systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

10. Dezember 2012
von Tom Levold
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Erinnerungen an Kopftuchzeiten …

Sabine Klar, Lehrtherapeutin aus Wien, ist Autorin der Geschichte zum 10.12. im Adventskalender. Sie berichtet eindrucksvoll und freimütig vom Versuch eines inneren Kulturwechsels, der mißlang und gleichzeitig in eine andere Form innerer Unabhängigkeit führte:

Ich bin eine Grenzgängerin – man kann das als verrückt bezeichnen, als Narretei – für mich ist es der Versuch, der Vielfalt, der ich in meinem Leben begegne und begegnet bin, gerecht zu werden und mich dennoch verantwortlich zu entscheiden. Es war für mich immer schon so, dass mir viele verschiedene Wege gleichermaßen richtig erschienen, daß ich sie verstehen und nachvollziehen konnte. Zeitweise habe ich mich auf einen dieser Wege verpflichtet – weil ich ihn intensiver, sozusagen von innen heraus verstehen wollte. Zu anderen Zeiten habe ich mich von denselben Wegen gelöst – um andere Menschen besser begreifen zu können und um wieder mehr Weite und Freiheit zu erfahren.
Vor inzwischen etwa 15 Jahren bin ich ein Jahr lang „unter dem Kopftuch gegangen“ – im vollen Bewusstsein der Provokation, die damit für mein Umfeld verbunden war, denn ich war damals schon zehn Jahre lang Psychotherapeutin, fünf Jahre Lehrtherapeutin und voll in meinem Beruf und in das konstruktivistische Denken integriert. Ich konnte meine Entscheidung damals gut nachvollziehen, wollte Heimat in einer religiösen Bindung erleben und mich gleichzeitig mit „Haut und Schleier“ auf eine Liebesgeschichte mit einem Mann einlassen. Daher stürzte ich mich in den Fluss und schwamm an ein völlig unbekanntes Ufer, kehrte zu einem einfachen Kinderglauben zurück, trat ein in eine Welt, wo es Gerechtigkeit gibt, Ordnung, Vorherbestimmung und Sicherheit. Vieles war echte Suche und echtes Finden – sich einem Gott überlassen, von dem man sich kein Bild machen darf und in dieser Hingabe Frieden finden; die Integration dieser Haltung in den Alltag; die Einfachheit und Nüchternheit des Ritus. Ich wollte zuhause sein – bei dem islamischen Mann, bei den islamischen Frauen, in der religiösen Gemeinschaft. Außerdem war ich vom Exotischen fasziniert und habe bei manchen Aussagen genickt und gestrahlt, obwohl sich mein Denken und mein Gefühl dagegen sträubten. Ich habe zugestimmt, um dazuzugehören. In diesem Rollenverhalten hätte ich mich fast verloren. Ich wußte gar nicht mehr, wer ich war – zeigte mich in der Arbeit mit Klienten anders als in der islamischen Gemeinde, anders als bei meinen Verwandten, bei meinen Dienstgebern, bei meinen Freunden. Ich konnte mich selbst in den verschiedenen Kontexten meines Lebens nicht mehr wieder erkennen. Schließlich begann ich meine Kinder in eine Richtung zu beeinflussen, zu der ich nicht stehen konnte und auch meine Therapien verloren an Qualität.
