Am 14. August ist der Physiker und Begründer der Synergetik Hermann Haken im Alter von 97 Jahren verstorben. Die Synergetik ist die Lehre vom Zusammenwirken von Elementen innerhalb komplexer dynamischer, nicht-linearer Systeme und befasst sich mit der spontanen Bildung synergetischer Strukturen in diesen Systemen (Selbstorganisation). Ursprünglich im Bereich physikalischer Phänomene entwickelt, zeigte sich, dass die zentralen theoretischen Konzepte wie das Prinzip der Ordnungsparameter, das Versklavungsprinzip und die Theorie der Phasenübergänge auch auf Phänomene in der Chemie, Biologie, Psychologie und Soziologie angewendet werden konnten. Die Arbeit Hermann Hakens spielte auch in der Entwicklung des systemischen Ansatzes eine wichtige Rolle und wurde vor allem durch die Arbeiten von Günter Schiepek und Jürgen Kriz für die therapeutische und beraterische Arbeit fruchtbar gemacht.
Jürgen Kriz hat folgenden Nachruf auf Hermann Haken für das systemagazin und die Website der DGSF verfasst.
Jürgen Kriz, Osnabrück
Am 14. August verstarb Prof. em. Dr. rer. nat. Dr. h.c. mult. Hermann Haken, gut einen Monat nach seinem 97. Geburtstag, nach wenigen Tagen Krankheit, friedlich zu Hause bei seiner Familie. Noch bis zuletzt war er an den Vorbereitungen einer Tagung zur Synergetik in den Human- und Sozialwissenschaften im November 2024 (s.u.) beteiligt – hatte noch an deren Zoom-Planung im März 2024 teilgenommen und in seiner Antwort auf meine Geburtstagsgrüße zum 97. Geburtstag im Juli 2024 geschrieben „…Ich freue mich auch, Dich im Herbst per Zoom wieder zu sehen.“
Es ist davon auszugehen, dass in sehr vielen naturwissenschaftlichen Journalen umfangreiche Nachrufe auf diesen bedeutenden interdisziplinären aber in der Physik beheimateten Forscher erscheinen werden – und angesichts der vielen Preise, Ehrungen und runden Geburtstage findet man ohnedies im Internet sehr viel darüber. Daher an dieser Stelle nur wenige Daten zu diesem Aspekt, bevor der Fokus auf die Bedeutung Hakens für die systemische Therapie gerichtet wird:
Hermann Haken wurde am 12. Juli 1927 in Leipzig geboren; nach dem Studium in Mathematik und Physik, entsprechender Promotion und Habilitation und Zeiten als Gastwissenschaftler in England und den USA wurde er 1960 auf den Lehrstuhl für theoretische Physik an der Universität Stuttgart berufen. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten um Bereich der Physik – die aber zunehmend interdisziplinäre Relevanz entfalteten – erhielt er mit Ausnahme des Nobelpreises (für den er mehrfach im Gespräch war) alle „großen“ Preise und Ehrungen: vom Max-Born-Preis (1976) über die „Albert A. Michelson Medaille“ (1982) bis hin zur „Max-Planck-Medaille“ (1990) und wurde übergreifend u.a. mit dem „Orden Pour le Mérite für Wissenschaft und Künste“ (1984) oder dem „Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern“ (1986) ausgezeichnet.
Für die weiteren Wissenschaften und Fragen über die Physik hinaus wurde Haken durch seinen interdisziplinären Ansatz der „Synergetik“ bekannt und berühmt. Nach etlichen Büchern und rund 250 Fachpublikationen in Physik erschien 1976 sein erstes Werk, in dem er speziell sein Konzept synergetischer Selbstorganisation vorstellte – freilich immer noch bezogen auf Physik, Chemie und Biologie, was auch zunächst für Folgebände mit weiteren Forschungen gilt. Bis dahin kann man Hakens Ansatz, auch die Synergetik, als spezifischen Ansatz in den Naturwissenschaften bezeichnen.
