
Heute feiert Norbert Bischof, Psychologe und Bindungsforscher, der mit dem „Zürcher Modell der sozialen Motivation“ eine kybernetische Motivationstheorie entwickelt hat, seinen 95. Geburtstag und systemagazin gratuliert von Herzen. Schon zu seinem 85. Geburtstag ist an dieser Stelle einiges zu seiner Person geschrieben worden, das ich heute nur wiederholen könnte. Auf Youtube gibt es vier Vorträge zur Bindungstheorie von ihm, in denen er seinen Ansatz Schritt für Schritt erläutert. Auch wenn die Vorträge in Englisch gehalten sind, sind sie gut verständlich und ausgesprochen lehrreich.
Die Bindungstheorie, begründet durch John Bowlby und Mary Ainsworth, hat seit den 1980er-Jahren maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklungspsychologie und Pädagogik genommen. Norbert Bischof, ein deutscher Psychologe und Systemtheoretiker, hat diese Theorie nicht nur kritisch hinterfragt, sondern auch bedeutsam erweitert. Seine Arbeit wurde 2011 mit dem renommierten „Bowlby-Ainsworth Award“ gewürdigt, der seine einzigartigen Beiträge zur Erforschung und Theoriebildung der Eltern-Kind-Bindung honoriert. Diese Anerkennung ist bemerkenswert, da sie von denselben Forschungskreisen verliehen wurde, deren Arbeit Bischof kritisch betrachtete und weiterentwickelte. Die Videos des Preisträgers wurden von seiner Tochter Annette Bischof-Campbell ins Netz gestellt.
Ein zentraler Kritikpunkt Bischofs betrifft die Tatsache, dass die klassische Bindungstheorie zwar verschiedene Bindungsqualitäten beschreibt, aber keine ausreichende Erklärung für das grundlegende Entstehen von Bindung selbst liefert. Sein Ansatz hingegen erklärt den Prozess der Bindungsentstehung und füllt damit eine konzeptionelle Lücke der klassischen Theorie. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft das Konzept des „Internal Working Model“ in Bowlbys Theorie, das laut Bischof uneindeutig und unpräzise bleibt. Dieses Konzept beschreibt, wie Menschen auf Basis früher Bindungserfahrungen innere Repräsentationen von Beziehungen entwickeln. Bischofs systemtheoretische Herangehensweise bietet eine präzisere Formulierung dieses Konzepts, das in der ursprünglichen Theorie vage bleibt.
Die Jury des Bowlby-Ainsworth Award hob besonders Bischofs „systemtheoretischen Ansatz sowie seine Computermodellierungen als innovativen Beitrag zur Bindungstheorie“ hervor. Diese methodische Innovation erlaubt eine präzisere und empirisch überprüfbare Darstellung der komplexen Prozesse, die in Bindungsbeziehungen wirken. Trotz der inhaltlichen Bereicherung und der späteren Anerkennung durch den Bowlby-Ainsworth Award blieb die Rezeption von Bischofs Arbeit in der Bindungsforschung zunächst begrenzt. Bischof erklärt diesen Mangel an Rezeption selbst: „Welches Denkmodell sich für die Behandlung psychologischer Phänomene als das fruchtbarere erweist, ist letztlich eine Frage der Empirie; welches Modell in einer bestimmten Epoche den Ton angibt, ist eine Frage des Zeitgeistes“. Zusätzlich spielte seine unzureichende Präsenz in der US-amerikanischen Literatur eine Rolle, da er nicht bereit war, Kompromisse einzugehen und seine Arbeit kürzer und einfacher zu formulieren.
Im Gegensatz zur klassischen Bindungstheorie, die sich hauptsächlich auf Beschreibungen von Bindungsqualitäten konzentriert, bietet Bischofs Modell eine umfassendere Erklärung der grundlegenden Mechanismen sozialer Motivation. Bischof unterscheidet in seinem Modell drei für das Sozialverhalten grundlegende Motivationssysteme, die in dynamischer Wechselwirkung stehen: Das Sicherheitssystem reagiert auf Vertrautheit (als Übereinstimmung mit Erwartungen), Relevanz und Nähe anderer Personen. Eine vertraute, „ranghohe“ Person in der Nähe – wie etwa die Mutter – vermittelt große Sicherheit und erzeugt ein Gefühl der Geborgenheit. Dieses Gefühl wird mit dem Sollwert des Sicherheitssystems, von Bischof als „Abhängigkeit“ bezeichnet, verglichen. Wird der Sollwert nicht erreicht, entsteht ein Bindungswunsch und Verhalten, das Anschluss herstellt. Ein zu großes Angebot an Sicherheit erzeugt jedoch Aversion durch Überdruss, was zu Meidungsverhalten führt.
Das Erregungssystem reagiert auf Fremdheit (als Neuartigkeit im Sinne von Diskrepanz zu eigenen Erwartungen). Die Erregung hängt zudem von der Relevanz der Person und vom Abstand zu ihr ab. Das Autonomiesystem schließlich reguliert das Autonomiegefühl, das durch erworbene Kompetenzen gesteigert werden kann.
Ein zentraler Bestandteil von Bischofs Alternative zur traditionellen Bindungstheorie ist das Konzept des „Überdrusses“. Während die klassische Bindungstheorie davon ausgeht, dass Kinder gar nicht genug Sicherheit bekommen können, erkennt Bischof, dass ein Überangebot an Sicherheit zu einer Aversionsreaktion führen kann. Dieses Phänomen, das Bischof zufolge Bowlby nie verstand“, erklärt, warum Kinder manchmal eine Distanzierung von ihren primären Bezugspersonen anstreben – nicht aus Unsicherheit, sondern aus einem Überdruss an Sicherheit. Dies trägt zu einem differenzierteren Verständnis der Dynamik zwischen Nähe- und Distanzverhalten bei.
Seine Buchveröffentlichungen gehören nach wie vor zum Besten, was die Psychologie zu bieten hat:
1. Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonflikts von Intimität und Autonomie. 1066 ed. München: Piper, 1986.
2. Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben. München/Zürich: Piper, 1996.
3. Gescheiter als alle die Laffen. Ein Psychogramm von Konrad Lorenz. Hamburg/Zürich: Rasch und Röhring, 1991.
4. Struktur und Bedeutung. Eine Einführung in die Systemtheorie. Bern – Göttingen – Toronto – Seattle: Huber, 1995.
5. Moral. Ihre Natur, ihre Dynamik und ihr Schatten. Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag, 2012.
6. Psychologie. Ein Grundkurs für Anspruchsvolle. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2014.
Dank dir, Tom, dass du an Norbert Bischof erinnerst. Ich habe auf deinen Tipp hin „Kraftfeld der Mythen“ und „Rätsel Ödipus“ gelesen und kann nur bestätigen, dass die zu den besten Büchern gehören, die es so gibt. Es kommt selten vor, dass ich ein Buch von vorn bis hinten durchlese und dass ich den Autor dafür bewundere, wie klar und auf den Punkt und gut lesbar er seine Thesen rüberbringt, und wie breites Wissen aus wie vielen Feldern er hat, aber bei Bischof ist es so.