Heute erscheint mir diese Phase nur mehr schwer nachvollziehbar. Es war sicher die eigenartigste und befremdlichste Zeit meines Lebens, gespickt mit komischen Situationen: Ich bin z.B. mit dem Kopftuch bis zur Türe meiner therapeutischen Praxis gegangen, habe es dort abgelegt, um die KlientInnen nicht zu verwirren, und es beim Weggehen wieder angelegt. Ich bin in der Mittagspause in die nahe Moschee beten gegangen und habe mich dort mit konvertierten Österreicherinnen getroffen und ihren Eheproblemen zugehört. Dieselben Frauen kamen dann mit ihren vorwiegend arabischen Männern zu mir in Paartherapie, weil sie mir vertrauten. Sie konnten gut akzeptieren, dass ich im Kontext meiner Arbeit kein Kopftuch trug, im Umfeld der Moschee und auf der Straße aber schon. Die Kenntnis der religiösen Vorschriften war sehr hilfreich bei diesen Paartherapien. Die österreichischen Frauen kannten sich besser damit aus als ihre arabischen Männer, was ihnen ermöglichte, diese auf einer ihnen entsprechende Weise zu anderen Verhaltensweisen anzuregen.
Als ich von neuem aufbrach, das Kopftuch ablegte und andere Beziehungswege beschritt, empfand ich Gefühle von Verrat und von schmerzlichem Verlust. Gleichzeitig erschien es mir ungeheuer befreiend, wieder unabhängig von diversen Normen und Bindungen denken und Menschen mit anderen Vorstellungen nahe kommen zu können. Ich spürte damals sehr deutlich, wie vorläufig meine Entscheidungen waren und wie sehr die Sichtweise, mit der ich mich jeweils identifiziere, zur Konstruktion meiner Persönlichkeit und der Welt, in der sie lebt, beitrug. Alte Bindungen lösten sich wieder auf, neue entstanden. Ich fühlte wie ein anderer Mensch, wusste eine Zeitlang gar nicht so recht, wer ich war.
Die Folge dieser Lebenserfahrung ist zum einen, dass ich kein Einzelnes mehr absolut setzen möchte, auch meine diversen Rollen, Meinungen und Glaubensvorstellungen nicht. Ich weiß nicht, ob ich mich wieder erkennen würde, wenn ich in einer anderen kulturellen Umgebung auf mich träfe und verstehe Menschen besser, die in solchen sozialen Kontexten leben. Andererseits widerstrebt mir seitdem die Idee noch mehr als früher, meine Identität ausschließlich relational aufzufassen oder als bloße Erzählung narrativ zu dekonstruieren. Ich habe erlebt, dass dieses Motiv zu einer Selbstauflösung führen kann, die in Handlungsunfähigkeit und großem Unwohlsein mündet.
Manchmal berichte ich anderen Menschen über die Geschichten meines Lebens. Die damit verbundene Resonanz bietet mir einen Ort für einen Hauch sozialer und damit nicht mehr einsamer Kontinuität meines Ichs. Gleichzeitig höre ich mir zu, wie ich über mich erzähle und erkenne mich wieder, was mir in aller Veränderung Stabilität verleiht. Schön wäre, wenn das Fließen und die Vergänglichkeit umgeben wäre von etwas, das zuwendend, warm und nicht gleichgültig ist. Ich wünsche mir immer noch ein Du, das zumindest die Kontinuität der Erinnerung bietet – und damit einen Hauch „Überleben“, ein Stück hinausgezögerte Sterblichkeit.

