systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

6. Januar 2014
von Tom Levold
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Die Person in ihrem soziale Kontext

Auch wenn es kein eigentliches Themenheft ist, kreisen die Haupt-Beiträge der letzten Ausgabe des „Kontext“ von 2013 um das Thema der der Person und ihre Einbindung in soziale Beziehungen, Netzwerke, professionelle und gesellschaftliche Zusammenhänge. Im Editorial heißt es: „Den Anfang macht ein sehr lesenswerter, philosophisch und soziologisch informierter Beitrag von Christoph Schneider. Der Soziologe und Systemische Berater beschäftigt sich unter der Überschrift „Person, Individualität, Authentizität“ mit der „kulturellen Bedeutung subjekbezogener Semantik“. Er zeigt dabei auf, dass der Begriff der Person seit der Antike (per-sona = Maske) auf die selektive Übernahme sozialer Rollen und Erwartungen Bezug nimmt, der Begriff der Person also nichts mit unseren heutigen Konzepten von Individualität zu tun hat. Der Personbegriff ist nur über die Relationalität zu anderen Interaktionspartnern zu verstehen, als Ensemble unterschiedlicher sozialer Erwartungen und Rollenvorgaben, die damit erst die Person als solche konstituieren. Dagegen beruht die Konstruktion des Individuums auf dem Versuch einer Abgrenzung von der sozialen Umwelt – im Sinne der Schaffung von Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Allerdings zeigt sich auch hier, dass das Individuum keineswegs eine Kategorie ist, die den sozialen Kontext vernachlässigen könnte, da dieser als Negativ-Folie, von der sich das Individuum als besonders absetzen muss, immer schon mitgedacht werden muss. Die Konsequenzen dieser Überlegungen für den Bereich der Psychotherapie liegen für Schneider in der kritischen Hinterfragung des in diesem Zusammenhang nicht selten angestrebten Ideals „individuell-authentischer Subjektivität“ und einem Plädoyer für die „Form der Person“, die erst die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Interessen und Wünschen erlaube: „Intersubjektive Relationalität bedarf immer eines bestimmten Maßes an Vermittlung, und Vermittlung geht immer mit einem bestimmten Maß an Maskierung einher. Die persona steht mit den Anderen gemeinsam auf der Bühne, Individualität und Authentizität verbannen den anderen ins Publikum“.
Einen ganz anderen Zugang zur sozialen Verortung der Person findet Holger von der Lippe. Bekannte Formen der Visualisierung personaler Zusammenhänge im Bereich von Therapie und Beratung sind das Genogramm und das Soziogramm. Von der Lippe vergleicht die Stärken und Schwächen beider Vorgehensweisen und schlägt unter Einbeziehung neuerer Netzwerktheorien und netzwerkanalytischer Methoden vor, „familiale und nicht-familiale Beziehungen als Genosoziogramme zu konzipieren und diese als egozentrierte (personale) Netzwerke zu analysieren“. Damit können beispielsweise zentrale Beziehungspartner oder ungewöhnliche Beziehungskonstellationen identifiziert und generell unterschiedliche inner- und außerfamiliale Vernetzungsstrukturen sichtbar gemacht werden. Die Reichweite solcher Visualisierungsstrategien für die eigene Hypothesenbildung („Gibt es so etwas wie ,graue Eminenzen‘ im Beziehungsgebilde eines Klienten? Wer sind die offensichtlichen oder heimlichen ,Strippenzieher‘ im Beziehungsnetz? Wer ist in die Kernbereiche des Beziehungsnetzes eingebettet und wer steht eher am Rande?“ ) lässt sich auf diese Weise vergrößern, auch wenn die hier vorgestellte mathematisch-quantitative Methodik in erster Linie für vergleichende Untersuchungen und damit für Forschungskontexte von Interesse sein wird.
Was die Identität einer Person ausmacht, muss im Lebenslauf immer wieder neu bestimmt  werden. Narrative Ansätze orientieren sich an der Frage, wie die eigene Identität als Person oder Individuum durch Erzählung und Geschichten konstruiert wird und sich im Verlaufe dieses Prozesses ausdifferenziert und verändert. Ludger Kühling nähert sich diesem Thema von einer gänzlich anderen Perspektive, nämlich der der aufsuchenden Hilfen. In Kontexten wie der Sozialpädagogischen Familienhilfe haben es Helfer durchaus mit Klienten („Vielsprechern“) zu tun, die einen erheblichen narrativen Mitteilungsbedarf anbieten. Folgt man einem narrativen Ansatz, böte sich an, einen Raum für Geschichten zu schaffen, in denen dann die darin enthaltenen Ressourcen für die Bewältigung anstehender Aufgaben herausgearbeitet und gewürdigt werden können. Für Kühling ist das aber eine ambivalente Perspektive, geht es doch häufig aufgrund der Auftragslage (z.B. in Zwangskontexten) um die Erreichung verbindlich festgelegter, konkreter Ziele. Das Einlassen auf Erzählungen und Geschichten der Klienten kann unter diesen Bedingungen zu einem „situativen Driften“ führen, welches die Beteiligten von der Zielverfolgung ablenken kann. Diese Ambivalenz wird im Text nicht aufgelöst, vielmehr schlägt Kühling praktische Interventionen und Vorgehensweisen vor, mit denen man dem Redebedarf der Klienten einerseits einen wohlwollenden, öffnenden Rahmen für seine Erzählungen anbieten, andererseits aber auch einen narrativen Überlauf durch konkrete Strukturierungsmöglichkeiten begrenzen kann.
Die Reihe der Hauptbeiträge wird durch einen Text von Bernhard Pörksen abgerundet, der sich mit einem hochaktuellen Thema befasst, das in den letzten Wochen vor der Bundestagswahl noch einmal an Dramatik gewonnen hat. Wenn die Person, wie eingangs beschrieben, sich durch die Übernahme sozialer Rollen und Erwartungen definiert, dann ist sie in hohem Maße abhängig von der Anerkennung, die ihr in ihren relevanten sozialen Kontexten  zuteil wird. Der Entzug dieser Anerkennung in Form von Exkommunikation oder massivem Reputationsverlust stellt eine schwere Bedrohung der eigenen Identität, ja nicht selten auch der sozialen Existenz dar. Diese Bedrohung ist, so Pörkens These, heute eine andere als in früheren Zeiten. Mit der Veränderung der Medienlandschaft zur globalen Netzkultur ist die Positionierung als öffentliche Person nicht mehr an konkrete Orte (Archive, Zeitungsausgaben etc.) gebunden, weil die entsprechenden Informationen als Daten im Internet weltweit abgerufen werden können, gleichzeitig ist auch die spezifische Zeit, in der die Person sich selbst als solche präsentiert und wahrgenommen (und kritisiert) wird, aufgehoben, weil alles Vergangene im Netz aufbewahrt wird und zu ewiger Gegenwart gerinnt. Damit stellt sich allerdings die Frage, welche Chancen es für eine Veränderung von Personen noch geben kann, wenn alles, was sie in der Vergangenheit gemacht und gesagt haben, dem Publikum für alle Zeiten als gegenwärtiges Faktum zur Verfügung steht. Pörksen hat in der letzten Zeit eindrucksvolle Studien solcher Skandale unternommen, die im Internet schnell eine Eigendynamik annehmen, die von niemandem mehr unter Kontrolle zu bringen ist. In seinem Text für dieses Heft ist der vermeintliche Pädophilie-Skandal um Dany Cohn-Bendit Gegenstand:„Man kann, so zeigt sich, nicht auf einen kollektiven Erinnerungsverlust und die damit gegebene Chance zum Neuanfang warten und muss im Zeitalter der gnadenlosen Dokumentation die Antwort nach dem richtigen Augenblick des Vergessens notwendig für sich bestimmen, individuell und allein. Die Sätze gehen nicht weg. Sie bilden den dunklen Schatten einer Biographie, obgleich der Mensch, der sie einmal gesagt und vielleicht anders gemeint hat, längst ein anderer geworden ist“ Der Beitrag ist 2012 in erweiterter Fassung in einem gemeinsam mit Hanne Detel verfassten Band„Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter“ erschienen, der beim Herbert von Halem Verlag in Köln herausgekommen ist.“
Zum vollständigen Inhaltsverzeichnis…

