Schon am 31.5. hat der Carl-Auer-Verlag ein von Rüdiger Retzlaff geführtes Interview mit Jochen Schweitzer veröffentlicht, das als Audiofassung in der SoundCloud zu hören, aber auf der Verlags-Website auch als Transkript zu lesen ist. In der Einleitung heißt es: „Jochen Schweitzer gehört zu den maßgeblichen Persönlichkeiten in der Entwicklung systemischer Therapie und Beratung der letzten Jahrzehnte, unter anderem als Autor und Herausgeber einflussreicher Bücher und weiterer Publikationen, Organisator der Heidelberger Tagungen zu systemischer Forschung, langjähriger 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF), Organisator von eigenen Forschungsprojekten, Mitgründer des Helm-Stierlin-Instituts, Professor und Leiter der Abteilung Medizinische Organisationspsychologie an der Universität Heidelberg. Im April 2022 trat Jochen Schweitzer in den Ruhestand. Rüdiger Retzlaff lädt Jochen Schweitzer zu einem spannenden Gespräch über erste Erfahrungen mit Familientherapie in Baltimore (USA), seine Zeit am Institut für psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie der Universität Heidelberg, zu einem kritischen Blick auf Konzepte und Praxis– wie die paradoxe Intervention der Mailänder Schule – die Neuausrichtung der Weiterbildungsorganisation am Helm-Stierlin-Institut und die Einschätzung anstehender Entwicklungen im systemischen Feld“.
Vor kurzem habe ich in alten Exemplaren der Zeitschrift für systemische Therapie geblättert und bin auf das Heft 3/1986 gestoßen, in dem es schwerpunktmäßig um das Thema Frieden ging. In den 1980er Jahren erfolgte der NATO-Doppelbeschluss, es war auch das Jahrzehnt der Friedensbewegung. Jürgen Hargens veröffentlichte in dieser Ausgabe drei Briefe von Gregory Bateson, die er an die Verwaltung der kalifornischen Universität schrieb. Als Mitglied des Verwaltungsrates der Universität und eines Sonderforschungsausschusses wendet er sich gegen die Rüstungsforschung, die an der Universität betrieben wurde und begründet in diesen Briefen seinen Austritt aus dem Ausschuss. Die Briefe wurden erstmals im Sommer 1980 im Lomi School Bulletin veröffentlicht und richten sich an den Verwaltungsrat (I), an das VR-Mitglied Vilma S. Martinez (II) und an das VR-Mitglied und Vorsitzender des Sonderforschungsausschusses William A. Wilson (III).
Ich finde die Briefe vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Krieges Russlands gegen die Ukraine und des Konfliktes zwischen der NATO und Russland, der auf dem Boden der Ukraine ausgetragen wird, nachdenkenswert und möchte hier einige Zitate aus den Briefen wiedergeben. Sie betreffen nicht die beteiligten Personen, sondern sind eher allgemeine Überlegungen zur Rüstungsspirale und ihren Folgen.
Katharina Woellert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Vorstandsbeauftragte für Klinische Ethik am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin im Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf. In der Zeitschrift Ethik in der Medizin ist ein aktueller Artikel von ihr mit dem Titel Klinische Ethik systemisch betrachtet – Vom Einfluss systemischer Grundannahmen und Methoden auf die Gestaltung einer effektiven Ethikberatung erschienen, in dem sie die Vorteile, aber auch Probleme einer systemischen Perspektive auf ethische Dilemmata im klinischen Kontext anhand von zwei Fallbeispielen diskutiert und für eine systemische Vorgehensweise plädiert.
