionen entwickeln und Lösungen für die immanenten Spannungsfelder ausbilden.“
Bereits am 4. März hat die DGSF eine Erklärung veröffentlicht, in der sie den Krieg in der Ukraine verurteilt, auf die katastrophalen Folgen für die Zivilgesellschaft und besonders die Kinder und Jugendliche hinweist und dazu aufruft, diesen konkrete Hilfen zukommen zu lassen. Dem Vernehmen nach war ursprünglich geplant, diese Stellungnahme in gemeinsamer Herausgeberschaft mit der Systemischen Gesellschaft zu veröffentlichen. Ohne dass die Gründe dafür erkennbar wären, ist das bis heute nicht passiert. Auf der Website der SG findet sich auch bislang kein eigener Text zur Situation in der Ukraine. systemagazin dokumentiert heute – etwas verspätet – die Erklärung der DGSF:
Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF):
Der verbrecherische Angriffskrieg in Europa sorgt für Bestürzung, Trauer und Angst. Der Krieg bringt unermessliches menschliches Leid und humanitäre Notlagen. Der systemische Fachverband DGSF verurteilt die kriegerischen Handlungen scharf und solidarisiert sich mit den Betroffenen. Im Rahmen unserer Möglichkeiten machen wir uns stark für die großen Herausforderungen, die sich für unser Land daraus ergeben. Als Schnittstelle zwischen Mitgliedschaft und Politik setzt sich die DGSF für eine effektive Unterstützung in Not geratener Menschen ein und bietet Möglichkeiten zum Informationsaustausch und Vernetzung an. Nach einer Woche Krieg in der Ukraine sind bereits eine Million Menschen aus dem Land geflohen (1), unter ihnen hauptsächlich Frauen mit Kindern und Jugendlichen. Es müssen so schnell wie möglich sichere Fluchtwege geschaffen sowie familiengerechte Unterkünfte inklusive materieller sowie psychologischer Hilfe für Kinder und Familien organisiert werden. Die DGSF unterstützt in diesem Zusammenhang vollumfänglich den offenen Brief der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) vom 1. März 2022 und die Erklärung der European Family Therapy Association (EFTA). Der offene Brief von Prof. Dr. Karin Böllert (AGJ-Vorsitzende), Prof. Dr. Wolfgang Schröer (BJK- Vorsitzender von 2019 bis 2021) und der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik des Deutschen Jugendinstituts (DJI) verweist auf die aus dem Krieg in Europa erwachsenen, besonderen Herausforderungen und dringenden Handlungsbedarfe der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. So sind die Kinder- und Jugendpolitik, die Kinder- und Jugendhilfe und alle pädagogischen Organisationen, die mit jungen Menschen zusammenarbeiten, aktuell aufgefordert, Ängste der jungen Menschen ernst zu nehmen, sie in dem Umgang mit beunruhigenden Erfahrungen zu unterstützen und die gegenwärtige Situation gemeinsam mit ihnen zu thematisieren sowie ihr Eintreten gegen Krieg und für Frieden zu fördern und zu begleiten.