2. Januar 2014
von Tom Levold
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Wieviel Prävention braucht der Mensch? Tagung in Zürich am 29. und 30.11.2013

Ende November fand in Zürich eine kleine, aber sehr spannende und aufschlussreiche Tagung statt, die mehr Publikum verdient gehabt hätte. Ausgerichtet hatte sie das Ausbildungsinstitut in Meilen, das seit einiger Zeit in Zürich firmiert, aber den Gründungsort (auch als Reminiszenz an die Gründerin Rosmarie Welter-Enderlin) im Namen des Instituts beibehalten hat. Gemeinsam mit der Tagung wurde im Herbst auch das 25jährige Jubiläum des 1988 ins Leben gerufene Ausbildungsinstituts gefeiert, u.a. mit zwei interessanten Film-Matineen. Die Tagung selbst bot ein breites Spektrum an soziologischen, politischen, psychologischen und klinisch-therapeutischen Perspektiven, die die Spanne an unterschiedlichen Positionen zur Notwendigkeit und Begrenzung von Prävention deutlich machte und auch durchaus Stoff für Kontroversen und direkte Auseinandersetzungen geboten hätte, wenn nicht die dicht gepackte Programmstruktur, die von den Veranstaltern gut gemeistert wurde, wie so oft zuwenig Gelegenheiten zur Debatte im Plenum geboten hätte. Gabriella Selva hat einen farbigen Tagungsbericht für systemagazin verfasst,
den Sie hier lesen können…

31. Dezember 2013
von Tom Levold
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Ein Frohes Neues Jahr!

Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin,

zum Abschluss des Jahres 2013 wünsche ich Ihnen allen ein frohes, erfolgreiches, gesundes und friedliches Neues Jahr – bleiben Sie dem systemagazin weiter gewogen (und wenn Sie auch mal eine kleine Pause von systemischen Themen nehmen wollen, gelangen Sie hier auf eine Seite mit einigen meiner Fotografien).