Spätestens mit Hakens erstem bewusst populärwissenschaftlich gehaltenen Buch „Erfolgsgeheimnisse der Natur: Synergetik, die Lehre vom Zusammenwirken“ (DVA 1981, Ullstein 1988, Rowohlt 1995 und in zahlreiche Sprachen übersetzt) wurde durch die Beispiele aus zahlreichen Disziplinen – eben auch Sozialwissenschaft, Medizin, Psychologie – deutlich, dass Synergetik kein Konzept allein nur für die Physik oder die Naturwissenschaften ist, sondern als strukturwissenschaftliches Konzept und Basis für ein interdisziplinäres Forschungsprogramm zu sehen ist. Dies wird durch ein zweites populärwissenschaftliches Buch unterstrichen, nämlich „Erfolgsgeheimnisse der Wahrnehmung“, das er 1992 gemeinsam mit seiner Tochter, der Biologin Maria Haken-Krell, verfasste.
Doch auch in den sehr vielen etwas weniger populärwissenschaftlichen Werken wird deutlich: Die Synergetik kann zwar auch auf naturwissenschaftliche Fragen angewendet werden – aber ebenso gut auf Fragen in der Psychotherapie (und Beratung, Coaching usw.). Denn die grundlegenden Phänomene, die sich mit der Synergetik sehr präzise und umfassend untersuchen und erklären lassen, beschäftigen uns eben auch in der Psychotherapie: Wir sind mit Ordnungen (Mustern, Regeln, Strukturen) konfrontiert, die wir als „Symptome“ oder „Probleme“ bezeichnen und deren Herkunft in überaus komplexen Wechselwirkungen unterschiedlichster Einflüsse als selbstorganisiert zu sehen sind. Statt linearer Ursache-Wirkungs-Erklärungen richten wir Systemiker den Blick auf die Dynamik des nichtlinearen Zusammenwirkens vielfältiger Einflussgrößen. Unter bestimmten (und genau angebbaren, modellierbaren und untersuchbaren) Bedingungen adaptieren sich die so entstandenen Strukturen nicht – wie sonst ständig zu beobachten – an veränderte Entwicklungsbedingungen von Einzelnen, Paaren, Familien, sondern entwickeln Überstabilitäten, die unangemessen, leidvoll und dennoch faktisch stabil bleiben (eben das, was wir an den Mustern als „symptomatisch“ oder als „problematisch“ erleben). Ebenso gibt es klar formulierbare – in den Naturwissenschaften präzise mathematisch beschreibbare, in der Psychotherapie zumindest explizit formulierbare Handlungsheuristiken – wie ein Ordnungs-Ordnungs-Übergang zu weniger leidvollen Mustern der Wahrnehmung, des Denkens und Fühlens und des Verhaltens/Handelns unterstützt werden kann (also das, was wir „Therapie“ nennen). In diesem Zusammenhang lassen sich auch psychologisch und klinisch relevante Grundlagenexperimente durchführen, welche Details von selbstorganisierten Prozessen und ihrer Veränderung für ein weiteres Verständnis einiger der für uns bedeutsamen Phänomene zu klären imstande sind.
Genau diese umfangreiche Konzeption, die eben skizzierten Phänomene im (weiten) Bereich der Psychotherapie verstehen und konstruktiv angehen zu können, ist es, was die Synergetik von Haken auch für die Systemische Therapie so spannend und wertvoll macht.