Im Abstract heißt es: „Krankenhäuser müssen sich an der ethischen Qualität ihrer Versorgung messen lassen. Es geht dabei um einen Zustand, in dem allgemein anerkannte moralische Normen in der Patient:innenversorgung konsequent berücksichtigt werden. Damit sind zwei Ebenen angesprochen: die der ethisch-normativen Deutung und die der Gestaltung intra- und interpersonaler Prozesse. Die Klinische Ethik ist die Disziplin, die in der Verbindung beider ihre zentrale Aufgabe sieht. Um sie zu erfüllen, muss Ethikarbeit auf der Basis komplexer Kompetenzen erfolgen. Neben fundiertem Ethikwissen ist das Beherrschen von geeigneten Methoden für die Steuerung solcher Prozesse eine unabdingbare Voraussetzung. Dazu aber ist die Studienlage vergleichsweise dünn. Die vorliegende Arbeit greift dieses Desiderat auf und geht dabei von der Hypothese aus, dass die Systemik einen wichtigen Beitrag zu einer im obigen Sinne effektiven Ethikarbeit leisten kann. Die Darstellung gibt einen Einblick in das systemische Denken und diskutiert die Möglichkeiten, die systemisches Handwerkszeug für die Herausforderungen der Klinischen Ethik bereithält. Die Ausführungen laden dazu ein, über den Einfluss systemischer Grundannahmen und Methoden auf die Gestaltung einer effektiven Ethikarbeit nachzudenken. Darüber hinaus ruft dieser Beitrag dazu auf, die Beratungsmethodik als solche mehr in den Fokus zu rücken.“
Am 24. Juni 2022 sprachen Friedrich Glasl und Fritz B. Simon in einer Zoom-Sitzung moderiert von Andreas Winheller (Verhandlungsperformance Consulting) und Gesine Otto (Sozialagentur kommstruktiv.de) über ihre Perspektive auf den Konflikt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede und ihre Vorschläge für eine Konfliktlösung. Während Fritz Simon dafür plädiert, die Ukraine mit allen erforderlichen schweren Waffen zu beliefern, damit den Russen die Idee des Sieges auszutreiben, wendet sich Friedrich Glasl gegen die weitere Eskalation in der Affektlogik, die mit jeder Waffenlieferung verbunden ist und plädiert für deeskalierende Maßnahmen.
Eine spannende Diskussion, die über zwei Stunden dauert, aber – wie Fritz Simon in Abgrenzung zu den Drei-Satz-Statements in den üblichen Talkshows anmerkt – Zeit bietet, um Argumentationen zu entfalten. Das Ansehen lohnt sich also.
Am 6.6. habe ich an dieser Stelle das Buch von Don R. Catherall über Emotionale Sicherheit. Affektive Kommunikation in Paarbeziehung und Paartherapie vorgestellt. Gestern ist auf der Website des Carl-Auer-Verlages ein Interview erschienen, das Matthias Ohler mit mir über dieses Buch geführt hat. Dabei geht es um die Bedeutung der Affekttheorie für das Verständnis von Kommunikation in Beziehungen und sozialen Systemen, um den Unterschied von Affekten, Gefühlen und Emotioen, und vor allem um den häufig übersehenen Affekt der Scham und die Schamemotion, die eine große Rolle bei (nicht nur) Paarkonflikten spielen und auch die professionelle Kommunikation im therapeutischen und beraterischen Setting vielfach beeinflussen.
Unter diesem Titel hat Heiko Kleve 2020 im Carl-Auer-Verlag seine Streitschrift veröffentlicht, in der er dafür plädiert, die sozialstaatliche Regulierung sozialer Arbeit durch eine marktliberale Politik von Angebot und Nachfrage zu ersetzen. Dabei bezieht er sich wesentlich auf Autoren wie den Theoretiker des Neoliberalismus Friedrich Hayek und den Systemtheoretiker Niklas Luhmann, deren Ansätze für ihn im Wesentlichen übereinstimmen: „Während der Neoliberalismus insbesondere Wirtschaftsfragen thematisiert, und ein Wirtschaftsliberalismus ist, kann die Systemtheorie weiter gefasst werden: Wir könnten sie als Systemliberalismus bezeichnen“ (S. 86). Dieses Etikett nimmt er auch für seine eigene Position in Anspruch.
