Im Kohlhammer-Verlag ist dieses Jahr ein Gemeinschaftswerk zur Ideengeschichte der Psychotherapie erschienen, das von Bernhard Strauß, Mark Galliker, Michael Linden und Jochen Schweitzer als Vertreter der bekanntesten und verbreitetsten Therapieschulen herausgegeben worden ist und Beiträge von über 50 renommierten Autorinnen und Autoren aufweist. Mit Spannung habe ich das Buch in die Hand genommen, mich aber bei der ersten Durchsicht zunehmend gewundert, dass im Buch keine Literaturangaben zu den in den Texten erwähnten Quellenangaben zu finden sind – stattdessen enden die einzelnen Texte mit ein paar spärlichen Lesetipps zur ,Vertiefung’. Schließlich wurde ich durch die Rezension von Stefan Beher darauf aufmerksam, dass die Literaturverzeichnisse sämtlich nur im Internet zu finden sind. Dort kann man dann eine zip-Datei herunterladen und bekommt damit 44 PDF-Dateien auf den Rechner gespielt. Dass Verlage auf diese Weise Kosten reduzieren wollen, scheint Mode zu werden (immerhin eine Praxis, die der Thieme-Verlag mit der Zeitschrift PiD schon seit Jahren betreibt), billigen kann man das nicht. Unfassbar vor allem aber, dass sich die Herausgeber auf diese Verfahrensweise eingelassen haben, handelt es sich doch dabei um eine weitgehende Amputation eines wissenschaftlichen Werkes, dessen Rezeption in hohem Maße auf die Zugänglichkeit von Quellen angewiesen ist – wer möchte schon ein Buch mit daneben gelegten 44 ausgedruckten PDF-Dateien oder vor dem eingeschalteten Rechner lesen? Ich halte es für die Verantwortung von Autoren und Herausgebern aller Geschlechter, sich nicht auf solche Verstümmelungen einzulassen.
Stefan Beher und Barbara Bräutigam haben das Buch rezensiert – ihre Besprechungen können Sie hier lesen.
Stefan Beher, Bielefeld
Gemessen an der Zahl neu vorgestellter Behandlungskonzepte erscheint die Psychotherapie auf den ersten Blick als ein besonders innovatives Feld: Je nach Zählweise sind bis heute eine mittlere dreistellige Zahl an verschiedenen therapeutischen »Verfahren« bekannt. Schon der zweite Blick lässt allerdings oft vermuten, dass all diese Neuentdeckungen, trotz anderslautender Versprechungen, möglicherweise weniger die Ergebnisqualität therapeutischer Arbeit und mehr die akademischen Karrieren ihrer »Erfinder« oder zumindest deren Einnahmen an Lizenzgebühren fördern. Denn bei noch genauerem Hinsehen wirken die neuen Konzepte oft genauso wie die alten, dies dann allerdings gleich doppelt: Denn sie unterscheiden sich, jedenfalls nach hinreichend strenger Prüfung, meist nicht nur unwesentlich in ihren Erfolgsquoten, sondern können auch mit Blick auf die dahinterstehenden Konzepte kaum als »neu« bezeichnet werden. Will man nicht (nur) böse Absicht oder gar bewusste Marketingtricks unterstellen, lässt sich an dieser Stelle eine gewisse »Geschichtsvergessenheit« (Bernhard Strauß) in der Psychotherapie diagnostizieren, die primär über Mängel in der Erinnerungsleistung längst Bekanntes wieder und wieder neu (er-)findet. Immerhin dagegen liegt nun ein tatsächlich einigermaßen »neues« Konzept vor, in Gestalt einer »Ideengeschichte der Psychotherapieverfahren«, von Strauß als Psychoanalytiker gemeinsam mit drei anderen renommierten Kollegen herausgegeben, die jeweils die vier Grundströmungen der Psychotherapie schon als Personen eindrücklich repräsentieren und jeweils die Hauptkapitel zu den von ihnen vertretenen Verfahren verfasst haben. Herausgekommen ist dabei ein Band, der die historische Entwicklung wissenschaftlicher Psychotherapie seit dem 17. Jahrhundert im Allgemeinen, insbesondere aber die der heute als Hauptrichtungen bekannten Verfahren der Psychodynamischen Therapie (Bernhard Strauß), der Verhaltenstherapie (Michael Linden), der Humanistischen Therapie (Mark Galliker) sowie der Systemischen Therapie (Jochen Schweitzer, gemeinsam mit Arist von Schlippe) in einer bislang nicht gekannten Tiefenschärfe auch im Bemühen um eine möglichst parallelisierte Darstellungsform zwischen den verschiedenen Strömungen illustriert. Ein zweiter Teil des Buches umfasst für jede dieser Strömungen noch einmal zehn weitere Kapitel über ihnen zugehörige »Konzepte und Methoden«.