Bis 2014 grüßt Sie herzlich

Tom Levold
Herausgeber

30. Dezember 2013
von Tom Levold
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Psychotherapie im Dialog?

Der erste Jahrgang von „Psychotherapie im Dialog“ mit einer neuen redaktionellen Konzeption liegt nun hinter uns – und man muss bedauerlicherweise feststellen: kein Grund zur Freude. Schon auf die ersten beiden Hefte des Jahres bin ich an dieser Stelle kritisch eingegangen (hier und hier), die beiden nachfolgenden Ausgaben, deren Inhalt mit allen bibliografischen Angaben jetzt im systemagazin nachzulesen ist, relativieren die Kritik leider nicht, sondern bestärken sie. Die schlimmste Änderung besteht darin, dass alle Artikel nun einer kompletten formalen Überarbeitung professioneller Redaktionsmitarbeiter unterzogen werden. Während eine gute redaktionelle Betreuung dafür Sorge trägt, die Texte der Autorinnen und Autoren – wenn nötig – zu korrigieren, stilistisch zu glätten, Redundanzen zu vermeiden etc., werden in der PiD nun alle Beiträge durch einen großen redaktionellen Fleischwolf gejagt, unter Beifügung von hunderten von Spiegelstrichen und Zwischenüberschriften (ich übertreibe nicht, sondern habe nachgezählt!), so dass am Ende ein öder stilistischer Einheitsbrei herauskommt, der für die völlige Gesichtslosigkeit der Texte sorgt – die nun für die Aufnahme in eine anonyme Lose-Blatt-Sammlung für die Approbationsprüfung von PsychotherapeutInnen bestens geeignet wären (in diesem Fall könnte man auch auf die Fotos der Autorinnen und Autoren verzichten, was der Verlagspolitik des Papiersparens entgegenkäme).
In der Tat kann ich keinen einzigen Artikel nennen, den ich – abgesehen vom Informationsgehalt – gerne gelesen hätte bzw. der mir als Text in Erinnerung geblieben wäre! Auch wer als Leser damit einverstanden ist, Textgulasch vorgesetzt zu bekommen, müsste eigentlich die darin liegende Missachtung der Autoren erkennen können.
Ein zweiter Punkt, der ebenfalls die Form betrifft, ist die unsägliche Praxis,  Literaturangaben, auf die die in den Texten verwiesen wird, als PDF mit kryptischen Dateibezeichnungen ins Internet zu stellen. Das ist nicht nur eine Missachtung der Autoren, sondern noch mehr der Leser, die außer den Zwischenüberschriften auch noch Inhalt, Kontext und Referenzen der Beiträge als geschlossene Einheit zur Kenntnis nehmen möchten (vorausgesetzt, dass an dieser Art von Lesern Interesse besteht). Wie mir vom Verlag mitgeteilt wurde, soll dies tatsächlich der Papierersparnis dienen. Während diese Praxis früher bei drei bis fünf Beiträgen pro Heft angewandt wurde, was schon indiskutabel ist, findet sie sich in den beiden letzten Heften in 14 bzw. 13 Fällen, und damit bei fast allen Originalbeiträgen (Glossen, Editorials und Rubriken ausgenommen). Das gilt aber nicht nur für die Printfassung, sondern auch für die Online-PDFs der Beiträge, d.h. für jeden dieser Texte finden sich auf der website des Verlages zwei Dokumente, die man herunterladen und manuell zusammenfügen muss, will man den kompletten Text lesen. Da verbringt man bei 14 Beiträgen schon eine ganze Menge Zeit! Die Zeit verlängert sich beträchtlich, wenn man die Texte in eine Literaturdatenbank einpflegen möchte. So fröhlich bunt und aufgeräumt sich die website auch präsentiert, so langwierig ist der Prozess der Informationsgewinnung. Mittlerweile haben alle Beiträge einen sogenannten DOI („Digital Objekt Identifier“), damit kann jedem beliebigen digitalen Objekt eine URL, d.h. eine Web-Adresse zugeordnet werden. Bibliografieprogramme können den DOI aus einem PDF auslesen und laden dann die entsprechenden bibliografischen Angaben (Titel, Untertitel, Autoren, abstract etc.) aus dem Internet. Leider funktioniert das Auslesen des DOI aus den PDFs der PiD-Beiträge äußerst selten (in den letzten beiden Heften nur bei den unwichtigen Mantelthemen), was bedeutet, dass man jeweils aus einem PDF den DOI kopieren und in das entsprechende Feld einsetzen muss, damit man aus dem Netz die entsprechenden Informationen laden kann. Die sind leider recht schlampig umgesetzt, so dass man Untertitel, abstracts und gelegentlich auch Autorennamen noch zusätzlich manuell kopieren und einfügen muss. Da kann man sich vorstellen, dass man bei ca. 30 Beiträgen pro Heft eine Weile beschäftigt ist. Ich gebe zu, dass das für die meisten Leser irrelevant sein dürfte, möchte aber auf die vorbildliche Umsetzung bei anderen Verlagen (z.B. Wiley, bei dem auch die Family Process und das Journal of Family Therapy erscheinen) hinweisen, bei der man mit einem Klick alle bibliografischen Angaben eines kompletten Heftes als Datei herunterladen und diese dann in die eigene Literaturverwaltung importieren kann.
Ganz unabhängig aber von der Form – und noch viel grundsätzlicher – stellt sich die Frage der inhaltlichen Ausrichtung der Zeitschrift, die sich immerhin einem Dialog der Psychotherapieschulen verpflichtet hat. Schon zu Beginn wurden die einzelnen Hefte spezifischen Störungsbildern gewidmet, die von Autoren unterschiedlicher therapeutischer Ausrichtung behandelt wurden. Da mittlerweile alle marktgängigen Störungen behandelt worden sind, lässt die Heftplanung erkennen, dass nun eine zweite oder dritte Runde gedreht wird, immerhin gibt es ja nach einigen Jahren eine Menge „Fortschritte“ bei der Arbeit mit diesen Störungsbildern zu vermelden. Allerdings kann man nach der redaktionellen Rosskur von 2013 auch feststellen: So wenig Dialog war nie! Nie war PiD weiter weg von einem Diskurs. Womöglich sind alle Fragen ausgeräumt. Womöglich traut man sich an die kritische Diskussion von inhaltlichen Unterschieden gar nicht heran. Womöglich kommt man mit fach- und berufspolitischen Themen in Diskussionen hinein, die man gar nicht führen möchte. Vielleicht kann man aber auch mit Spiegelstrichen, Textgulasch und farbigen Kästchen gar keinen Dialog führen. Dafür braucht es Positionen und Personen, die sich positionieren wollen und können. Die von mir sämtlich sehr geschätzten HerausgeberInnen rechne ich ebenso zu diesem Personenkreis wie den Großteil der hochkarätigen AutorInnen. Allerdings bin ich auch ziemlich sicher, dass ein echter Diskurs im aktuellen Format der PiD keine Chance hat. Vielleicht sollten sich die HerausgeberInnen einen neuen Verlag suchen? Bei Thieme, der eigentlich ein reiner Medizinverlag ist, dürfte kein besonders großes Interesse an der Förderung eines eigenständigen psychotherapeutischen Diskurses bestehen – eine wahrscheinlich vergleichbare Erfahrung konnte ich selbst als Herausgeber von „System Familie“ im Springer Verlag machen.  
Wie auch immer, auch Kritik ermüdet und wird redundant, wenn sie nicht gehört wird – oder nur den Kritiker beschäftigt. Deshalb werde ich mich ab sofort nicht mehr mit der PiD in der bestehenden Form auseinandersetzen, sondern präsentiere zukünftig nur noch die Einträge in meiner Datenbank – und schweige. Den HerausgeberInnen möchte ich dennoch für ihren Einsatz und ihre Arbeit danken und ein gutes Jahr für einen psychotherapeutischen Dialog wünschen!

