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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Eine indirekte Begegnung mit direkten Folgen

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Rudolf Klein ist Lehrtherapeut bei der Saarländischen Gesellschaft für systemische Therapie. 1980 hatte er gerade sein Studium abgeschlossen und als Berufsanfänger eine Stelle in einer Suchtklinik angenommen. Im heutigen Kalendertürchen erzählt er von seiner ersten Begegnung mit der Familientherapie, fremd und anziehend zugleich:

„Es war im Jahr 1980 als sich meine Sicht auf das Leben veränderte. Die Änderung war nicht etwa die Folge einer direkten, sondern die einer indirekten Begegnung mit einer Person.
Und das ging so: Ich hatte gerade mein Studium abgeschlossen, in dem ich mich während der letzten drei Semester mit der Thematik suizidaler Krisen beschäftigte. Ich befasste mich damals neben allgemeinen Arbeiten zur Psychoanalyse v.a. mit den gängigen Autoren zum Thema Suizidalität. Damals lernte ich, Suizidalität sei eine individuelle Problematik, die aus psychoanalytischer Sicht als Folge einer im Verlauf der individuellen Biografie nachvollziehbaren narzisstischen Krise verstanden und interpretiert werden könne. Der Verlauf einer solchen Krise ließe sich als „präsuizidales Syndrom“ beschreiben.
Da Klienten als Auslöser für suizidale Krisen überwiegend aktuelle und persönliche Problemlagen familiärer, beruflicher oder ökonomischer Art angaben, lag die Idee nah, die gegenwärtigen Lebensbedingungen für das suizidale Geschehen als relevant anzusehen. Ich begann zu recherchieren.  Interessanterweise stieß ich bei diesen Recherchen weder auf den Begriff „Familientherapie“ oder „Familienforschung“ noch hatte ich auch nur ansatzweise eine Ahnung, dass es so etwas geben könnte. Leider halfen mir auch die damaligen Professoren nicht auf eine solche Fährte – aus welchen Gründen auch immer.
Stattdessen las ich soziologische Abhandlungen, denen psychoanalytische Überlegungen zugrunde lagen. Diese widmeten sich der Analyse gesellschaftstruktureller Bedingungen und deren Wandlungsprozesse.
Entsprechend beschäftigte ich mich zum Abschluss des Studiums im Rahmen der Diplomarbeit mit der Thematik „Gesellschaftsstruktur und Suizidalität“. Die Arbeit daran war interessant – aber ich hatte den Eindruck, dass die eher soziologisch fassbaren Zusammenhänge einerseits und die individuellen Leidensgeschichten andererseits zwar „irgendwie“ in Verbindung standen, dennoch eine sehr große Distanz zueinander aufzuweisen schienen. 
Kurz nach Abschluss der Diplomarbeit nahm ich meine erste Arbeitsstelle an: In einer Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Es war eine Klinik, die nach einem psychoanalytischen Konzept arbeitete, süchtige Entwicklungen ebenfalls als Antwort auf narzisstische Kränkungen interpretierte und Angehörige gegen Ende der Therapie in Form sogenannter Angehörigenseminare in die Arbeit einbezog.
Diese Angehörigenseminare konzentrierten sich darauf, die Angehörigen als Unterstützer des Behandlungserfolgs zu gewinnen. Sie wurden dazu angeregt und auch angeleitet, auf welche Weise sie ihren abhängigen Partnern helfen konnten, das zarte Pflänzchen einer gerade begonnenen abstinenten Phase weiter wachsen zu lassen – bis hin zu einer lebenslangen Abstinenz: Durch Unterlassen kritischer und konfliktträchtiger Themen, durch Ausmustern von  Kochrezepten (z.B. Soßen mit Rotwein oder Flambieren von Fleisch), durch Wegschütten jeglicher alkoholischer Getränke, durch möglichst eigenes abstinentes Verhaltens, durch Meiden von Mundwässern, Weinbrandbohnen und Schwarzwälder-Kirsch-Torte und durch Empfehlungen, von wem, wie oft und wie lange Selbsthilfegruppen aufgesucht werden sollten. Aus heutiger Sicht eine (hoffentlich) merkwürdig anmutende Form der familien- und paarorientierten Begleitbehandlung.