Nun sind Geschichtsschreibungen seit jeher höchst selektive Zusammenstellungen; was überhaupt als relevant gelten soll und wie es sich zu allem anderen verhält lässt sich kaum abschließend klären. Dass den eher lose miteinander verbundenen und teils auf durchaus unterschiedlichen konzeptuellen Ebenen gelagerten Kapiteln, jedenfalls für den systemischen Teil, erst gar keinen Anspruch auf Zusammenhang untereinander oder gar Vollständigkeit formulieren, erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur den unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Autorengruppen geschuldet, sondern beinah folgerichtig. Andererseits ergeben sich aus dieser multipersonalen Zuständigkeitsautonomie durchaus Folgeprobleme. Dass zum Beispiel, neben nicht wenigen Doppel- und Dreifachthematisierungen anderer Konzepte an anderen Stellen, das Werk Steve de Shazers in einer »Ideengeschichte systemischer Therapie« am Ende überhaupt keinen Platz mehr findet, kann man nur staunend zur Kenntnis nehmen. Wieder anderswo wird dann im Gegenzug, fast ebenso überraschend gegen jede Plausibilität und ohne weitere Begründung, »feministische Paartherapie« als systemisches Verfahren präsentiert. Dazu passt dann immerhin der auch an anderen Stellen wiederkehrende Verweis auf angebliche Gefahren, mit systemischen Methoden »Machtstrukturen« und Täter-Opfer-Unterscheidungen nicht angemessen thematisieren zu können – was zwar ziemlich gut an den Zeitgeist, aber doch einigermaßen schlecht an die einschlägigen systemtheoretischen Abhandlungen zu diesen Themen anschließt, auf die sich dann aber nicht einmal mehr in kritischer Haltung bezogen wird. Die genannten Passagen implizieren so vielmehr, was systemtheoretische Konzepte einst gerade überwinden wollten: Ein Verständnis von Begriffen aus Extremen (und nicht etwa: aus deren alltäglichen Manifestationen) heraus oder die Unterstellung allzu simpler Zuschreibungen von Kausalität etwa. Aus diesem Blickwinkel erscheint es leider fast schon konsequent, dass zum Thema »Neutralität« erst gar kein Kapitel vorgesehen war. »Ideengeschichten« sind eben immer auch Kinder ihrer eigenen Zeit. Sofern der Gattungstyp ernstgenommen wird, sollten allerdings spätestens in der zweiten Auflage zumindest die Quellenangaben aus ihrem Online-Versteck den Weg zurück ins Hardcover finden.
Der nötige Erfolg für eine zweite Auflage ist dem Band übrigens zu wünschen. Denn trotz der genannten Unausgegorenheiten überzeugt er insgesamt als Fundgrube therapeutischer Ideen und deren geschichtlicher Bezüge; insbesondere aber auch den Bezügen und Aneignungen verschiedener Konzepte zwischen den einzelnen Therapieschulen. Die Lektüre hilft daher nicht nur dabei, den Neuheitswert vermeintlicher Innovationen in der Psychotherapie künftig angemessener zu bewerten, sie fördert noch eine ganz andere, gerade aus systemischer Sicht höchst vielversprechende Praxis: das Gewahrwerden fremder Perspektiven auf eigene Konzepte mitsamt deren Verwandlungen und Einverleibungen in ganz anderen theoretischen Zusammenhängen ebenso wie der eigenen, kreativen Aneignungen von Modellen, die längst anderswo und auf andere Weise überzeugen konnten.