Zu den aktuellen Heftinhalten kommen Sie hier…

29. Dezember 2013
von Tom Levold
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Michael White (29.12.1948 – 4.4.2008)

Heute wäre Michael White 65 Jahre alt geworden – schade, dass wir ihm dazu nicht mehr gratulieren können. Zum Geburtstag bringt systemagazin einen Artikel von Michael White mit dem Titel„Narrative Practice and the Unpacking of Identity Conclusions“, der 2001 in „Gecko: A Journal of Deconstruction and Narrative Ideas in Therapeutic Practice“ erschienen ist, (Heft 1, S. 28-55). Der Artikel beginnt mit einer ausführlichen Fallgeschichte, dann kommt Michael White darauf zu sprechen, was mit dem „Unpacking of Identity Conclusions“ gemeint ist: „Externalizing conversations, like the one I have just described, represent just one possibility of many in a range of narrative practices. They are by no means a requirement of narrative therapy and, in fact, externalizing conversations are very often absent in my own work with the people who consult me. But they can be very helpful in the unpacking of some of the very negative identity conclusions that people bring with them into therapy.“
Zum vollständigen Text…

28. Dezember 2013
von Tom Levold
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1. Europäische Systemische Forschungstagung 2014 in Heidelberg

Die Systemischen Forschungstagungen in Heidelberg haben mittlerweile eine gute Tradition. Dabei haben sich schon auf den vergangenen Tagungen nicht nur deutschsprachige systemische Forscher, sondern auch Gäste aus dem Ausland wie Peter Fonagy, Guy Diamond, Charlotte Burck oder Peter Stratton getroffen. Nach mittlerweile sechs„Systemischen Forschungstagungen“ wird nun vom 6.-8. März in Heidelberg die erste„Europäische Systemische Forschungstagung“ veranstaltet, wie zuvor wieder unter der bewährten Tagungsorganisation und -leitung durch Jochen Schweitzer, Matthias Ochs und ihrem Tagungsteam. Dieses Mal sind u.a. folgende ReferentInnen zu hören: Russel Crane, Arlene Vetere, Peter Stratton, Maria Borsca, Rolf Sundet, Helmut Rainer, Charlotte Burck, Johannes Rüegg-Stürm, Imelda McCarthy, Jaakko Seikkula, Kirsten von Sydow, Rüdiger Retzlaff, Howard Liddle, Wolfgang Tschacher, Thomas Fuchs, Rudi Dallos, Arist von Schlippe, Gunthard Weber, Peter Rober, Günter Schiepek, Alan Carr, Harald Gündel und viele andere. Wer angesichts dieser geballten Ladung von Wissen und Kompetenz nicht nach Heidelberg kommt, ist im übrigen selbst schuld. Auch die Ausrede, es sei mit dem Englischen so schwierig, taugt nicht mehr, nachdem die Veranstalter entschieden haben, dass alle Hauptvorträge und größten Symposien (die in der Aula der Neuen Uni) von zwei professionellen Simultandolmetscherinnen kontinuierlich übersetzt werden. Damit wird auch für KollegInnen, die ihren Englischkenntnissen nur begrenzt trauen, diese Tagung leicht zugänglich.
systemagazin bringt an dieser Stelle ein Interview, das Jochen Schweitzer der Geschäftsstelle der Systemischen Gesellschaft vor einiger Zeit zur Tagung gegeben hat:

SG: Im nächsten Jahr findet vom 6. bis 8. März 2014 eine Internationale Systemische Forschungstagung in Heidelberg statt – welche Themen werden im Vordergrund stehen?
JS:

Der Titel lautet ja „Systemische Praxis und Forschung miteinander verknüpfen.“ Die Idee ist, dass wir schauen, welche Fragen, die sich aus systemischer Praxis ergeben, in der Forschung bearbeitet werden können. Dies sind vor allem 3 Ebenen: Ergebnisforschung: Damit wollen wir den Kostenträgern zeigen, dass Systemische Therapie und Beratung sinnvoll ist. Prozessforschung: Was wirkt? – Die Bearbeitung dieser Frage soll Anregungen für die Weiterentwicklung systemischer Herangehensweisen geben. Fragen, die sich Praktiker_innen stellen, durch Forschung beantworten. Wir werden 6 Themenstränge haben: Forschung durch Praktiker_innen, Wirksamkeits-/Ergebnisforschung, Theoriekonstruktion und qualitative Forschung, Managementforschung, Forschung in Sozialarbeit und –pädagogik, Europäische Politik und europäische Forschungsvernetzung. Als Eröffnungsredner wird Russel Crane aus Utha, USA, über Kosten-Nutzen-Forschung in der Systemischen Therapie sprechen. Er forscht auf Grundlage riesiger Datenmengen aus US-amerikanischen Managed-Care-Systemen und weist nach, dass die Kosten mit Hilfe der Systemischen Therapie deutlich sinken gegenüber der Nutzung individualtherapeutischer Ansätze. Außerdem wird es Vorträge von namhaften Personen geben, wie Jaakko Seikkula: Er führt im Rahmen einer europäischen Arbeitsgruppe (zusammen mit SG-Mitglied Maria Borcsa, Peter Rober aus Belgien u.a.) fallorientierte Forschung zum Prozessverlauf in Systemischer Therapie durch. Alan Carr aus Dublin, Irland, über die Integration unterschiedlicher systemtherapeutischer Ansätze, Maria Borcsa über Systemische Therapie in nationalen Gesundheitssystemen in Europa sowie Arlene Vetere & Rudi Dallos zu narrativen Forschungsansätzen.