Daher ging es mir wie auch etlichen anderen, die sich in den späten 1980er Jahren der Synergetik zuwandten: Zunächst angetan von Konzept der Autopoiese – das den komplexen nichtlinearen Entwicklungsverläufen weit mehr Rechnung trug als die vorherrschenden Ursache-Wirkungs-Modelle – wurden aber auch zunehmend deren Grenzen deutlich. Zumal die Autopoiese a la Maturana & Varela und die Autopoiese a la Luhmann (und diese Begründer) sich in wesentlichen Aspekten eklatant widersprachen. Es ist hier nicht der Ort, dies auszuführen, aber es mündete für mich in der Erkenntnis, dass die Probleme und Phänomene, welche die Autopoiese behandelt, weitgehend nicht meine sind – und andersherum: meine Fragen und Probleme sind weder mit dem mikrobiologisch-philosophischen Ansatz von Maturana & Varela noch mit dem makrosoziologischen Ansatz von Luhmann für mich befriedigend beantwortbar. Im Gegengensatz dazu können diese Fragen und Probleme aber sehr wohl mit Hilfe und im Rahmen der Synergetik untersucht und geklärt werden – auch wenn hier noch entsprechende Entwicklungsarbeit in der Ausdifferenzierung des strukturwissenschaftlichen Grundmodells für die Fragen in Therapie, Beratung und Coaching zu leisten war und ist.
Ein Meilenstein für diese Entwicklung (in unserem Bereich) war die Tagung im Schloss Elmau 1989 zur „Synergetik of Cognition“. Für 15 Jahre förderte die VW-Stiftung sehr großzügig diese Jahrestagungen (1976-1991) zur Synergetik, auf der neben Naturwissenschaftlern auch zunehmend Mediziner, Hirnforscher, Sozialwissenschaftler und Psychologen eingeladen wurden. Haken, der sich ohnehin öfter auf die Forschungen der Gestaltpsychologen der Berliner Schule (Wertheimer, Koffka, Köhler, Lewin, Goldstein) der 1915-1935er Jahre bezog, hatte dazu als Ko-Ordinator (und Co-Autor des 1990 erschienenen Kongressbandes – als Bd. 45 in „Springer Series in Synergetics“) den Gestaltpsychologen Michael Stadler gewonnen, dem ich vermutlich die Vortrags-Einladung nach Elmau zu verdanken habe. Neben Vortragenden aus dem Bereich der naturwissenschaftlicher Netzwerk- und Hirnforschung (unter Systemikern vielleicht bekannt: Ernst Pöppel, Karl Pribram, Norbert Bischof, Wolf Singer), waren unter den Zuhörern auch „Systemiker“ wie Wolfgang Tschacher, Günter Schiepek, oder Ewald-Johannes Brunner, die nicht mur 1992 mit „Self-Organization and Clinical Psychology. Empirical Approaches to Synergetics in Psychology” Band 58 der Springer-Synergetik-Reihe gestalteten, sondern auch für viele Jahre die „Herbstakademien“ gestalteten, auf der an der Selbstorganisationstheorie interessierte Psychologen und Therapeuten (im weiteren Sinne) sich über Fragen und Forschungen zu Synergetik austauschten.
Haken hat diese Entwicklungen im Bereich von Psychologie und Psychotherapie sehr interessiert verfolgt und nach Möglichkeiten gefördert. Besonders Wolfgang Tschacher und Günter Schiepek (mit dem Hanken den Band „Synergetik in der Psychologie. Selbstorganisation verstehen und gestalten“, 2010 bei Hogrefe schrieb), besuchten Haken öfters und besprachen Aspekte ihrer Projekte und Publikationen. Auch mich verband seit 1990 eine enge Freundschaft mit Hermann Haken, der u.a. für meinen Band „Chaos und Struktur“, 1992, das Vorwort schrieb, oder 1995 den Festvortrag auf der von mir organisierten Tagung der Gestalttheoretiker in Osnabrück hielt. Er war auch stets bereit, Entwicklungen in der „Personzentrierten Systemtheorie“ zu diskutieren und deren Subkonzepte wie „Bedeutungsfelder“ oder „Synlogisation“ auf die Korrespondenz mit den Grundannahmen der Synergetik hin zu besprechen.