(Mit freundlicher Genehmigung aus Kontext 2/2021)
Barbara Bräutigam, Neubrandenburg
Die großen Psychotherapieverfahren unter dem Aspekt ihrer Ideengeschichte zu beleuchten, mutet auf den ersten Blick nicht mehr unbedingt zeitgemäß an. Die Herausgeber verweisen in ihrem Vorwort darauf, dass in den Debatten namhafter Psychotherapieforscher das Beharren auf einer Verfahrensvielfalt sogar einen wissenschaftlichen Fortschritt verhindere und man sich lieber auf das Kernwissen und Kernverständnis von Psychotherapie fokussieren solle. Warum also hier nochmals sich den Theorien, Konzepten und Methoden der einzelnen Verfahren widmen? Die Antwort ist aus meiner Sicht ebenso einfach wie überzeugend: Mit der Darstellung der ideellen Wurzeln der jeweiligen Therapieschulen wird deren Herkunft und ihre durchaus sehr unterschiedliche theoretische Grundorientierung, die sich auch in ihren jeweiligen Menschen- und Weltbildern ausdrückt, erkennbar. Durch diesen historischen Blick wird laut der Herausgeber folgendes verhindert: »Geschichtsvergessenheit ist auch die Folge eines stetigen Wandels der Forschungsmethodologie und der Tatsache, dass vermeintlich neue Befunde generell als bedeutsamer eingeschätzt werden als etabliertes, langjährig in der Praxis erprobtes Wissen« (S. 14).
Dieses gut lesbare und sich auch sehr gut als Lehrbuch eignende Werk ist in fünf große Abschnitte unterteilt, in denen nach einer kurzen historischen Einführung zunächst die Ideengeschichte der Psychodynamischen Psychotherapie, der Verhaltenstherapie, der Humanistischen Psychotherapie und der Systemischen Psychotherapie dargestellt werden. Interessanterweise schließt dieser Abschnitt mit der ideengeschichtlichen Darstellung eines integrativen Psychotherapieverständnisses; somit wird auch die Integrative Psychotherapie in ihrer Eigenheit anerkannt wie auch in einen historischen Kontext gestellt. Die folgenden vier Abschnitte widmen sich ausgewählten Konzepten und Methoden der vier großen Verfahren. Bei den Konzepten und Methoden der Psychodynamischen Psychotherapie werden beispielsweise Bindungs-, Konflikt- und Widerstandskonzepte thematisiert, beim Abschnitt über die Verhaltenstherapie geht es unter anderem um die therapeutische Beziehung, Exposition oder auch um Ausführungen zur Verhaltensanalyse. Der Abschnitt, der sich mit den Konzepten und Methoden der Humanistischen Psychotherapie befasst, enthält exemplarisch Überlegungen zu Kongruenz und Inkongruenz aber auch zu Krisen und zum Focusing. Die einzelnen Unterkapitel erläutern die jeweiligen Konzepte und Methoden recht knapp und versuchen aber in der Regel auch deren Bedeutung in anderen Verfahren zu thematisieren und schließen mit einem Kurzportrait eines oder einer Repräsentant/in, der oder die sich um die Entwicklung des Konzepts oder der Methode verdient gemacht hat. Da diese Rezension im Kontext erscheint, soll der letzte Abschnitt des Buches, der sich den Konzepten und Methoden der systemischen Therapie widmet, hier etwas genauer in den Blick genommen werden. Dieser beginnt mit einem Kapitel zur Haltung und zur therapeutischen Beziehung, in dem auf die »kontinuierliche affektive Rahmung der Situation« (317) verwiesen und auf den Begriff des Respekts in der therapeutischen Haltung fokussiert wird. Es schließen sich unter anderem Ausführungen zu den Veränderungen von Narrativen, zur Mehrgenerationalität und zu symbolischen Aktionsmethoden an. Bei dem Unterkapitel zu Zirkularität und zirkulären Fragen wird in wohltuender Weise nicht nur auf die dadurch entstehende Perspektiverweiterung, sondern auch auf negative Folgen durch deren Einsatz hingewiesen: »Zirkulär auf soziale und psychische Phänomene zu blicken, kann jedoch missbraucht werden, um ungleiche Zugänge zu Macht und Ressourcen zu relativieren oder die Opfer-Täter-Unterscheidung aufzuweichen« (352). In den letzten beiden Unterkapiteln geht es explizit um Mehrpersonensettings wie Paartherapie und Netzwerktherapien, wobei letztere als extrem aufwändig zu organisieren, dafür aber in ihrer Wirkung als sehr eindrucksvoll beschrieben werden. Insgesamt handelt es sich um ein inhaltlich reiches und sehr dicht geschriebenes Buch, das ich allen Menschen, die nicht nur ihren Handwerkskasten füllen möchten, sondern sich auch für die Herkunft und Geschichte der jeweiligen Werkzeuge interessieren, wärmstens empfehlen kann.