Seine Begeisterung für den Neoliberalismus hat Kleve schon seit 2010 in verschiedenen Zeitschriftenaufsätzen publiziert, die ausschnittweise und überarbeitet auch in dieses Buch eingegangen sind, so z.B. auch der Artikel Systemische Sozialarbeit und Liberalismus. Plädoyer für soziale Selbstorganisation und individuelle Autonomie – eine Diskussionsanregung, der 2016 in der Familiendynamik erschien, ohne aber eine nennenswerte Diskussion auszulösen. Im sozialarbeiterischen Diskurs sind seine Texte durchaus auf Widerspruch gestoßen, anerkennenswerter Weise hat er einen kritischen Dialog mit Markus Eckl über seine Thesen auch als Kapitel in dieses Buch aufgenommen. Im systemischen Feld haben seine Überlegungen, die ja hohen politischen Sprengstoff bieten, dagegen bislang keine sonderliche Aufmerksamkeit bekommen, entsprechend fiel auch die Resonanz auf seine „Streitschrift“ bislang eher mager aus.
Vor diesem Hintergrund bietet die nachfolgende ausführliche Rezension Reinhart Wolffs, der die Promotion Heiko Kleves betreut hat, vielleicht doch die Möglichkeit, in eine kritische Debatte von Kleves Thesen einzusteigen.
Reinhart Wolff, Berlin: Kein Leuchtturm mehr – Kritische Lektüre einer Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit
1. Als mich vor einigen Monaten Tom Levold fragte, ob ich bereit wäre, eine 2020 publizierte, allerdings schnell in der Fachöffentlichkeit heftig umstrittene Aufsatzsammlung von Heiko Kleve: Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe. Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit zu rezensieren, zögerte ich und fragte mich, ob ich das tatsächlich tun sollte, war Heiko Kleve doch einer meiner besten Doktoranden in den 1990er Jahren gewesen, dessen weitere Arbeit ich immer mit Interesse verfolgt hatte. Heiko Kleve hatte an meinem Promotionscolloquium „Theorie und Praxis sozialer Hilfesysteme“ teilgenommen und dann 1998 eine rasante Dissertation „Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoreti-sche-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft“ vorgelegt (in 1. Auflage 1999 in Aachen in Heinz Kerstings Wiss. Verlag des Instituts für Beratung und Supervision und 2007 als 2. Auflage in Wiesbaden im VS Verlag für Sozialwissenschaften erschienen), die ich selbst und Dietmar Kamper als Gutachter wie auch viele Leser danach (wie beispielsweise auch Herbert Effinger in seiner Rezension der Zweitauflage vom 08. Okt. 2007 im socialnet; Zugriff: 08.06.2022) als eine wichtige, ja, herausragende Leistung einschätzten. Ich hatte damals im Vorwort zur Erstveröffentlichung geschrieben: „Wer wissen will, wie man Sozialarbeit als modernes Berufssystem mit all seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit verstehen und beschreiben kann, wird diese Arbeit eines Fachhochschulabsolventen, der damit seine Promotion im direkten Zugang von der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin zur Freien Universität Berlin mit Auszeichnung abschloß, mit Gewinn lesen. Die Arbeit ist ein Glücksfall einer eigenständigen Weiterentwicklung systemisch-konstruktivistischen Denkens. Wie ein Leuchtturm, dessen bin ich mir sicher, wird sie der Theorie wie der Praxis moderner Sozialer Arbeit Richtung und Orientierung geben.“ (S.11)
Die DGSF hat auf ihrer Mitgliederversammlung im Juni 2021 einen Etat von 25.000 Euro zur Forschungsförderung aufgesetzt, wobei die Förderung pro Projekt auf maximal 5.000 Euro festgelegt ist und vor allem als Anschubfinanzierung dienen soll. Anträge auf Forschungsförderung können jeweils bis zum 30. Juni des in Betracht kommenden Jahres bei der DGSF-Geschäftsstelle eingereicht werden. Für 2022 bleiben deshalb noch gut zwei Wochen Zeit für die Einreichung eines Antrages.
Gefördert werden Projekte aus allen Bereichen des systemischen Arbeitens. Erwünscht sind insbesondere Studien aus bisher wenig beforschten Bereichen wie der Sozialen Arbeit. Der systemische Charakter des Projekts soll im Antrag deutlich werden. Mit dieser Förderung möchte die DGSF auch Praktiker*innen und Forschungsneulinge zu eigenen Forschungen ermutigen. Diese sollen in Fragestellung, Methoden und zu erwartendem Nutzen praxisnah und anwendungsorientiert sein. Gerne vermitteln die Mitglieder der Forschungsjury Forschungspaten zur Unterstützung und Beratung bei der Planung solcher Projekte.