Es ist hier nicht der Ort noch Anlass, darüber zu sinnieren, warum dieser überaus fruchtbare und reichhaltige Ansatz der Selbstorganisation sich in der Systemischen Therapie noch nicht in einem angemessenen Umfang verbreitet hat. Immerhin schreitet aber, wie mir scheint, die Rezeption auch unter den Systemischen Therapeuten voran – befassen sich doch immerhin die aktuellen umfangreichen Lehrbücher für die Approbationsprüfungen in Systemischer Therapie (von Hanswille bei Vandenhoeck 2022 und von Hermans/Beermann bei Springer Herbst 2024 herausgegeben) mit synergetischen systemtherapeutischen Konzepten.
In dem Band „Synergetik als Ordner. Die strukturierende Wirkung der interdisziplinären Ideen Hermann Hakens“ (1917 bei Pabst, Lengerich), konnten Wolfgang Tschacher und ich als Herausgeber zu Hakens 90. Geburtstag nochmals viele Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen mit Schilderungen dazu versammeln, was ihnen persönlich die Synergetik für die Entwicklung ihrer Konzepte bedeutet hat. Dies war nochmals ein anderer Fokus, als die überaus zahlreichen Forschungskapitel in den vielen Bänden (allein die „Springer Series in Synergetics“ umfasst inzwischen rund 140 Bände mit weit über 3.000 Fachpublikationen). Das Vorwort zu diesem Band endet mit: „Aus den Beiträgen, die in dieser Festschrift versammelt sind, geht deutlich hervor, wie tiefgreifend und vielfältig die Einflüsse sind, die Hermann Hakens Denken auf so unterschiedliche Wissenschaftler ausgeübt hat. Wir wollen hier – auch im Namen der anderen Autoren – unsere Dankbarkeit dafür zum Ausdruck bringen und mit herzlichen Glückwünschen zu seinem 90. Geburtstag verbinden.“
Hermann Haken hat diesen seinen 90. Geburtstag um sieben weitere Jahre überlebt und noch etliches – selbst, sowie beratend, unterstützend und fördernd – in die Welt gesetzt. Es war klar, dass irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, wo diese Kraft nicht mehr reicht. Dass er zum Ende seines Lebens nicht leiden musste, ist ein kleiner Trost, besonders auch für seine drei Kinder und deren Familien. Ein wirklich großer und großartiger Mensch und Wissenschaftler ist nun von uns gegangen. Es wäre zu hoffen, dass „die strukturierende Wirkung seiner interdisziplinären Ideen“ nicht nur nachwirken, sondern gerade in der Systemischen Therapie zunehmend bekannt werden.
Lieber Jürgen
Hab Dank für Deinen, sowohl persönlichen als auch unsere Sache, würdigenden Nachruf. Hermann Haken bin ich zwar auch noch persönlich, aber erst über die Sekundärliteratur von Dir, Günter und Wolfgang begegnet. Für mich als Praktiker ein Glücksfall, weil es mir dadurch möglich war, die Komplexität unseres Metiers sowohl zu verstehen als auch zu gestalten. Dass dies im Berufsalltag noch nicht wirklich Fuss fassen konnte, mag wohl damit zu tun haben, dass auch unsere Community lieber Rezepte hat und die Synergetik so einfach auch nicht zu verstehen ist. Mir aber (und vielleicht auch einigen Studierenden) war genau diese Verbindung von Theorie und Praxis der Schlüssel um zu verstehen, warum das, was ich/wir mache/n wirkt bzw. vielleicht eben auch nicht wirkt. Ob die Grundlagenforschung von Hermann Haken, Dir, Günter u.a. dereinst auch im Mainstream ankommt, ist eine andere, nicht zuletzt auch berufspolitische Frage (jenseits von Therapiemethoden), wohin und wie sich die Psychotherapie und Beratung entwickeln soll und wird.
Mit liebem Gruss
Martin