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Leben mit Alkohol

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Rudolf Klein bereichert seit vielen Jahren das systemische Feld mit seinen Reflexionen und Veröffentlichungen, nicht nur zum Thema abhängigen Verhaltens in Bezug auf den Umgang mit Alkohol. Gleichwohl liegt dieser Bereich ihm aufgrund seiner langjährigen Erfahrung in der Suchtberatung besonders am Herzen. Seine vergangenen Veröffentlichungen zum Thema richteten sich in erster Linie an ein Fachpublikum. Der Carl-Auer-Verlag hat eine neue Reihe unter dem Rubrum Fachbücher für jede:n etabliert, die sich auch ein breiteres Publikum richten. In dieser Reihe ist das neueste Buch von Rudolf Klein erschienen – „Leben mit Alkohol – Herausforderungen und Chancen“. Wolfgang Loth hat es für systemagazin gelesen.

Wolfgang Loth, Niederzissen:

Es ist schon eine Kunst, Anregungen so zu geben, dass man sich nicht bedrängt fühlt, sondern freundlich eingeladen, sich in unvertrautem Gelände darüber klar zu werden, ob dieses Gelände etwas ist für einen. Und wenn ja, was. Rudolf Klein gehört zu denen, die das können. Zum Thema Alkohol, bzw. süchtiges Trinken verfügt er über jahrzehntelange Arbeits-, Lehr- und Publikationserfahrung. Dabei hat er so sprechende Formulierungen gefunden wie „berauschte Sehnsucht“ oder „Lob des Zauderns“. Zum professionellen Umgang mit Alkoholabhängigkeit hat er Maßstäbe gesetzt.

Und nun also diese Veröffentlichung in der Reihe „Fachbücher für jede:n“. Hier geht es dann nicht in erster Linie um das Vermitteln von Fachwissen und Arbeitsanregungen für professionelle Helferinnen und Helfer. Stattdessen kommt es darauf an, mit denen ins Gespräch zu kommen, die mit dem jeweiligen Thema in ihrem Leben zu tun haben, sowohl akut als auch im weiteren Sinn dafür sensibilisiert. Der Knackpunkt könnte sein, dass das Fach- und Erfahrungswissen zum jeweiligen Thema (im vorliegenden Fall: zum Thema süchtiges Trinken) sich in der externen Reflexion herausgebildet hat. Mit externer Reflexion meine ich das professionelle Nach- und Vor-Denken, das Validieren professioneller Erkenntnis im fachlichen Austausch. Im „Drinnen“ alkoholfokussierter Sinn- und Beziehungsstrukturen handelt es sich dagegen um ein Fach- und Erfahrungswissen, das unmittelbar aus dem Leben der Beteiligten schöpft. Erfahrungswissen aus erster Hand, sozusagen. Ein Autor, bzw. eine Autorin, die also ein „Fachbuch für jede:n“ anbietet, hat eine doppelte Aufgabe zu bewältigen. Dieses Fachbuch muss sowohl für das „externe“ Kollegium überzeugend genug sein, also „extern“ zur professionellen Vor- und Nachbereitung tauglich, als auch anschlussfähig für jemanden, der oder die durch Interesse oder Lebenslage im Thema drinsteckt. Beides scheint mir mit dem vorliegenden Buch vorzüglich gegeben.