SG: Warum sollten Fachleute aus der systemischen Praxis in ihrer knappen Zeit gerade eine Forschungstagung besuchen?

JS: Sie ist für all diejenigen interessant, die sich selber von Forschung für ihre Praxis etwas versprechen würden. Ich sehe diese Hauptgründe für die Teilnahme von Praktiker_innen an der Tagung: Zum einen die Weiterentwicklung und Verbesserung der eigenen Praxis. Dafür könnten Praktiker_innen Forschungsmethoden verwenden. Da bietet zum Beispiel Maja Heiner mit dem Konzept der Selbstevaluation einen interessanten Ansatz: Ich stelle mir selber Fragen zu meiner eigenen Arbeit. Welche Prozesse sind gut gelaufen, welche nicht? Wie kann ich das in guter systematischer Weise überprüfen? Zum anderen stellen sich Professionelle in Institutionen die Frage: Wir haben eine Zielgruppe, die wir nicht versorgen, sie kommen nicht – was müssten wir tun, um diese Gruppen zu gewinnen? Schließlich gibt die Tagung Anregungen für die Frage: Wie können wir die Art, wie wir Supervision durchführen, zugleich als Qualitätsmanagementsystem nutzen? Praktiker_innen können sich kundig machen, wie man den Nutzen der eigenen Arbeit Dritten gegenüber, also z.B. Arbeitgebern oder Versicherungen, deutlich machen kann.

SG: Können Sie in aller Kürze sagen, was als Systemische Forschung verstanden werden kann? Ist damit die Beforschung systemischen Arbeitens gemeint oder eine systemische Herangehensweise an Forschungsgegenstände?

JS: Beides. In erster Linie die Beforschung von sozialen Systemen, in denen Systemische Therapeut_innen und Berater_innen arbeiten. Erforscht wird die Frage: Was passiert in Beratungs- und Therapieprozessen? Strittig ist, inwiefern es systemische Forschungsmethoden gibt, die von anderen Forschungsansätzen ebenfalls benutzt werden. Es gibt eine Forschung, die an Komplexität orientiert ist und sich für Nebenwirkungen interessiert, die nicht meint, dass sie Ursache-Wirkung sehen kann, sondern komplexe andere Dinge – aber diese Forschung gibt es auch in anderen Ansätzen.
Spezifische systemische Forschung würde ich für eine Engführung halten. Es gibt Forschung systemischer Praxis und systemisch orientierte zirkuläre Forschungsmethoden, aber keine reine systemische Forschung im dogmatischen Sinne (zu der Frage ausführlich s. Matthias Ochs, Jochen Schweitzer (Hg.) 2012: Handbuch Forschung für Systemiker. Göttingen).

SG: Die systemische Forschungstagung findet ja schon seit längerem alle 2 Jahre als deutschsprachige Veranstaltung statt, wird vom Institut für Medizinische Psychologie der Heidelberger Universität organisiert und von den Verbänden SG und DGSF unterstützt. Warum wird die nächste Tagung 2014 international organisiert und warum wurde dafür die EFTA als Konferenzpartner mit ins Boot geholt?

JS: Die Idee kam 2010 zustande, als Peter Stratton, der Vorsitzende der Forschungskommission der EFTA, aus Leeds auf der Forschungstagung in Heidelberg war. Dahinter stand die Erfahrung von der EFTA-Tagung 2004 in Leipzig, auf der viele interessante Kooperationen zustande kamen, von denen man zum Teil heute noch zehrt. Die Forschungen von Arsen zu Paartherapie bei Depressionen, von Ivan Eisler zu Multifamilientherapie bei Magersucht und viele andere Untersuchungen wurden vorgestellt, die in Deutschland vorher nicht bekannt waren. In der Folge wurden verstärkt interessante Referent_innen nach Deutschland geholt.

SG: Die EFTA ist ja auf den (Familien-) therapeutischen Bereich fokussiert. Ist die Tagung dann für andere Berufsgruppen, z.B. Coaches, überhaupt von Interesse?

JS: Die Tagung wird deutlich stärker auf Systemische Therapie fokussiert sein, sie wird aber über die ganze Zeit jeweils einen kompletten Strang in Managementforschung enthalten. Arist von Schlippe wird zu Familienunternehmensforschung referieren, Johannes Rüegg-Stürm aus St. Gallen zum Management von Expertenorganisationen. Es wird weitere Referent_innen geben, die noch nicht endgültig feststehen. Überhaupt entwickeln sich zurzeit noch viele weitere Angebote.

PS: Kurzentschlossene, die sich noch bis zum 31.12. anmelden, zahlen nur 190,00 s
tatt der am dem 1.1.2014 fälligen 220,00 € Gebühr.
Alle weiteren Informationen gibt es hier…

26. Dezember 2013
von Tom Levold
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DGSF-Forschungspreis 2014

 