Nicht gefördert werden
Projekte, die bereits begonnen haben
Personalkosten (Honorare/Ausfallzeiten) oder
Lebenshaltungskosten der Antragsteller*innen (es werden nur Personalkosten von Dritten gefördert)
Nach Abschluss des Projekts wird ein Abschlussbericht erwartet, der auf der DGSF-Website veröffentlicht wird. Darüber hinaus ist die Publikation eines Aufsatzes in einer systemischen Fachzeitschrift oder eine Präsentation/Vorstellung auf einer DGSF-Tagung bzw. in einer DGSF-Fachgruppe erwünscht.
Über die Vergabe entscheidet eine Jury aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und vom Vorstand beauftragten DGSF-Mitgliedern.
Hinweise zur Bewerbung
Anträge auf Forschungsförderung sollen in einer einzigen, max. 15 Seiten umfassenden PDF-Datei dargelegt werden, und wie folgt gegliedert sein:
Anschreiben
Übersichtliche Darstellung der Projektbeteiligten und Institutionen mit allen Kontaktdaten
Angaben zum beruflichen/wissenschaftlichen Hintergrund sowie den bisherigen Forschungserfahrungen der Antragsteller*innen
Titel des Vorhabens
Zielsetzung und Fragestellung
Aktueller Forschungsstand
Wissenschaftliche Hypothesen, die dieses Projekt verfolgt
Beschreibung des Forschungsvorgehens
Deutliche Darstellung des systemischen Charakters des Projekts
Erwarteter Nutzen und mögliche Folgen der Projektergebnisse
Vorgesehene Art der Darstellung der Ergebnisse
Zeitplan
Kostenplan, aufgeschlüsselt nach a) DGSF-beantragt, Eigenanteil, ggf. andernorts beantragt b) Personalkosten / Sachkosten
In der vergangenen Woche ist Don R. Catheralls Buch Emotional Safety. Viewing Couples Through the Lens of Affect in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Emotionale Sicherheit. Affektive Kommunikation in Paarbeziehung und Paartherapie im Carl-Auer-Verlag erschienen. Dieses Buch begleitet mich schon seit vielen Jahren in meiner paartherapeutischen Arbeit und meinen diesbezüglichen Weiterbildungsaktivitäten – Paaren, denen ich das Buch empfohlen habe, hat es geholfen, die eigenen Konfliktmuster besser zu verstehen und einzuordnen.
Umso mehr freut es mich, dass der Verlag meinen Vorschlag aufgegriffen hat, das ambitionierte Projekt einer deutschen Ausgabe anzugehen, dessen Ergebnis nun vorliegt. An dieser Stelle wird demnächst ausführlicher auf das Buch eingegangen werden. Für die deutsche Ausgabe habe ich ein Vorwort geschrieben, das Sie hier zur Einstimmung lesen können, hier noch ein Link zu einer Leseprobe des Verlages….
Vorwort von Tom Levold
Die Beschäftigung mit Affekten, Gefühlen und Emotionen in Paar- und Familienbeziehungen ist im systemischen Therapiediskurs lange vernachlässigt worden. Auch wenn die Bedeutung der affektiven Aspekte von Kommunikation in der praktischen Bearbeitung von Beziehungskonflikten auf der Hand liegt, hat sich das in den letzten Jahren nur allmählich verändert.
In den über 40 Jahren, in denen ich mit Paaren und Familien arbeite, ist mir die Erweiterung des systemischen Diskurses um die Ergebnisse der Bindungs- und Affektforschung in Praxis und Lehre immer besonders wichtig gewesen. Dieses Anliegen erhält mit diesem Band eine großartige praktische und konzeptuelle Unterstützung, und ich freue mich, dass der Carl-Auer Verlag sich entschieden hat, dieses Buch in einer deutschen Übersetzung herauszugeben.