(Mit freundlicher Genehmigung aus Kontext 2/2021)
Bernhard Strauß, Mark Galliker, Michael Linden & Jochen Schweitzer (Hrsg.)(2021): Ideengeschichte der Psychotherapieverfahren. Theorien, Konzepte, Methoden. Stuttgart (W. Kohlhammer)
393 S., 13 Abb., 6 Tab.
Hardcover
ISBN: 978-3-17-035149-3
Preis: 43,99 €
Verlagsinformation
Die Psychotherapie hat eine lange historische Entwicklung mit einem reichhaltigen Arsenal an theoretischen Konzepten, bewährten Interventionen und klinischer und wissenschaftlicher Evidenz. Es findet auch eine stetige Weiterentwicklung und Differenzierung statt. Dabei können Entwicklungskontexte und solides Wissen gelegentlich auch in Vergessenheit geraten oder unter neuem Namen „neu entdeckt“ werden, was erschwert, ein übergreifendes „Kernwissen“ bezüglich Psychotherapie zu verfestigen. Mit diesem Buch soll der aktuelle Stand der Theorieentwicklung und Praxis mit Blick auf die vier psychotherapeutischen Hauptverfahren im Kontext ihrer Entwicklungsgeschichte dargestellt werden, was auch einer gelegentlichen „Geschichtsvergessenheit“ entgegenwirken kann. Das vorliegende Buch ist aber kein Geschichtsbuch, sondern ein aktuelles Lehrbuch, das einen verfahrens- und schulenübergreifenden Überblick über die Grundlagen der Psychotherapie gibt.
Mit Beiträgen von Aguilar-Raab, Corina / Bettighofer, Siegfried / Boll-Klatt, Annegret / Born, Marieke / Borst, Ulrike / Brodrück, Damaris / Brossi, Rosina / Drews, Antonia / Finke, Jobst / Fraenkel, Peter / Hand, Iver / Hautzinger, Martin / Heidenreich, Thomas / Heinzel, Stephan / Hilzinger, Rebecca / Jacobi, Frank / Kaiser, Jenny / Keil, Sylvia / Keil, Walter Wolfgang / Klein, Margot / Kohrs, Mathias / Krause, Rainer / Kriz, Jürgen / Kurthen, Martin / Lammers, Claas-Hinrich / Lippoldt, Sven / Maragkos, Markos / Margraf, Jürgen / Noyon, Alexander / Ochs, Matthias / Rudolf, Gerd / Seiffge-Krenke, Inge / Storck, Timo / Stumm, Gerhard / Sulz, Serge / von Schlippe, Arist / Vögele, Claus / Wendt, Alexander Nicolai / Wiltschko, Johannes / Zwack, Julika / Zwack, Mirko.
Über die Herausgeber
Prof. Dr. phil. Bernhard Strauß, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Mark Galliker, Prof. Dr. phil. em. Institut für Psychologie der Universität Bern, Gesprächspsychotherapeut pca.acp/FSP.
Prof. em. Dr. med. Michael Linden, Dipl.-Psych., Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychologischer Psychotherapeut, Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Charité Universitätsmedizin Berlin
Prof. Dr. rer.soc. Jochen Schweitzer, Dipl.-Psych., Außerplanmäßiger Professor am Institut für Medizinische Psychologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, stellvertretender Institutsleiter, Leiter der Sektion Medizinische Organisationspsychologie.