9. Dezember 2012
von Tom Levold
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Zur komplementären Ausdifferenzierung von Organisationen und Funktionssystemen. Perspektiven einer Gesellschaftstheorie der Organisation

Im Jahre 2001 erschien in einem von Veronika Tacke herausgegebenen Sammelband über„Organisation und gesellschaftliche Differenzierung“ ein nun auch im Netz zu findender Text von Tania Lieckweg, heute systemische Organisations- und Managementberaterin bei osb Berlin GmbH (Foto: dortselbst) und Christoph Wehrsig, Soziologie an der Universität Bielefeld, über das Wechselverhältnis der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme einerseits und von Organisation andererseits, wobei sie sich gegen die Annahme wenden, dass durch die Ausdifferenzierung von Funktionsystemen schon festgelegt sei,„dass dass die Identität von Organisationen durch die Funktionssysteme bestimmt wird und umgekehrt Organisationsprozesse bruchlos den jeweiligen Funktionssystemen zugerechnet werden. Dabei wird übersehen, so behaupten wir, dass es sich bei der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften um einen doppelten Differenzierungsprozess handelt: Die Differenzierung von Funktionssystemen eröffnet die Möglichkeit einer Ausdifferenzierung von Organisationen, die ihrerseits die weitere funktionale Differenzierung trägt. Das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft ist als ein komplementäres Steigerungsverhältnis zu verstehen. Damit ist die Frage freigesetzt, wie die Eröffnung von Möglichkeiten und jeweilige Limitationen, die die Ebenen wechselseitig einander zur Verfügung stellen, evolutionär ineinander greifen. Dies versuchen wir im vorliegenden Text zu beantworten, indem wir von der Annahme ausgehen, dass Organisation und Gesellschaft in einem Verhältnis vertikaler doppelten Kontingenz zueinander stehen“
Zum vollständigen Text…

9. Dezember 2012
von Tom Levold
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Weihnachten mitten im Jahr – ein Kind wird geboren

Der heutige Beitrag im Adventskalender stammt von systemagazin-Leserin Bernita Schönröck:

Bis vor einigen Jahren war ich in der Schwangerschaftskonfliktberatung tätig. Das folgende Erlebnis stammt aus dieser Zeit.
Eine Vierzigjährige kommt in die Beratungsstelle. Sie stellt sich vor – ein deutscher Name und ich höre es sofort an ihrem russischem Akzent: sie ist Spätaussiedlerin.  Sie ist erschrocken und fassungslos. Sie sei schwanger, sie wisse nicht, wie sie das ihrem Mann sagen solle, das Kind zu bekommen: unmöglich. Die anderen Kinder sind 12 und 14, sie sind doch schon groß und in Russland geboren und überhaupt: sich in Deutschland zurechtzufinden sei so schon schwer genug. Sie seien gerade aus der zu kleinen Wohnung in das neu gebaute, für eine vierköpfige Familie geplante Haus gezogen. Der Mann habe so lange nach einer guten Arbeit suchen müssen. Sie würden sich immer noch nicht richtig zurechtfinden, in dem fremden Land, das ihres sein soll. – Und dann ein Kind?  Sie nimmt den Beratungsschein.
 Tage darauf  ist sie wieder da. Ihr Mann habe sie in den Arm genommen. Warum um alles in der Welt hast du geglaubt ich wolle kein Kind? Es sei großartig, sie würden das schon schaffen. Sie hätten  im Haus auch Platz für ein drittes Kind. Sie selbst freut sich und sie freut sich nicht. Sie freut sich darüber, dass ihr Mann für sie da ist, dass sie ein Paar sind. Und doch bleibt sie selbst, auch wenn das Kind jetzt kommt,  skeptisch. Ich begleite sie durch die Schwangerschaft. Als das Kind auf der Welt ist sagt sie:
„Wissen sie, wir sind nirgends zu Hause. In Russland waren wir die Deutschen und hier sind wir die Russen. Ich hoffe für mein Kind, meinen Sohn, dass er der erste von uns sein wird, für den das keine Bedeutung mehr hat.“

8. Dezember 2012
von Tom Levold
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Hoffen auf den Weltmarkt

Die Geschichte von Bernd Schmid aus Wiesloch hinter dem heutigen Adventskalendertürchen berichtet von seinen Erfahrungen als Coach und Organisationsberater in Russland, die noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen:

Wiener Kollegen hatten eine Einladung nach Leningrad, wie es damals noch hieß, und baten mich, mit zu kommen. Ich war völlig unerfahren bezüglich der Länder hinter dem „eisernen Vorhang“. Dieser begann sich gerade zu öffnen und Michael Gorbatschows Glasnost und Perestroika waren die Hoffnungsbegriffe in dieser Zeit. Für viele dort und auch für uns war es eine Zeit neuer Horizonte – und der Schwierigkeiten, diese einzuschätzen. Mitten im Januar also, bei nasskalten Schneewetter, besuchten wir ein Maschinenbau-Kombinat im heutigen Sankt Petersburg. Während einer Werksführung wurde uns gezeigt, wo mitten im Werksgelände die Front im Zweiten Weltkrieg verlaufen war. Die Deutschen hatten versucht die Leningrader auszuhungern, was unsägliche Leiden mit sich brachte. Geschichte plötzlich hautnah. Wir sahen uns unvermittelt einerseits als Nachfahren einer Täternation, andererseits richteten sich ausgerechnet auf uns Hoffnungen, irgendwie mit dem Kapitalismus  zurecht zu kommen. Im ersten ausgebrachten Toast des Generaldirektors kam dies so Ausdruck: „Wir sind bereit uns große Mühe zu geben und wollen dem Weltmarkt entgegenkommen. Wir hoffen und wünschen, dass  der Weltmarkt auch uns entgegenkommt“. Ich hatte nicht gewusst, wie sehr mich das russische Sentiment anrühren konnte. Umso schmerzlicher, dass wir natürlich zur erwarteten Brüderlichkeit auf dem Weltmarkt nichts beitragen konnten.
Später haben wir dann für viele Jahre ein Maschinenbauunternehmen in Orsk im Süduralgebiet begleitet. Management Seminare für das Direktorium, Unterstützung und Beratung im Bereich beruflicher Bildung und im Kindergarten Bereich. Man verstand, wie umfassend die anstehenden Umwälzungen sein würden. Die Menschen, die uns dort als Partner gegenüberstanden, waren bislang überzeugte Kommunisten gewesen. Jetzt mussten sie eine neue Orientierung finden. Und ihrer Mentalität entsprechend, suchten sie zunächst Kontakt zum Mitmenschen im Partner, um über Vertrauen entscheiden zu können. Begegnungen, für die uns systemische Ausbildungen wenig vorbereitet hatten. Zum Beispiel besuchte uns der Leiter der dortigen Handelsschule nach den Seminaren spät abends in unserem Quartier. Er stellte einen Korb frischer Erdbeeren und eine große Flasche Wodka auf den Tisch und lud uns ein, mit ihm über Weltanschauungen zu sprechen. Ich erinnere mich nicht, was wir gesprochen haben, was auch damit zu tun hat, dass am Ende die Wodkaflasche leer war. Doch künftig war er für uns ein zuverlässiger Partner. Leider wurden viele damals hoffnungsvoll angegangene Entwicklungen durch kapitalistische Prozesse  innerhalb von Russland und ökonomische Machtergreifungen durch Oligarchen zunichte gemacht. Geblieben sind einige freundschaftliche Beziehungen und eben solche Erinnerungen.