Im Unterschied zu vormodernen Zeiten, als die (eheliche) Paarbeziehung in erster Linie wirtschaftliche und generative Funktionen zu erfüllen hatte – auch wenn dabei durchaus Liebesgefühle eine Rolle spielen konnten –, hat die Bedeutung einer gefühlsmäßigen Bindung und der damit verbundenen Intimität der Beziehung in den vergangenen Jahrzehnten einen immer größeren Stellenwert bekommen. Die Frage der emotionalen Qualität und Tragfähigkeit von Beziehungen wird dabei umso wichtiger, je weniger der äußere Rahmen wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher, religiöser und moralischer Vorgaben noch eine Rolle bei der Ausgestaltung von Paarbeziehungen spielt.
Das Gelingen von Paarbeziehungen hängt heutzutage also in großem Maße von der Kommunikation der Partner ab, die eben nicht nur sprachliche Verständigung über Bedürfnisse und Interessen umfasst, sondern ganz wesentlich auch affektive Kommunikation ist, welche entscheidenden Einfluss darauf hat, ob die Beziehung als wohltuend und erfüllend erlebt wird oder als Quelle von Kummer, Anspannung und Konflikt.
Don Catherall präsentiert ein Modell emotionaler Sicherheit in Paarbeziehungen, das er in seiner langjährigen paartherapeutischen Arbeit entwickelt und eingesetzt hat und welches sowohl Professionellen im Feld der Paartherapie und -beratung als auch interessierten Paaren selbst aufgrund seiner Klarheit und unmittelbaren Plausibilität eine große Hilfe bei der Analyse und Bewältigung von Konfliktsituationen bietet. Er bezieht sich dabei u. a. auf die affekttheoretischen Arbeiten von Silvan Tomkins, dem – leider hierzulande immer noch zu wenig bekannten – Begründer der modernen Affekttheorie, auf Donald Nathanson, der die Arbeiten von Tomkins für das psychotherapeutische Feld erschlossen hat, auf die bindungstheoretischen Arbeiten von John Bowlby sowie die paartherapeutischen Ansätze von Susan Johnson und John Gottman, deren spezifische Perspektiven er zu einem schlüssigen Konzept integriert.
Seit über zehn Jahren nutze ich dieses Buch für meine Arbeit mit Paaren (von denen viele auch selbst durch die Lektüre dieses Buches profitiert haben) und in meinen paartherapeutischen Weiterbildungsseminaren. Müsste ich eine Liste von zehn Büchern zur Paartherapie erstellen, die man auf jeden Fall gelesen haben sollte, hätte dieses Werk darin einen festen Platz.
Was ist mit dem Titel Emotionale Sicherheit gemeint? Als sowohl kulturell wie auch biologisch soziale Wesen sind wir, um überleben zu können, auf die Zugehörigkeit zu sozialen Systemen ebenso angewiesen wie auf die Anerkennung eines gewissen Status und Wertes innerhalb dieser Systeme. Zugehörigkeit und Wertschätzung stellen wichtige Aspekte des Funktionierens aller sozialen Systeme dar, spielen aber eine besondere Rolle im emotionalen Nahraum der Familie und der Paarbeziehung als Kontext für die individuelle Entwicklung und die Befriedigung elementarer Bedürfnisse.
In heutigen Paarbeziehungen, deren Gelingen – wie schon erwähnt – nicht zuletzt an der Befriedigung emotionaler Bedürfnisse festgemacht wird, geht es deshalb um die Frage, ob und wie diese Bedürfnisse nach einer sicheren Bindung als Ausdruck von Zugehörigkeit und Status als Wertschätzung der eigenen Person wechselseitig erfüllt oder frustriert werden. Neben den vielen alltäglichen Konflikten um Geld, Erziehung, Haushalt, Sex, Aktivitäten etc., die Partner als mögliche Themen in einer Paartherapie vorbringen, sind es vor allem diese Grundthemen, die in der Dynamik der Paarbeziehung eine problematische Rolle spielen können.
