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Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte

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Christiane Florin (* 1968 in Troisdorf) ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin und Journalistin, die sich seit vielen Jahren mit kirchlichen und christlich-religiösen Themen aus einer kritischen Perspektive auseinandersetzt. In ihrem neuesten Buch erzählt sie die Geschichte eines Mannes, der als Kind in einem kirchlichen Heim misshandelt und sexuell missbraucht wurde und bis heute um die Anerkennung dieser Taten durch die Kirche kämpft. Andreas Manteufel hat das Buch für systemagazin rezensiert.

Andreas Manteufel, Bonn:

„Einen Satz aber spuckt der Apparat nicht aus, einen Satz sagen Hierarchien nie: Die Kinder waren uns egal. Oder: Einer wie Heinz hat uns nicht interessiert. Stattdessen: Es waren die Verhältnisse. Der Zeitgeist. Die Heiligkeit der Kirche. Das Jugendamt.“ (S. 149)

Der Untertitel dieses Buches formuliert die positive Variante der Geschichte: Heinz (fiktiver Name) hat überlebt, er konnte, trotz ungünstigster Startbedingungen ins Leben, spät (aber nicht zu spät) eine eigene Familie gründen, Arbeit und Wohnraum finden und sich irgendwann tatsächlich seinen Traumata stellen. 

Die drängende und bis zuletzt unbeantwortete Frage lautet aber: Wie war das möglich, was dem Jungen in einem katholischen, von der Caritas geführten Heim in den 1960er Jahren an Demütigung, Gewalt und sexuellem Missbrauch widerfahren ist, von einem katholischen Präses und von einer Erzieherin. 

Es gibt auch eine Vorgeschichte: Suizid des Vaters, dann der Tod der Mutter, eine prekäre soziale Situation, in die die Großfamilie ohne Schuld geriet. Und es gibt die Geschichte der „offiziellen“ Aufarbeitung von Gewalt und Missbrauch, wie sie in einer Zeit ausgeübt wurden, in der sich antiautoritärer Aufbruch schon laut machte, aber längst nicht die Nischen althergebrachter „Versorgungssysteme“ – um ein zeitgemäßes Wort zu wählen – erreichte. 

Seit Jahren erfahren wir immer detailreicher von systematischer Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Kirchen, Vereinen oder Heimen. Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen werden von den Tätern ausgenutzt, um die Opfer zu entwürdigen und zum Schweigen zu bringen. Die „Aufarbeitung“ erfolgt zu häufig in Form von Vertuschungsversuchen oder halbherzigen Zugeständnissen. Das Ausgrenzen und Missachten der Opfer wird dadurch fortgesetzt, wie es auch die Geschichte von Heinz illustriert. 

Heinz kommt in der Mitte des Buches im „Originalton“ zu Wort, eingerahmt von der dokumentarischen Erzählung durch die Autorin. Daneben hat sie auch eigene Recherchen zu seinem Fall anstrengt, die sie in größere Kontexte stellt, auch die der systematischen Strategien der offiziellen (Nicht-)Aufarbeitung solcher Geschehnisse. Der Fall, dem sie sich annimmt, ist nicht juristisch einklagbar, nicht beweisbar, die gemeinsame Spurensuche ist mühsam und bleibt immer wieder stecken. Und auch das ist wahrscheinlich das so „typische“ an diesem Fall, der kein Einzelfall ist. 

Der Text wechselt immer wieder seine Erzählebene: Hier die Geschichte, wie Heinz und die Autorin einander kennen lernen und seinen Fall rekonstruieren, dort die journalistische Recherchearbeit in Archiven und mit Vertretern des Tätersystems, dann wieder der nüchterne Blick auf Fakten und Statistiken. Die Missbrauchsdebatte innerhalb der katholischen Kirche hat Christiane Florin lange genug selbst journalistisch begleitet und weiß die meist frustrierende Suche nach Verantwortung im vorliegenden Fall treffend ein zu ordnen. Sie ist in diesem Buch in einer Person Heinz‘ Begleiterin und Unterstützerin, recherchierende Journalistin und bestens aufgestellte Expertin. Nicht zuletzt ist sie die Autorin, die alle diese Erzählperspektiven in einer sorgfältig orchestrierten Weise zu einem spannenden Gesamtwerk zusammensetzt. Trotz der eindeutigen Parteinahme für Heinz, der sich ihr gegenüber zunehmend in einer für ihn ganz neuen Weise anvertraute, bleibt der Ton angemessen zurückhaltend, faktenbezogen, berichtend. Wie Christiane Florin in diesem Buch mit der subjektiven Heinz-Ebene, den „objektiven“ Ebenen (der Fakten und Daten sowie der gesellschaftlich-historischen Einordnung) und letztlich auch der eigenen subjektiven Beteiligung jongliert, halte ich für eine journalistische und literarische Meisterleistung. Der resultierende Gesamteindruck unterscheidet sich deutlich sowohl von den rein wissenschaftlichen Arbeiten oder Gutachten zu systematischen Missbrauchsfällen, als auch von anderen dokumentierten Einzelfallgeschichten.

Wie bescheiden resümiert da die Autorin: „Er und die anderen Heimkinder bleiben mit ihren Erinnerungen allein, stigmatisiert. Deshalb teile ich Heinz‘ Fall, der kein Einzelfall ist. Deshalb habe ich dieses kleine Buch über den Keinzelfall geschrieben.“ (S. 151)

Deshalb ist dieses Buch eine besondere Empfehlung wert!

Eine weitere Rezension von Lisa Maria Plesker auf katholisch.de

Eine Leseprobe aus dem Buch

Christiane Florin (2025): Keinzelfall. Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte. Patmos

Hardcover mit Leseband
160 Seiten
Format 13 x 21 cm
ISBN/EAN 978-3-8436-1509-9
Preis: 19,90 €

Verlagsinformation:

Heinz ist kein Einzelfall. Was er zu sagen hat, spricht für sich. Und er spricht für viele. Christiane Florin erzählt die Geschichte eines Mannes zwischen Mut, Wut und Verzweiflung. Heinz wurde als Kind in einem kirchlichen Heim misshandelt und sexuell missbraucht. Die Journalistin konfrontiert die Institutionen mit seiner Biografie – und bekommt Lippenbekenntnisse. Was war? Wie war es möglich? Wer übernimmt Verantwortung? Eine Recherche, die bewegt.

Über die Autorin:

Dr. Christiane Florin leitet die Abteilung Kultur Aktuell beim Deutschlandfunk in Köln und beim Deutschlandfunk Kultur in Berlin. Bis 2023 arbeitete sie als Redakteurin und Moderatorin in der Religionsredaktion des Deutschlandfunks. Sie machte sich dort vor allem durch ihre investigativen Recherchen zum Thema sexualisierte Gewalt in den Kirchen einen Namen. Bevor sie 2016 zum Radio wechselte, war sie Print-Journalistin: Sie leitete die Redaktion von »Christ & Welt« in der »Zeit« und war bis 2010 Feuilletonchefin der Wochenzeitung »Rheinischer Merkur«. Christiane Florin hat Politik, Geschichte und Musikwissenschaft in Bonn und Paris studiert. Die mehrfach ausgezeichnete Journalistin und erfolgreiche Buchautorin (u. a. »Der Weiberaufstand«) lebt mit ihrer Familie in Bonn.

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