Klein greift auf das Stilmittel des Briefs zurück, wendet sich in jedem der drei Themenblöcke (Alkoholabhängigkeit erkennen, sie verstehen und sich daraus lösen) direkt an die Leserinnen und Leser. Drei Briefe also (mit dem Vorwort vier). Ich habe es als wohltuend erlebt, dass und wie es dem Autor gelingt, dabei zu einer ebenso behutsamen wie auch klaren Sprache zu finden. Er gibt Informationen ohne etwas zu beschönigen, aber auch ohne zu dramatisieren. Das Kontinuum zwischen riskant, schädlich und abhängig entsteht als orientierende Vorstellung, die Leser und Leserinnen bewegen kann, ihren eigenen Erfahrungen mit Alkohol nachzuspüren. Das kann schnell gehen, kann aber auch ein Leben dauern – sowohl das selbstreflexive Erkennen als auch das Vermeiden desselben. Klein beschreibt, wie es so ist, das Leben mit Alkohol und um Alkohol herum. Viele Beispiele aus seinen Begegnungen mit Frauen und Männern, deren Leben durch Alkohol enggeführt wurde, illustrieren das eindrücklich, ohne ein Panoptikum aufzufahren. Da entfalten sich sowohl die Bandbreite persönlicher Sinngebungen, Lebensumstände, Denk-, Fühl- und Trinkroutinen, als auch das Gemeinsame. Zum Gemeinsamen können etwa „die magischen Drei“ gezählt werden, Vorstellungen über Kontrolle, Sicherheit und Unverletzlichkeit.

Der differenzierteste der drei Briefe spricht Möglichkeiten an, sich aus der Abhängigkeit zu lösen. Klein bewahrt den Lösungsbegriff vor einem Heiligenschein. Lösung wäre als Festschreibbares und Festgeschriebenes ja wieder eine Illusion von Sicherheit. Sich lösen hat also nichts mit erlösen zu tun, nichts mit erlöst werden, sondern: „Man kommt mit seiner Freiheit in Berührung und ist bereit, die dazu gehörende Angst und Unsicherheit zu tragen und auszuhalten“ (S.62). Es gehe „um einen neuen Realismus, der vieles für möglich, aber nicht alles für umsetzbar hält. Man bleibt eine verletzliche Kreatur mit begrenzten Möglichkeiten“ (S.63). In solchen Sätzen zeigt sich für mich die Redlichkeit des Autors. Dazu gehört auch sein Hinweis, dass eben nur ein Teil derjenigen, die am Alkohol festhängen, den Weg in eine Praxis oder Klinik findet. Es könne also gut sein, dass sich zu den vom Autor bislang gewonnenen Einblicken ein Spektrum (noch) nicht weitergebenen Wissens aus dem „Drinnen“ des Alkohollebens gesellt.

Die Veränderungsschritte hin zu einem (sich) Lösen aus einer Alkoholabhängigkeit schildert Klein mithilfe einer Findens-Abfolge: Vorfinden, Befinden, Einfinden, Abfinden und schließlich Erfinden. Mir kommt es stimmig vor, anregend und erhellend, wie Klein diese Schritte beschreibt. Ohne dass die Fachbegriffe Problemsystem, Ressourcenorientierung, Konstruktivismus oder Existenzphilosophie als Wegweiser auseinandergesetzt werden, entfalten sie ihre Wirkung. Die Fragen und Anregungen, die Klein hier anbietet, lassen wie von selbst spüren, was damit gemeint ist. Die farblich herausgehobenen Fragensammlungen schätze ich als ein Handwerkszeug ein, das – ich weiß es nicht anders zu sagen – für ein Leben reicht. Ich habe die Fragen nicht als ein Vokabular gelesen, das es auswendig zu lernen gilt, sondern als respektvolles Eröffnen von Lebensfragen, die gültig sind, gleich, ob man sich als alkoholgefährdet erlebt oder nicht. Was etwa eine Frage wie die, ob man das Leben lebt, das man leben möchte, an Substanz anregt, die es unter Umständen mit der Suchtsubstanz aufnehmen kann, klingt länger nach. Und es sind, darauf verweist Klein immer wieder, die Betroffenen selbst, die entscheiden, wie sie sich in Sucht und Suche positionieren. Das verbindet Pragmatismus und Respekt. Der Fokus auf das Entscheidungsgewicht der Betroffenen unterschlägt nicht dessen Bedeutung für das Beziehungsleben. Auswirkungen auf die Paarbeziehung, sowie auf die Beziehung zwischen Eltern und Kindern kommen zur Sprache. Kleins weiterführende Anregungen zum Klären, zum Übernehmen von Verantwortung und zum Umgang mit dem Risiko, das bleibt, halte ich in ihrer empathisch-zugewandten Desillusionierung unbedingt für hilfreich.