In Paartherapien werden wir daher häufig mit einer Vielzahl von Anliegen und Konfliktthemen gleichsam auf der »Vorderbühne« der Paarbeziehung konfrontiert, deren Lösung dadurch erschwert wird, dass auf der »Hinterbühne« das Verhalten des Partners als Angriff auf die eigene Bindungssicherheit oder das eigene Selbstwertgefühl erlebt wird, vor dem man sich schützen muss. Auf diese Weise werden die Themen der Vorderbühne zu stellvertretenden Schlachtfeldern, die durch die ungelösten Probleme auf der Hinterbühne mit ständig neuer Energie versorgt werden, ohne in einen konstruktiven Lösungsbereich kommen zu können.
Das Gefühl einer sicheren Bindung wird z. B. infrage gestellt, wenn Zweifel am Engagement oder der Zuverlässigkeit des Partners auftauchen oder Unklarheit über die eigene Beziehungsmotivation besteht. Die – positive oder negative – Aktivierung des Bindungsgefühls ist mit Affekten wie Freude und Kummer sowie Vertrauen oder Misstrauen gegenüber dem Partner verbunden. Die Regulierung von Achtung und Missachtung in Paarbeziehungen ist mit dem Thema der Anerkennung und Wertschätzung in Bezug auf das Selbst und den anderen Partner als ganze Person verbunden und damit ausschlaggebend dafür, ob die Partner auf sich und den Anderen stolz sein können oder ob Scham und Beschämung durch Kritik, Vorwürfe und Entwertung im Vordergrund stehen.
Das Eingehen einer engen emotionalen Beziehung, in der man für den Anderen auf eine Weise sichtbar und erfahrbar wird, die der eigenen Kontrolle mehr oder weniger entzogen ist, macht verletzbar für Zurückweisung und Entwertung. Die Aussicht, beschämt zu werden, mobilisiert Abwehrstrategien (Skripte), die in der Ursprungsfamilie und in Auseinandersetzung mit früheren ähnlichen Erfahrungen entwickelt worden sind. Wenn diese Skripte auf der Vorderbühne immer wieder neu aufgeführt und reinszeniert werden, kann der paartherapeutische Blick auf die Hinterbühne und die zugrundeliegende Dynamik der Abwehr von Angst und Scham Paaren dabei helfen, neue Formen des Umgangs mit Konflikten zu finden, das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken und beider Selbstwertgefühl zu heben.
Der besondere Wert dieses Buches besteht darin, dass es die interaktiven Implikationen der Scham und anderer Affekte herausarbeitet, die trotz ihrer herausragenden Bedeutung auch von Professionellen nicht immer hinreichend erkannt werden, und sie in ein praktisches paartherapeutisches Konzept transformiert. Ich wünsche ihm eine große Verbreitung nicht nur unter systemischen Therapeuten.
Aus dem Amerikanischen von Ute Weber. Vorworte von Tom Levold und Donald L. Nathanson
397 Seiten, Kt. ISBN: 978-3-8497-0386-8 Preis: 59,00 €
Verlagsinformationen:
Wenn sich ein Paar in Therapie begibt, bringt es einen Wust an Emotionen mit: Trauer, Scham, Wut, Verzweiflung, Angst, Enttäuschung, … Wer sich in einem solchen Dschungel von Gefühlen zurechtfinden will, braucht einen guten Kompass. Don R. Catherall stellt die Themen Bindung und Wertschätzung in den Mittelpunkt der Paartherapie: Wer das Gefühl hat, dass das eine oder das andere bedroht ist, dem bzw. der fehlt es an emotionaler Sicherheit – mit den entsprechenden Konsequenzen. Paartherapie hat dann zum Ziel, diese Sicherheit (wieder) herzustellen. Das Modell der emotionalen Sicherheit hilft, die beteiligten Affekte und Emotionen in ihrem gesamten Spektrum zu erkennen, auszuhalten, einzuordnen und schließlich zu integrieren. Es ist nicht so sehr eine Behandlungsmethode als vielmehr eine Art, den therapeutischen Prozess zu reflektieren. Catheralls Ansatz ruht auf der reichen Erfahrung des Autors als Paartherapeut und als Professor an der Feinberg School of Medicine in Chicago.
Über den Autor:
Don R. Catherall, Ph. D., ist außerordentlicher klinischer Professor an der Feinberg School of Medicine an der Northwestern University in Evanston, Illinois.