Die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) schreibt – im jährlichen Wechsel mit der Systemischen Gesellschaft (SG) – einen Forschungspreis aus. Der DGSF-Forschungspreis ist mit 3000 Euro dotiert.
Mit dem Preis soll eine Forschungsarbeit ausgezeichnet werden, die einen innovativen Beitrag zur Weiterentwicklung systemischer Forschung leistet. Dies ist möglich durch ein neuartiges methodisches Design, durch eine spannende Verknüpfung von systemischer Theorie und Methode, durch anregende Theoriebildung und -entwicklung oder durch überzeugende Impulse für die systemische Praxis. Die Forschungsarbeiten können sich auf alle Felder systemischen Arbeitens beziehen und Fragen zur Therapie, Beratung, Supervision, Mediation, Coaching oder Organisationsberatung, aber auch weitere systemisch relevante Themenstellungen bearbeiten. Es können systematisch aufbereitete Einzelfallstudien, Versorgungs-Studien, Prozess- oder Outcome-Studien ebenso wie manualisierte Therapiestudien vorgelegt werden. Möglich sind auch theoretische Arbeiten, die über die Aufarbeitung vorhandener Theorien zu neuen Theoriekonzeptionen führen.
Prämiert werden in erster Linie Arbeiten aus dem deutschen Sprachraum, bevorzugt von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern. Neben rein universitären Arbeiten sind auch Forschungsarbeiten von Praktikerinnen und Praktikern zur Einsendung erwünscht. Die Arbeit soll noch nicht oder nicht vor dem 1. Juli 2013 veröffentlicht worden sein. Die Entscheidung über die Preisvergabe trifft unter Ausschluss des Rechtsweges ein Gremium, in dem Gutachterinnen und Gutachter mehrerer Disziplinen vertreten sind.
Einsendeschluss für den DGSF-Forschungspreis 2014 ist der 28. Februar 2014. Bitte senden Sie die Arbeit in vierfacher Ausfertigung an die Geschäftsstelle der DGSF. Die Preisverleihung erfolgt auf der DGSF-Jahrestagung vom 6. bis 8. Oktober 2014 in Friedrichshafen/Bodensee. Die DGSF ist ein berufsübergreifender Fachverband. Er fördert systemisches Denken und Handeln vor allem im psychosozialen Bereich und in der Wissenschaft und sichert die Qualität systemischer Weiterbildungen. Mit mehr als 5000 Mitgliedern ist die DGSF einer der größten Verbände für Beratung und Therapie in Deutschland.

Einsendungen werden erbeten an den Geschäftsführer der DGSF.

DGSF-Geschäftsstelle
Bernhard Schorn
Jakordenstraße 23
50668 Köln
 

26. Dezember 2013
von Tom Levold
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Wiltrud Brächter: Geschichten von Kindern als Ausgangspunkt eigenen Schreibens

Und hier, wie angekündigt, der letzte Teil des diesjährigen Adventskalenders, beigesteuert von Wiltrud Brächter aus Köln:

Gelesen habe ich immer schon gern und viel, auch geschrieben habe ich zu verschiedenen Anlässen gerne. Dass ich begonnen habe, über Psychotherapie zu schreiben, lag an dem besonderen Feld, in dem ich hier tätig bin: der Kindertherapie. Seit Beginn meiner Arbeit als Spieltherapeutin war ich fasziniert davon, wie Kinder ihre Erfahrungen im Spiel und in eigenen Gestaltungen ausdrücken. Meine Aufgabe als systemische Therapeutin sah ich darin, sie dabei zu unterstützen, Szenen weiterzuentwickeln und sich Lösungen zu erspielen. Sandbilder, vom Problemerleben des Kindes bestimmt, gerieten in Bewegung, wenn Kinder sie „weiter spielten“; stereotypes Rollenhandeln konnte sich auflösen, wenn es in den Kontext einer Handlung eingebettet wurde und ich dem Kind als Gegenüber zur Verfügung stand. Spieltherapie wurde in dieser Ausrichtung zu einer Arbeit an Geschichten, zu narrativer Therapie.
Ich war beeindruckt von der literarischen Qualität, die in vielen der von mir mitverfolgten Geschichten zum Ausdruck kam, teils bereits in Formulierungen während des Spielgeschehens, oft noch pointierter, wenn Kinder mir ihre Geschichte am Schluss der Stunde zum Mitschreiben diktierten. Begonnen hat mein Schreiben über Therapie in solchen Momenten in der Rolle der Sekretärin. Oft gab es in der Endfassung von Geschichten noch einmal neue Wendungen und Lösungsideen; durch den gebräuchlichen Einstieg „Es war einmal…“ wurden schwierige Lebensereignisse zudem vom Kind selbst der Vergangenheit zugeordnet. Gemessen am Metaphernreichtum und an der Fantasie, die viele Geschichten der Kinder durchzogen, erschienen mir therapeutische Geschichten für Kinder von Erwachsenen meist eher flach und eindimensional, zu offensichtlich darauf ausgerichtet, eine Botschaft zu transportieren. Erzählungen der Kinder ließen sich nicht so leicht entschlüsseln wie therapeutische Geschichten eines Protagonisten, der in die Welt hinaus zieht, Schwierigkeiten überwindet und gestärkt aus seinen Abenteuern hervorgeht. Selbst entwickelte Geschichten der Kinder waren häufig vielschichtiger, gaben verschiedenen Aspekten ihrer Person Raum, enthielten zahllose Schleifen und Umwege und besaßen eine Symbolik, die sich einem direkten Transfer in die äußere Realität widersetzte.
Zum Schreiben kam ich zunächst, indem ich Geschichten der Kinder für sie notierte, um sie ihnen zum Abschluss der Therapie zur Verfügung stellen zu können. Das Aufschreiben machte es möglich, flüchtige Momente im Spiel einzufangen, Erfahrungen von Ausnahmen und neuen Möglichkeiten Raum zu geben und wichtige Handlungsschritte noch einmal hervorzuheben.
Konzentrierte sich meine Arbeit zunächst auf den Raum der Einzeltherapie, begann ich später, diese Geschichten zu veröffentlichen: zunächst gegenüber den Eltern, die durch sie oft einen vertieften Zugang zum emotionalen Erleben ihres Kindes gewinnen konnten, anschließend auch in der Fachöffentlichkeit, da mir der therapeutische Gewinn der narrativ orientierten Arbeit zu hoch erschien, um ihn KollegInnen nicht zugänglich zu machen. Bis heute finde ich es hoch spannend, einen Bogen zwischen den Geschichten der Kinder und therapeutischen Hintergrundkonzepten zu schlagen. Ging es mir zunächst darum, Methoden der systemischen Therapie mit der jeweiligen Spielhandlung zu verknüpfen, interessieren mich zurzeit vor allem ein Ego-State-orientierter Blick auf das Spielgeschehen und die Möglichkeit, Kinder und Eltern zur Entwicklung gemeinsamer Geschichten anzuregen. Je nach dem, welchen theoretischen Fokus ich verfolge, sehe ich unterschiedliche und immer wieder neue Aspekte in den Spielhandlungen der Kinder und greife sie auf unterschiedliche Art und Weise auf – ein Prozess, der vermutlich noch einige mir unbekannte Wendungen bereit halten wird.
Wer auf Geschichten und Gedichte von Kindern in therapeutischen Kontexten neugierig geworden ist, findet sie u. a. hier: I. Hesse u. H. Wellershoff (1997): „Es ist ein Vogel – er kann fliegen im Text“: Kinder schreiben sich ihre Geschichten von der Seele. Tübingen (Attempo).