7. Dezember 2012
von Tom Levold
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Als ich einmal fremd war und auf den Hund kam

Heute öffnet Dörte Foertsch das Adventskalendertürchen und macht darauf aufmerksam, dass interkulturelle Verständnis nicht nur zwischen Europa und Papua-Neuguinea vonnöten sein kann, sondern auch, wenn mal als Berlinerin in die Uckermack zieht:

Das Thema interkultureller Begegnung und Erfahrung taucht oft in einem Zusammenhang auf, wenn Menschen verschiedener Nationalität und Sprache zusammen leben. In diesem Sinne über Kultur und Interkulturalität zu reden berücksichtigt manchmal wenig, daß es diverse Kulturen und Sprachen verschiedenster Art auch im eigenen Land geben kann. Menschen sprechen die gleiche Sprache und verstehen sich dennoch nicht, bleiben sich fremd oder erleben sich als feindselig und bedrohlich. Der Mensch aus Papua Neu-Guinea lädt manchmal mehr dazu ein, neugierig auf seine Kultur zu werden und ihn über seine Geschichte auszufragen als mein Nachbar in der Uckermark. Jetzt erreiche ich mit dem Wort Uckermark hoffentlich einiges Erstaunen, Fragen danach, wo das wohl sein könnte oder auch ein wohliges„das habe ich schon mal gehört“ oder gar„da war ich auch schon einmal“.
Die Uckermark ist eine Landschaft nördlich von Berlin in Brandenburg mit dem Naturschutzreservat Schorfheide. Es ist dort hügelig, es gibt Wälder und viele Seen, Landwirtschaft und wenig Arbeitsplätze.
Seit 1990 hat unsere Familie dort ein Haus in einem kleinen Dorf mit insgesamt 70 Häusern, einer alten Feldsteinkirche aus dem 12. Jahrhundert, einem Gutshaus, das bis Ende der achtziger Jahre als Kinderheim betrieben wurde. Es gibt dort keine Kneipe und kein Lebensmittelgeschäft, nur einen Briefkasten und Zigarettenautomaten.
Die Häuser dort sind als Siedlerhäuser nach 1945 aus den alten Gutsgebäuden von Flüchtlingen, heute würde man von Migranten sprechen, aus dem Osten erbaut worden. Die Grundstücke sind alle gleich groß, die Menschen hatten ein wenig zum Bewirtschaften und Tiere, unser Haus hatte eine kleine Wohnung mit Küche und zwei Schlafräumen, einen Stall nach hinten raus und im Dach einen Heuboden. Es gab ein Plumpsklo hinterm Haus und lediglich kaltes Wasser. Mit der Bodenreform in der ehemaligen DDR fingen viele Menschen dort an, in den LPGs zu arbeiten, nach der Wende wurden die meisten arbeitslos.
Der frühere Besitzer hatte keine Familie und verkaufte das Haus aus Altersgründen.
Eine unserer ersten baulichen Maßnahmen bestand darin, den aus Blech gestanzten Zaun abzureißen ohne schon zu wissen, wie und ob wir einen Ersatz finden wollten. Das Grundstück war also offen geworden.
Die erste Begegnung mit dem dortigen Pachtförster war sehr feindselig, ruppig und rauh. Wir hatten eine Retrieverhündin, die wir ohne Leine liefen ließen. An einem der ersten Tage dort raste wutentbrannt der Pachtförster mit seinem Jeep auf unser Grundstück. Sein Jagdgewehr hing über seine Schulter und er baute sich klein und schmächtig vor uns mit den Worten auf: „Wenn dieser Hund noch einmal ohne Leine auf dem Grundstück herumläuft, erschieße ich den.“
Da fühlten wir uns wie Feinde aus dem fernen Berlin, die alles wegnehmen wollen. Wir hatten gegen viele „Regeln“ verstoßen, ein Hund ist dort ein Wachhund, der laut bellend an der Leine liegt um Einbrecher zu beängstigen. Der Zaun ist dazu da, das wenige Eigentum zu begrenzen, welches mühsam erhalten werden muß. Der frei umherlaufende Mensch und Hund zerstört die Natur, wenn man ihn und sie nicht kennt.
Heute haben wir eine herzliche und freundschaftliche Beziehung zueinander.
Die fing an, als im nächsten Frühjahr die Störche auf der Wiese hinterm Haus nach Würmern suchten und unser Hund ein Jagdverbot bekam. Dann trafen wir uns, als die alte kopfsteingepflasterte Straße im Dorf  abgerissen wurde um eine überdimensionierte Teerstraße zu bauen und wir protestierten dagegen. Wir trafen uns, um gemeinsam gegen die Wiedereinrichtung einer großen Schweinemastanlage und den Bau einer riesigen Biogasanlage zu protestieren. Der Protest gegen und für brachte uns zusammen.
Dieser Förster ist ein naturverbundener Mensch, kennt die heimischen Tiere und Pflanzen und die wiederkehrenden Störche. Das ist unsere gemeinsame Sprache geworden. Die Uckermark ist eine Gegend, in der die Menschen alle Fremde geblieben sind. Dort gibt es kaum alte Menschen, die dort geboren sind und kaum junge Menschen, die dort bleiben wollen. Es sind überwiegend entwurzelte Menschen, die froh zu sein scheinen, wenn nichts passiert. Manchmal habe ich den Eindruck, unter diesen Voraussetzungen kann nur schwer und sehr langsam etwas wie eine eigene Kultur entstehen. Wenn dann „die Berliner“ kommen wirkt das bedrohlich. Störche haben es gut, sie kommen im Frühjahr und fliegen im Herbst wieder in den Süden, wie die anderen Zugvögel auch.