Heute vor 85 Jahren wurde Heinz J. Kersting in Aachen geboren, einer Stadt, der er bis zu seinem Tod am 4. Dezember 2005 die Treue hielt. Er war ein wichtiger Wegbereiter des systemisch-konstruktivistischen Ansatzes in der Supervision und hat durch seine zahlreichen Veröffentlichungen Weiterbildungsaktivitäten und auch Verbandsmitgliedschaften dazu beigetragen, Supervision als systemisches Anwendungsgebiet zu etablieren. Ursprünglich war er katholischer Priester, einen Stand, den er dann aber früh verließ, um sich sozialen Aktivitäten zuzuwenden. Er machte Ausbildungen in sozialer Gruppenarbeit, erwarb ein Diplom in Supervision ausbilden und promovierte schließlich in Erziehungswissenschaften über die Kommunikationstheorie der Palo-Alto-Schule. Ab 1970 lehrte er an der Katholischen Fachhochschule in Aachen und Köln, ab 1981 dann als Professor für Methodik und Didaktik an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach.
1985 gründete er mit Weggenossen das Instituts für Beratung und Supervision (IBS) in Aachen, für das er als wissenschaftlicher Direktor tätig war. Aus dieser Position heraus war er auch Mitbegründer und Gründungsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSv), in der er sich als Systemiker zunehmend alleine fühlte. Auf diese Weise lernten wir uns kennen und nach einigen Treffen schlug ich 1996 eine Aufnahme des IBS in die Systemische Gesellschaft vor, die damals noch trotz ihres Namens als Fachverband auch für Supervision in erster Linie therapeutisch ausgerichtet war. Das IBS war das erste Mitgliedsinstitut in der systemischen Gesellschaft, das keine therapeutischen Weiterbildungen durchführte. Trotz einiger Bedenken wurde das Institut aufgenommen, was sich als großer Gewinn für die SG herausstellte. Heinz arbeitete aktiv im Supervisionsausschuss der Systemischen Gesellschaft und an der Erarbeitung von Weiterbildungsrichtlinien in Supervision mit, war später auch Ausschussvorsitzender. 2002 organisierten wir als Supervisionsausschuss eine wunderbare Tagung zum Thema Macht und Supervision („Supervision zwischen Macht und macht nix…“), auf der er sich in seinem Hauptvortrag mit der Bedeutung von Affekten in der Supervision beschäftigte, die seiner Meinung nach vor allem bei den Luhmannianern zu kurz kamen.
Viel zu früh ist er im Alter von nur 68 Jahren gestorben, seine Weisheit, seinen Humor und seine Lust am Genuss sind mir in der Erinnerung immer gegenwärtig. 2005, noch nicht ahnend, dass er so bald sterben würde, bat ich ihn in einem Interview für ein Luhmann-Special im systemagazin von der Geschichte seines Zugangs zu Luhmann und dessen Systemtheorie zu erzählen. Daraus ist ein spannender Text über seinen Werdegang und die Entwicklung seiner systemischen Perspektive geworden, auf den ich anlässlich seines 85. Geburtstages gerne an dieser Stelle noch einmal verweise.
Unter der Vielzahl von Arbeiten, die sich mit der Rolle von Affekten und Gefühlen in Psychotherapie und Beratung beschäftigten, sind vergleichsweise wenig Artikel über das Weinen zu finden. Im aktuellen Jahrgang der Zeitschrift OSC (Organisationsberatung, Supervision, Coaching) ist Online First ein Artikel von Fabienne Gutjahr und Heidi Möller zum Thema Weinen im Coaching erschienen, der als Open Access frei gelesen werden kann.