25. Dezember 2013
von Tom Levold
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Peter Müssen: Wirklichkeit gleich Beziehung – Die Geschichte vom Holzpferd

Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin,

eine Weile hatte ich Sorge, ob ich den diesjährigen Adventskalender füllen kann, aber dann haben mir doch so viele Kolleginnen und Kollegen mit ihren Beiträgen geholfen, dass der Kalender mal wieder überfließt. Die beiden verbleibenden Beiträge können Sie also heute und morgen hier lesen. Den Anfang macht Peter Müssen aus Köln, hier sein Beitrag:

Als ich die Einladung von Tom für ein Adventskalendertürchen bekam, dachte ich sofort  an seinen Artikel aus dem Jahr 2000 in ‚System Familie‘ über„149 Bücher aus dem letzten Jahrhundert, die systemische Therapeuten und Therapeutinnen auch zukünftig nicht vergessen – beziehungsweise noch lesen – sollten“
In dem zauberhaften Film von Nora Ephron„Julie & Julia“  kocht Julie die Liste aller 524 Rezepte des großen Kochbuchs von Julia Child„Mastering the Art von of French Cooking“ für Amerikanerinnen nach. Ganz ähnlich habe ich mich vor über 10 Jahren an Toms Liste für Systemiker_innen heran gemacht. An beiden Listen habe ich mich in den letzten Jahren gerne abgearbeitet, ohne sie jedoch zu bewältigen.
Wenn ich jetzt aber sagen soll, welche Texte mir wichtig sind und welche Texte ich in meiner Arbeit gerne nutze (nach den Rezepten hat Tom mich ja nicht gefragt), dann sind es nicht die großen und wichtigen Bücher in meinem Bücherschrank (die sicherlich im Hintergrund wirken), sondern eher kleine Geschichten, Gedichte, Märchen und Erzählungen.
Eine dieser Geschichten möchte ich hier im Adventskalender gerne erzählen; und auch meine Geschichte mit dieser kleinen Geschichte.
Ich besuchte Ende der 70er Jahre einen Studienkollegen, der sich wegen einer persönlichen Krise im Vianney-Hospital in Überlingen am Bodensee aufhielt. Mein erster Kontakt mit einer Psychiatrie.
Seit vielen Jahren lebte dort schon Heinrich Spaemann als geistlicher Rektor. Er ist der Vater des Philosophen Robert Spaemann. Aufgewachsen in einem evangelischen Elternhaus studierte er Kunstgeschichte und trat aus der Kirche aus. Zusammen mit Ernst Bloch war er Redaktionsmitglied der Sozialistischen Monatshefte. Nach seiner Heirat mit der Tänzerin Ruth Krämer wurde 1927 Robert geboren und beide traten in die katholische Kirche ein. Nach dem frühen Tod seiner Frau 1936 studierte Heinrich Spaemann Theologie und wurde 1942 von Clemens August Graf von Galen in meiner Heimatdiözese Münster zum Priester geweiht.
Jeden Abend hielt er einen Gottesdienst in der Kapelle der Klinik und dabei hielt er sich vor allem nicht an die Grundregel für katholische Prediger: Du kannst über alles reden, aber nicht über 10 Minuten. Heinrich Spaemann saß dabei aus Altersgründen auf einem Stuhl und sprach – mindestens 30 Minuten lang. Gleich am ersten Abend erzählte er die Geschichte vom Holzpferd im Kinderzimmer:“Das Holzpferd – so heißt es – lebte länger im Kinderzimmer als irgend jemand sonst.Es war so alt, dass sein brauner Stoffüberzug ganz abgeschabt war.Es war in Ehren alt und weise geworden …
‚Was ist wirklich?‘ fragte eines Tages der Stoffhase, als sie Seite an Seite in der Nähe des Laufställchens lagen. ‚Bedeutet es, Dinge in sich zu haben, die summen und mit einem Griff ausgestattet zu sein?‘
‚Wirklich‘, antwortete das Holzpferd, ‚ist nicht, wie man gemacht ist. Es ist etwas, was an einem geschieht. Wenn ein Kind dich liebt für eine lange, lange Zeit, nicht nur um mit dir zu spielen, sondern dich wirklich liebt, dann wirst du wirklich.‘
‚Tut es weh?‘ fragte der Hase.
‚Manchmal‘, antwortete das Holzpferd, denn es sagte immer die Wahrheit. ‚Wenn du wirklich bist, dann hast du nichts dagegen, dass es wehtut.‘
‚Geschieht es auf einmal, so wie wenn man aufgezogen wird?‘
‚Es geschieht nicht auf einmal, du wirst langsam. Es dauert lange. Das ist der Grund, warum es nicht oft an denen geschieht, die leicht brechen oder die scharfe Kanten haben oder die schön gehalten werden müssen. Im allgemeinen sind zur Zeit, da du wirklich sein wirst, die Augen ausgefallen; du bist wackelig in den Gelenken und sehr hässlich.
Aber diese Dinge sind überhaupt nicht wichtig; denn wenn du wirklich bist, kannst du überhaupt nicht hässlich sein, ausgenommen in den Augen von Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben.‘
‚Ich glaube, du bist wirklich‘, meinte der Stoffhase. Und dann wünschte er, er hätte das nicht gesagt – das Holzpferd könnte empfindlich sein. Aber das Holzpferd lächelte nur …
„Dass uns nicht so sehr ausmacht, welche Eigenschaften, Fähigkeiten oder Qualitäten wir vorzuweisen haben, sondern viel mehr, in welchen Beziehungen wir leben und welcher Art diese Beziehungen sind, das war für mich damals eine wichtige Erkenntnis.
Erst später habe ich mich dann mit„relationaler Ontologie“,„sozialen Systemen“, Konstruktivismus u.ä. beschäftigt und gesehen, wie viele der 149 Bücher aus Toms Liste sich für mich wie in einer Mind-Map mit dieser kleinen Geschichte vom Holzpferd verbinden.
Ich habe damals in Überlingen übrigens nicht den Mut gehabt, dem alten Heinrich Spaemann zu sagen, wie stark ich seine Wirklichkeit gespürt habe. Er hätte ja empfindlich sein können …