Als Berufsanfänger und Neuling in dieser Klinik hatte ich weniger zu tun als die Kolleginnen und Kollegen. Ich war nach einer Einarbeitungszeit als Co-Therapeut für eine Therapiegruppe zuständig und hatte dadurch Zeit, mich mit allerlei Nebensächlichkeiten zu beschäftigen. So durchstöberte ich eines Tages eine Abstellkammer. Dort fand ich mehrere verstaubte Pappkartons, in denen offenbar seit Jahren völlig ungeordnet Bücher und Fachzeitschriften entsorgt worden waren. Ich las hier und las dort. Bis ich auf ein Heft stieß, das ich nicht kannte. Es schien eine Fachzeitschrift zu sein. Von den beiden Herausgebern hatte ich noch nie etwas gehört. Es handelte sich um Heft 2 des ersten Jahrgangs und stammte von 1976, war also vier Jahre alt.
Ich schlug das Heft auf und begann kreuz und quer zu lesen. Alle Autoren waren mir gänzlich unbekannt. Der erste Aufsatz befasste sich mit einer Theorie der Schizophrenie. Der Autor hieß Theodor Lidz. Ich überflog den Text, da ich mit solchen Symptomen noch keine Erfahrung hatte. Ein weiterer Artikel präsentierte eine paradox verschriebene Parentifizierung, stammte von einer italienischen Gruppe, deren erstgenannte Autorin eine gewisse Mara Selvini war. Dieser Text überforderte mich komplett. In einem weiteren Beitrag wurde eine Therapie über 9 Jahre von einem Menschen namens Luc Kaufmann vorgestellt. Und dann gab es noch einen Text mit Überlegungen über Loyalität und Übertragung. Der Autor hatte einen Namen, den ich erst Jahre später halbwegs korrekt auszusprechen lernte: Ivan Boszormenyi-Nagy.
Alle Artikel waren in erster Linie verwirrend, teilweise unverständlich und hatten den mir so bekannten Effekt, Zweifel an meinen intellektuellen Fähigkeiten zu schüren und ihm neue, scheinbar endlos vorhandene Nahrung zu liefern.
Gerade wollte ich das Heft frustriert wieder in einem der verstaubten Kartons versenken – da geschah es: Ich blätterte den zweiten Artikel durch. Er behandelte die Frage: Einzel- oder Familientherapie? Der Autor beschrieb Überlegungen, wie ein Zusammenhang zwischen einer individuellen Symptomatik und der familiären Dynamik hergestellt werden kann. Und damit nicht genug. Dieser Autor verwendete, wie er schrieb, „sein“ Konzept der Interaktionsmodi von Bindung, Delegation und Ausstoßung, um die Verbindung zwischen individueller und familiärer Dynamik differenziert darzustellen. Darüber hinaus stellte er auch noch Überlegungen an, unter welchen Bedingungen eher ein einzeltherapeutisches Setting und wann eher die Einbeziehung der Familie aussichtsreicher für den Erfolg einer Therapie sein könnte. Ich war elektrisiert! Endlich hatte ich etwas gefunden, von dem ich sofort wusste, dass ich mehr davon erfahren, mehr davon verstehen wollte – und zwar in einer Entschiedenheit, wie ich sie vorher in Bezug auf fachliche Themen niemals erlebt hatte.
Es dauerte dann noch etwa zwei oder drei Jahre, bis ich mich in eine Ausbildung zur systemischen Familientherapie begab. Die Faszination für diese Arbeit dauert aber bis heute an.
Die Fachzeitschrift hieß „Familiendynamik“. Der Autor war kein geringerer als: Helm Stierlin.
Übrigens: Das Heft habe ich sofort aus seinem kümmerlichen Dasein befreit und es klammheimlich mitgenommen. Es steht seither auf meinem Bücherregal und wird immer ein besonderes Heft für mich bleiben“ 

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