Im abstract heißt es: „Das Weinen als fundamentaler menschlicher Emotionsausdruck wirft innerhalb verschiedener Fachdisziplinen seit jeher Fragen auf. In den letzten Jahren lässt sich auch innerhalb der klinischen Forschung eine zunehmende Beschäftigung mit diesem Thema beobachten. U. a. konnte im Rahmen einer Untersuchung an der Universität Kassel eine Systematisierung über verschiedene Formen des Weinens in der Psychotherapie und unterschiedliche therapeutische Verhaltensweisen im Umgang damit entwickelt werden. Im vorliegenden Artikel werden die Erkenntnisse dieser Untersuchung auf den Bereich des berufsbezogenen Coachings übertragen und nutzbar gemacht. Die Bedeutung des Weinens für das Coaching wird im Allgemeinen sowie im Zusammenhang mit Trauerprozessen und krisenhaften Entwicklungen diskutiert. Es werden verschiedene Implikationen für die beraterische Praxis abgeleitet.“
Als Fazit halten die Autorinnen fest: „Es wird deutlich, welche Rolle das Weinen im Coaching einnehmen kann und welche Chancen eine Beschäftigung damit verspricht. Tränen sind keineswegs eine „lästige“ Nebensache beim Besprechen wichtiger Themen. Im Gegenteil: Im Weinen liegt ein Potenzial für den Coachingprozess (vorausgesetzt, die Coach weiß es zu nutzen). Dabei ist Weinen nicht gleich Weinen: Tränen können sich hinsichtlich des Anlasses, des Ausdrucks und der Funktion unterscheiden und damit auch unterschiedliche Reaktionsweisen darauf erfordern. Im besten Fall gelingt es der Coach, sich immer wieder neu auf Tränen im Coaching einzulassen und nachzuspüren, was diese ausdrücken und welcher Umgang damit für die Klient:in in der jeweiligen Situation am hilfreichsten ist. … Es gibt kein Patentrezept für den Umgang mit Weinen im Coaching. Genauso wie jede Klient:in sich hinsichtlich ihrer Persönlichkeit und ihren Bedürfnissen unterscheidet, muss auch jede Coach für sich einen stimmigen Stil im Umgang mit Emotionen finden. Dennoch kann ganz klar und unabhängig von jeglichen Unterschieden Eines empfohlen werden: Der Klient:in sollte jederzeit das Gefühl vermittelt werden, dass ihre Tränen in der Coachingpraxis fließen dürfen. In diesem Zusammenhang kann der berühmte Taschentuchspender aus unserer etwas humoristischen Eingangsfrage also durchaus eine bestimmte Haltung transportieren und als Einladung verstanden werden: „Hier sind Sie sicher, hier bekommen Ihre Emotionen Raum, egal wie schwierig diese sein mögen.“ Uns bleibt deshalb nur zu sagen: Keine Angst vor Tränen – seien es die eigenen oder die der Coachingpartner:innen!
Heute feiert Cornelia Oestereich ihren 70. Geburtstag und systemagazin gratuliert ganz herzlich. Schon zu ihrem 65. Geburtstag ist an dieser Stelle schon einiges zu ihrem beruflichen Lebensweg, ihrem Engagement für die systemische Bewegung und ihre Person geschrieben worden, was man eigentlich nur wiederholen kann. Ende 2017 ist sie nach 39jähriger Tätigkeit aus der psychiatrischen Klinik in Wunstorf, in der sie seit 1990 1990 Leitende Ärztin der Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie und zudem ab 2008 ärztliche Direktorin der Gesamtklinik war, in den Ruhestand gegangen, der bei ihr aber doch eher ein Unruhestand ist, ist sie doch weiterhin nicht nur der Praxis und Lehre des systemischen Ansatzes verpflichtet, sondern auch in den Diskursen und politischen Debatten aktiv, die auch die systemische Szene mehr als nötig hat.
Liebe Cornelia, wo immer du Reisefreudige dich auch gerade aufhalten magst, ich gratuliere dir von Herzen zum runden Geburtstag, der ja noch einmal anders als der 60. einen Eintritt in ein Alter markiert, das man mit Gelassenheit, Entspanntheit und Zufriedenheit annehmen muss. Dass dir dies gelingt und wir auch weiterhin von deinem Engagement und deiner Übersicht profitieren werden, daran habe ich keinen Zweifel, dass die Umstände, die diese Haltung ermöglichen und erleichtern, noch lange bestehen mögen, wünsche ich dir – wie du siehst mit vielen anderen – von Herzen.