6. Dezember 2012
von Tom Levold
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Kurt Ludewig zum 70. Geburtstag

Heute feiert Kurt Ludewig seinen 70. Geburtstag. In den vergangenen 30 Lebensjahren hat er die Entwicklung der Systemischen Therapie nicht nur in den deutschsprachigen Ländern, sondern auch international maßgeblich mitgestaltet, wozu ihn seine chilenische Herkunft ebenso wie sein mehrjähriger Aufenthalt in den USA prädestiniert hat. Seiner Übersetzung von Humberto Maturanas und Francisco Varelas Buch „Der Baum der Erkenntnis“ ins Deutsche ist zu verdanken, dass die Arbeiten der beiden Chilenen hierzulande einem größeren Publikum bekannt geworden sind. Auch der Rezeption der Luhmannschen Systemtheorie innerhalb der systemtherapeutischen Szene hat er wichtige Wege gebahnt. Seine zahlreichen Aufsätze sowie das eigentlich – auch wenn als solches nicht vermarktete – allererste deutschsprachige Lehrbuch der systemischen Therapie, nämlich „Systemische Therapie. Grundlagen klinischer Theorie und Praxis“ aus dem Jahre 1992, haben bis heute einen weitreichenden Einfluss auf das Systemische Feld. Kurt Ludewig ist nach wie vor einer der am meisten zitierten Autoren – und das völlig zu Recht aufgrund der Gründlichkeit, Komplexität und Themenvielfalt seiner Arbeiten. Im Unterschied zu manchen anderen war er aber niemals ein bequemer Autor, der sich allzu schnell auf einen Kompromiss à la „kritisierst Du mich nicht, kritisiere ich Dich nicht“ eingelassen hätte, vielmehr kämpfte er – bei aller Verbindlichkeit in der Form – immer mit Leidenschaft für seine Ideen, Konzepte und Modelle. In den über 25 Jahren, die wir miteinander zu tun haben, mal enger, mal weniger eng, haben wir uns von Anfang an bis heute immer wieder ebenso heftig wie wohlwollend über unsere Ansichten und Positionen auseinandergesetzt und manchmal auch darüber gestritten, was nicht dazu führte, dass wir sie hätten aufgeben müssen, aber in jedem Fall dazu, dass wir sie im Zuge dieser Herausforderungen zwangsläufig besser, klarer und präziser formulieren mussten. Unsere Freundschaft hat das vertieft.
Den Lebensweg von Kurt Ludewig an dieser Stelle nachzuzeichnen würde diesen Rahmen sprengen, stattdessen ist nun in der Systemischen Bibliothek des systemagazin das ausführliche Interview mit Kurt nachzulesen, das Günter Reich für den „Kontext“ im Jahre 2008 geführt hat und in dem Kurt seinen Weg von Chile nach Europa und in die Systemische Therapie ausführlich erzählt.
Kurt war und ist nicht nur einer der führenden theoretischen Köpfe der Systemischen Szene, sondern auch ein enorm effektiver Organisator und jemand, der durch seine Initiative, seine Emotionalität (die im erstaunlichen Kontrast zu Inhalt und Form seiner theoretischen Leidenschaften steht) und seine fachpolitische Tatkraft Dinge besser als die meisten voranbringen kann. Als Gründungsvorsitzender der Systemischen Gesellschaft hat er dies sechs Jahre lang vielfach unter Beweis gestellt. Auch in diesen gemeinsamen Vorstandsjahren konnten wir aus unseren manchmal unterschiedlichen Vorstellungen immer wieder Funken schlagen, die in der Lage waren, größere Feuer zu entzünden und Prozesse in Gang zu bringen. 2004 organisierten wir dann gemeinsam (mit Gisal Wnuk-Gette, Anni Michelmann, Arist von Schlippe, Wilhelm Rotthaus und Friedebert Kröger) den großen EFTA-Kongress mit 3.500 Teilnehmern im Berliner ICC, der größte Kongress, den eine spezielle Therapieschule bis dahin in Europa zusammenbekommen hat. In den drei Jahren der Vorbereitungszeit lernte ich dann noch einmal einen Kurt kennen, der mich als Manager mit seiner Genauigkeit, einer unglaublichen Energie und einem noch unglaublicheren Gedächtnis überraschte und begeisterte (chapeau!!) – ohne ihn wäre der Kongress nicht ein solcher Erfolg geworden. Neben aller professioneller Verbundenheit hat sich zwischen uns über alle diese Jahre bis heute eine Freundschaft entwickelt, die ich nicht missen möchte. Dazu zählen viele Begegnungen an vielen (Veranstaltungs-)Orten ebenso wie die wechselseitige Begleitung in widrigen Lebensphasen.
All dies ist Grund genug, heute das Glas auf Kurt Ludewig zu erheben, ihm zu danken, was er in seinem Leben zustande gebracht hat, und ihm nachzusehen, was gewiss auch nicht gelungen ist. Auch wenn er beschlossen hat, im fortgeschrittenen „Rentenalter“ in erster Linie zu privatisieren,  ist sicher auf die eine oder andere Weise mit ihm zu rechnen – unter anderem mit einem neuen Buch, das demnächst bei Carl Auer zu erhalten sein wird. Kurt, im Namen vieler Freunde und Weggefährten: Auf Dein Wohl und Alles Gute für die kommenden Jahre!

6. Dezember 2012
von Tom Levold
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Verstehen oder Nicht-verstehen, das ist hier die Frage

Am Nikolaus-Tag berichtet systemagazin-Leserin  Kerstin Matthiessen im Adventskalender kritisch von ihrer systemischen Weiterbildung:

Meine systemische Geschichte spielt in einer Großstadt in Deutschland im Jahre 2011. Während meiner systemischen Ausbildung in irgendeinem systemischen Institut in unserem riesengroßen Land begab es sich also, dass eine kurdischstämmige, politisch engagierte und frei denkende Frau die Ausbildung zur systemischen Beraterin und Therapeutin erlernen wollte. Sie arbeitet mit Migranten. In diesem Kurs befanden sich neben dieser Kurdin 17 deutschsprachige und deutschstämmige (was immer das auch sein mag) Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Die erste Grundregel, die wir während unserer systemischen Exkursion wissenschaftlich wie auch praktisch erlernen sollten, war folgende: Wir gehen immer davon aus, dass wir den anderen nicht verstehen können. Nach mehreren Monaten des systemischen Studiums, kamen wir zur Familienskizze … Wir brachten alle Fotos aus unserer Familie mit. Ganz „brave“ Nazi-Großeltern blickten uns von Fotos an, und wir alle wurden uns nochmal unserer Nachkriegsgenerationen bewusst und den Einwirkungen, welche diese schreckliche Nazi-Herrschaft auch auf uns als Kinder und Enkel, in unserer Erziehung, Gesellschaft und Sozialisation hat. Die kurdischstämmige Frau zeigte Fotos aus einem Bergdorf. Das systemische Studieren setzte sich fort … mehr oder minder erfolgreich, aus meinem systemischen Verständnis heraus. Die starke, politisch engagierte Frau aus dem Süden wurde allerdings aufgrund von Verständigungsproblemen aus dem Kurs ausgeschlossen! Als Grund wurde ihre mangelnde Beherrschung der deutschen Sprache angeführt. Ich hatte und habe keine Probleme, sie zu verstehen. Bei der Arbeit mit Migranten frage ich mich, wie ein systemischer Berater Migranten beraten will, wenn er sich nicht auf ihre Holprigkeit in der Verwendung der deutschen Sprache einlässt. Und auf den Versuch, ein anderes Denken und Handeln zu akzeptieren und sich dem eigenen Nicht-Verstehen zu öffnen. Soviel zu meiner Erfahrung innerhalb einer ganzen Gruppe angeblicher Systemiker.

5. Dezember 2012
von Tom Levold
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Die neuere Systemtheorie und ihre Implikationen für das Verständnis von Organisation, Führung und Management

Im Haupt-Verlag in Bern ist in diesem Jahr eine Festschrift für Peter Gomez erschienen, die von Johannes Rüegg-Stürm und Thomas Bieger herausgegeben worden ist. Peter Gomez ist Vertreter der St. Gallener Management-Schule, die explizit systemisch ausgerichtet ist. Im Klappentext heißt es:„Es war und ist Peter Gomez stets ein grosses Anliegen, Organisationen als komplexe Systeme und Management als eine voraussetzungsreiche Form einer geteilten und verteilten Praxis des Organisierens mit weitreichenden strategischen und ethischen Implikationen zu verstehen. Dieses Buch zu Ehren von Peter Gomez möchte eine kleine Reflexionsplattform für Management als Praxis eröffnen – und Inspiration bieten für konstruktive Debatten zu aktuellen und absehbaren Herausforderungen und Entwicklungsperspektiven von Management als gesellschaftlicher Funktion“ Einen umfassenden Beitrag (von fast 60 Seiten) zum Buch hat Rudolf Wimmer mit einem Aufsatz über„Die neuere Systemtheorie und ihre Implikationen für das Verständnis von Organisation, Führung und Management“ beigesteuert:„Der vorliegende Beitrag tritt mit dem Ziel an, zu einer kraftvollen Revitalisierung des Systemansatzes zu ermutigen. Das Zeitfenster für einen solchen Neustart ist im Moment außerordentlich günstig. Die Auswirkungen der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise, die anhaltenden Turbulenzen um die wachsende Staatsverschuldung und die damit verbundenen Verunsicherungen der gesamten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in einem globalen Maßstab haben vielen bislang unhinterfragten Grundüberzeugungen der ökonomischen Forschung die Legitimationsbasis entzogen. Dies gilt sowohl für fundamentale makroökonomische Zusammenhänge wie auch für das Verständnis des Stellenwertes von Unternehmen, eingebettet in diesen weiteren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext. Die folgenden Überlegungen verdanken sich der festen Überzeugung, dass eine Weiterentwicklung des St. Galler Systemansatzes in Richtung der Erkenntnisse der neueren Systemtheorie jenes metatheoretische Begriffsrepertoire und Denkvermögen zu mobilisieren vermag, das in der Lage ist, einen angemessenen Zugang zum Verständnis der aktuellen gesellschaftlichen wie auch wirtschaftlichen Eigendynamik zu gewinnen. In diesem Sinne gilt es im Folgenden zunächst einige zentrale Dimensionen des zurzeit beobachtbaren gesamtgesellschaftlichen Strukturwandels zu benennen, um dann vor diesem Hintergrund ein paar zentrale Theorieangebote für ein weiterentwickeltes Verständnis von Organisation, Management und Führung zu formulieren“ Der Text ist auf der Seite der osb AG zu finden,
und zwar hier…

