Das „Aber …“
Leben ist in seinem Wesen dadurch gekennzeichnet, dass es sich Hüllen baut, sich Schicht um Schicht dort umhäutet, wo etwas zusammen gehalten und zusammen gewoben und anderes abgeschirmt und draußen gelassen werden soll. Es werden Membranen, Häute, Gewebe, Grenzen unterschiedlicher Art gebildet. Das Veränderte wird entfernt, das Vorgesehene weiter erzeugt, das Unnötige ausgeschieden. Das einzelne Lebewesen muss geeigneten Abstand wahren, sich von seiner Umgebung abschirmen und sich ihr gleichzeitig dosiert öffnen. Die Unterscheidungen zwischen Innen und Außen, dem Dazugehörenden und dem Fremden, dem Bewahrenswerten und dem Aufzulösenden sind auch im sozialen und geistigen Bereich eine ständige Aufgabe, die dazu dient, das vertraute Eigene zu erhalten und trotzdem beweglich zu bleiben.
Ich persönlich lerne gerade an den „Rissen und Beulen“ meiner Welt besonders gut. Dort wo ich nichts mehr verstehe, wo mich etwas stört, wo andere sich nicht meiner Erwartung gemäß verhalten, wo ich mit mir unzufrieden werde, zeigt sich, wie ich meine Welt bislang konstruiert habe und was mir daran wichtig war. Es zeigt sich an diesen Stellen auch, wo Erweiterungsnotwendigkeiten meiner Perspektiven bestehen. Grundsätzlich vermitteln mir systemische Zugänge dabei Vertrauen und Hoffnung, denn …
- irgendetwas ist immer gut so wie es ist – bei allem Veränderungsfähigen und Veränderungsbedürftigen gibt es Dinge, Abläufe, Elemente von Situationen, Lebenslagen oder Personen, die so bleiben sollen, wie sie sind.
- ich habe bereits viele Fähigkeiten, die ich zur Bewältigung von Situationen brauche – ich muss mir dessen nur bewusst werden. Das gilt für mich genauso wie für die anderen.
- ich muss nicht selbst alles zu Ende verstehen – es verändert sich ständig etwas. Menschen sind andauernd damit beschäftigt, ihre Lebenslagen zu gestalten, Situationen haben ihre Eigendynamik – ich kann mich für beides interessieren und daran Anteil nehmen.
- ich muss nichts ganz alleine lösen – die Menschen, mit denen ich zu tun bekomme, helfen mir dabei, zu begreifen.
- es geht oft bloß um den nächsten Schritt und darum, die Veränderungen zu bemerken, die dieser kleine Schritt hervorgerufen hat oder die durch ihn möglich geworden sind.
Die Fähigkeit, mit mir selbst in Beziehung zu treten und mich in den Blick zu bekommen, ermöglicht mir den Eindruck einer gewissen Freiheit und Gestaltungsfähigkeit. Ich kann entscheiden, welche meiner Empfindungen, Impulse und Gedanken ich mit dem Ehrentitel „Ich“ versehen und welche ich als bloß externe Einflussfaktoren betrachten will. Dann kann ich aus der Kraft meines eigenen Wollens bzw. meines eigenen Guten heraus handeln und in meinem sozialen Umfeld klarer erkennbar werden. Bei allen Unwägbarkeiten des Lebens und aller Ungewissheit der Zukunft schafft mir ein gutes Selbstverhältnis einen inneren Bezugspunkt, an dem ich Beheimatung finde. So denken und handeln zu können, wie es mir selbst entspricht, hilft mir auch in meiner Angst – ich bleibe dann sozusagen Herrin meiner Lage und vertraue mir.
Leider treffen manche Ereignisse trotzdem meine wunden Punkte. Dann kommt mir meine Welt plötzlich fremd und bedrohlich vor, so als sei sie ein Feind, der in meine Burg eindringt und dort Chaos und Verwirrung stiftet. Menschen und gesellschaftliche Dynamiken erscheinen mir dumm, ignorant, zerstörerisch und ich würde am liebsten davonlaufen, den Kopf in den Sand stecken oder auf sie dreinschlagen. In solchen Situationen gerate ich aus dem Gleichgewicht, werde misstrauisch, komme mir selbst befremdlich vor, kann mich auch sozial nicht mehr vermitteln und fühle mich alleine und ausgesetzt. Ich vergesse, dass ich auch hier, zumindest in kleinen Bereichen, Gestalterin meiner Situation bin.
In solchen Momenten taucht manchmal etwas auf – tief in mir drinnen oder in den Worten der Menschen rund um mich herum. Es ist das „Aber …“ hinter jedem bösen Eindruck, hinter jedem schmerzlichen Ereignis, hinter jeder schlimmen Geschichte – das „Aber …“, das Hoffnung erlaubt, Vertrauen schafft, Widerstand ermöglicht, die Stimmung hebt. Dieses schwer beschreibbare „Aber …“ vermittelt mir etwas trotzig Kindliches und sehr Lebenskräftiges – selbst wenn ich, nach seiner Begründung gefragt, oft keine Worte und klugen Gedanken finde und mir zuweilen angesichts der Tatsachen lächerlich damit vorkomme. Wenn ich es wahrnehme und darauf vertraue, öffnet sich etwas – es wird alles ein wenig leichter, freier, heller, so als ob ein Sonnenstrahl durch eine dunkle Wolkendecke bricht. Ich atme tiefer und merke, wie verschlossen und hart ich vorher war. Ich nehme Unterstützung an und gehe auf andere zu. Dieses „Aber …“ durchdringt mich selbst in meinen dunkelsten Momenten. Es lenkt meinen Blick auf das Wesentliche, auf das was in dieser Lage gut tut, auf das was ich wirklich will. Es hilft mir, mich besser zu behandeln, die Stimmen und Geister in meinem Hirn zu unterscheiden, Boden unter die Füße und den Kopf über Wasser zu bekommen. Es bringt mich vor allem dazu, das „ichende“ Kreisen um mich selbst zu beenden, mich und die anderen wahrzunehmen, wie wir halt sind, und mir bewusst zu werden, wie sehr wir einander gerade in schlimmen Lebenslagen brauchen. Die Welt erscheint dann plötzlich voll kleiner „Aber …“ – und sie leuchtet wieder.