24. Dezember 2013
von Tom Levold
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Andreas Wahlster: Lesen und Denken und was wird mehr?

Ende der Siebziger (vergangenes Jahrhundert!) wurde die beschauliche Welt (m)einer kleinen Fachhochschule für Sozialarbeit und Religionspädagogik in der Südwest-BRD von einer sechsköpfigen Gruppe von Studentinnen und Studenten ordentlich aufgerüttelt, vielmehr als durch die schon zum Alltag gehörenden unzähligen Demos, Sit ins, Vollversammlungen und sonstigen politischen Aktionen damals. Die KommilitonInnen hatten eine Gruppenarbeit geschrieben, die sich mit der pragmatischen Kommunikationstheorie von Paul Watzlawick auseinandersetzte und zudem anhand dessen fünf Axiome die Kommunikation in der Hochschule (natürlich kritisch) beleuchteten. Das war mal was, eine echte Abwechslung in Einerlei der Vorlesungen und wenn es zudem noch kräftig was zu kritisieren gab am Lehrbetrieb, hatte das schon mein Interesse geweckt. Dass ich nicht mal wusste, wer Watzlawick ist (bei der damals aktuellen Bundesligatabelle hätte ich deutlich mehr punkten können) habe ich tunlichst wie so viele andere verschwiegen und heimlich bewunderte ich die KommilitonInnen, dass sie sich mit so schwierigen Theorien befassten.
Und doch sollten noch einige Jahre ins Land gehen, bis mich die nächste systemische Infektion befiel. Eines Tages in den Achtzigern ( immer noch vergangenes Jahrhundert) fand ich mich in einem prall gefüllten Hörsaal ( nein, diesmal keine studentische Vollversammlung) der medizinischen Psychologie an der Uni Heidelberg wieder. Die damals auch noch ziemlich jungen Wilden namens Fritz Simon und Gunther Schmidt boten eine Vorlesung mit dem Thema: Einführung in die systemische Familientherapie oder so ähnlich an. Ich arbeitete damals als Sozialpädagoge in einer psychiatrischen Klinik und war zunehmend neugierig auf die Arbeit mit Familien. Ausgestattet mit viel Engagement und stabilem Unwissen, wie Familientherapie „ so überhaupt funktioniert“ , besuchte ich die Vorlesung. Und was musste ich sehen: Loriotfilme! Was, bitte schön, hatte das mit Familientherapie zu tun? Ich war ziemlich sauer, fühlte mich kräftig verarscht und verließ vorzeitig den Hörsaal. Aber die Auswirkungen waren nicht mehr zu vermeiden, es war um mich geschehen. Kollegen, die schon systemisch sattelfester waren, erzählten was von Neutralität, was mich gleich wieder in den Widerstand trieb: „Ich bin nicht neutral“. Als politisch denkender Mensch mit reichlich Demonstrationskompetenz und Kreativität beim Fertigen von Sandwiches, Plakaten und Flugblättern war ich um das Formulieren von eindeutigen Statements selten verlegen und nun das. Meine Entscheidung, die Familientherapie-Weiterbildung ( dass diese auch systemisch ausgerichtet war, realisierte ich im 1. Seminar) zu machen, geriet wieder ins Schwanken. Ach und die viele Fachliteratur ( da standen tatsächlich mehr als fünf Bücher auf einer ersten Literaturliste) –  fast vergessen.
Doch meine Neugier machte mir einen Strich durch die Rechnung, die Bücher ließen sich immer weniger leicht auf die Seite schieben, zumal ich weitere Bücher erwarb.  So begann ich mehr zu lesen, mehr zu verstehen und parallel mit Familien zu arbeiten, Fehler zu machen und fast unmerklich zu lernen. Gleichwohl waren die Lücken noch erheblich und wohlmeinende Freunde haben sich getraut, mir das zu sagen. Denn mittlerweile war ich zum Lehrtherapeuten geworden und jetzt hatte ich den Salat. Also: Lesen und Denken und was wird mehr? Die Neugier und die Lust auf Bücher, Gespräche mit Kollegen und Freunden quer durch die Berufe – um mit Peter Fuchs zu sprechen, es wird transdisziplinär. Und das Schreiben? Ich habe damit begonnen, mit Spaß und Passion, neue Ideen entstehen und ein wohliges Gefühl, etwas verstanden zu haben, obwohl die Lücken nicht weniger, sondern mehr werden. Das Suchen geht weiter