5. Dezember 2012
von Tom Levold
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Traurig

Heute öffnet Wiltrud Brächter die fünfte Türe des Adventskalenders mit einer kleinen Episode:

Zu meiner Arbeit in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis gehört auch die Eingangsdiagnostik, in der es um einen Eindruck davon geht, wie sich ein Kind fühlt und was es beschäftigt. Im Satzergänzungstest, bei dem vorgegebene Satzanfänge von Kindern beendet werden, bildet ein etwa siebenjähriger Junge den Satz: „Ich bin traurig, … dass ich ein Brauner bin.“ In solchen Momenten kann ich nicht ruhig und neutral bleiben, sondern muss Stellung beziehen. Doch wie erklärt man einem Kind, dass nicht seine Hautfarbe das Problem ist, sondern rassistische Ausgrenzungen und Zuschreibungen, die sich bis in die Mitte der Gesellschaft ziehen? Ich habe ihm wohl gesagt, dass ich seine braune Farbe schön finde und niemand das Recht hat, in deswegen zu ärgern. Ich hätte auch sagen können: „Ich bin traurig und wütend, dass Du deswegen traurig sein musst“.

4. Dezember 2012
von Tom Levold
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Wunder und Zauber

Wie die Wunderfrage und andere lösungsorientierte Interventionen von einer Klientin nicht als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden, sondern als echter therapeutischer Zauber erlebt wurde, schildert im heutigen Adventskalendertürchen Peter Kaimer, systemagazin-Lesern auch bestens bekannt:

Meine erste Therapie mit einer Angehörigen eines mir fremden Kulturkreises (wenn man davon absieht, dass ich aus Österreich stamme ;-)) hatte ich vor ca. 25 Jahren. Und ich hatte keine Ahnung von den kulturspezifischen Hintergründen dieser Frau, die erst vor wenigen Jahren nach Deutschland gekommen war. Auch muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich trotz einer damals bereits lösungfokussierten Haltung glaubte, mich nicht allzu intensiver mit diesem Hintergrund beschäftigen zu müssen. Ich hatte ja meine lösungsfokussierten Fragen und ergänzend mein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Handwerkszeug. Und ich hatte ein engagiertes Team hinter dem Monitor, welches mich in dieser Arbeit begleiten wollte. Wir begannen unsere gemeinsame Arbeit und Schritt für Schritt (er)fanden wir kleine für die Klientin brauchbare Schritte in Richtung ihres persönlichen Wunders. Der Weg der Arbeit erwies sich – wie es wohl für die meisten von uns Psychosozialarbeiter(inne)n so üblich ist – als gewundener Verlauf mit Erfolgen, Rückschlägen sowie Lernprozessen aus beiden. In den Rückmeldungen vermittelten wir der Klientin im Rahmen der Komplimente immer wieder unsere Anerkennung für das, was sie alles geschafft und ausprobiert hatte. Und schlussendlich kamen wir zu dem Punkt, wo es gut sein sollte und konnte. Die Klientin hatte einen Großteil ihrer Ziele erreicht und wir versuchten eine gemeinsame Bilanz der Therapie zu ziehen. In der Vorbereitung überlegten wir sehr sorgfältig, wie wir die „Verantwortung“ für die Erfolge bei der Klientin lassen und unsere Rolle als Begleiter (oder wie Wolfgang Loth schreiben würde „Beisteuernde“) formulieren könnten. Doch dies erwies sich als vergebliches Unterfangen. Trotz all der Einzelpunkte, welche die Klientin bereit war als ihren Beitrag zu sehen, bestand sie darauf, dass wir „gezaubert“ hätten. Das wäre ihr ja schon bei der „Wunderfrage“ aufgefallen, dass sich da etwas geändert hätte, und die folgenden Schritte wären nur aufgrund dieses Beginns möglich gewesen. Und sie wisse auch, dass dieser „Zauber“ notwendig gewesen sei, um ihr einen Ausweg aus ihrer schwierigen Situation zu ermöglichen. Tja, wir verabschiedeten uns von ihr (mein Team und ich) höflich, irritiert, etwas sprachlos. Sechs Monate später berichtete sie beim Follow-Up, dass der „Zauber“ zwar etwas von seiner Wirkung verloren hätte, aber er würde nach wie vor ausreichen … die einzelnen erarbeiteten Bewältigungsstrategien wende sie gelegentlich an.