Ich denke, dass das vorliegende Buch für viele ein hilfreiches Vademecum werden kann. Es klärt im besten Sinne auf, erschließt Alternativen und ermutigt dazu, sich mit dem Wagnis auseinanderzusetzen, sich auf eine Freiheit einzulassen, bei der nur die Verantwortung sicher ist, nicht das Ergebnis. Was immer für die Beharrlichkeit eines Suchtsystems sprechen mag, für dessen Standhaftigkeit im Umgang mit Veränderungsvorschlägen, dieses leicht lesbare, orientierungsreiche, respektvolle und in seiner Redlichkeit kraftvolle Buch könnte wohl einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht.

Rudolf Klein (2021): Leben mit Alkohol – Herausforderungen und Chancen. Heidelberg (Carl-Auer)

114 Seiten, Kartoniert
ISBN: 978-3-8497-0399-8
Preis: 19,95 €

Verlagsinformation:

Mit dem Alkohol ist das so eine Sache: Was der eine für normal hält, erscheint dem anderen als zu viel und gefährlich. Partner:innen, Freund:innen und Arbeitgeber:innen bringen da oft ganz unterschiedliche Vorstellungen zum Ausdruck. Wer hat recht? Wie findet man heraus, ob und wie viel Alkohol gut ist? Dieses Buch hilft, mehr über das Trinkverhalten herauszufinden – das eigene oder das eines anderen. Dazu gibt es Kriterien und Erklärungen an die Hand, im Mittelpunkt stehen aber Fragen zu individuellen Aspekten: Welche Gedanken, Erklärungen und Bewertungen verbinde ich mit dem Trinken? Welches Leben wurde bisher gelebt, und ist es das, das man leben wollte? Was sollte so bleiben, was könnte sich ändern? Welche Optionen gibt es, und welche Risiken und Chancen sind damit verbunden? Neben einer Anleitung zur Selbstdiagnose bietet das Buch auch konkrete Handlungsstrategien an. Fallbeispiele, Fragenkataloge und Erläuterungen helfen, das Trinkverhalten zu beeinflussen und bekömmlichere Umgangsweisen zu finden – mit oder ohne Alkohol.

Inhaltsverzeichnis und Leseprobe

Über den Autor:

Rudolf Klein, Dr. phil.; Studium der Sozialpädagogik; Approbation als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut; Gruppentherapeut in einer Klinik für Alkohol- und Medikamentenabhängige, Mitarbeiter einer ambulanten psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle mit dem Schwerpunkt Sucht; Lehrtherapeut und Lehrender Supervisor der Saarländischen Gesellschaft für Systemische Therapie (SGST) und der Systemischen Gesellschaft (SG), Lehrtherapeut des Wieslocher Instituts für systemische Lösungen (wisl); Gastdozenturen in Luxemburg, Österreich, Polen, Russland, Schweiz, Ukraine; seit 2004 in freier Praxis tätig; Schwerpunkte: Ambulante Therapie für Menschen mit Alkoholproblemen und Alkoholabhängigkeiten, Lehrtherapeut für systemische Therapie und Beratung, Supervision in unterschiedlichen Kontexten, v. a. in ambulanten und stationären Einrichtungen der Therapie Abhängiger; Veröffentlichungen u. a.: „Lob des Zauderns. Navigationshilfen für die systemische Therapie von Alkoholabhängigkeiten“ (2014), „Alkoholabhängigkeit“ (2017, zus. mit Gunther Schmidt), „Einführung in die Praxis der systemischen Therapie und Beratung“ (4. Aufl. 2020, zus. mit Andreas Kannicht).

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