Die Freude einer langen Paarbeziehung besteht auch darin, dass die Partner ähnliche Vorlieben haben. Wir zum Beispiel teilen uns die Lust am Bahnfahren. Wir hängen gerne in einem Abteil der ersten Klasse, du mit einem Bier, ich mit einem Fläschchen Weisswein. Leise tauschen wir Eindrücke aus im privaten Code eines langen gemeinsamen Lebens. Dazwischen zärtliches Schweigen. Wunderbare Trance, in die uns die Monotonie des Fahrens einlullt, entspannendes Wissen, dass andere verantwortlich sind für uns. Eine solche Fahrt im Ruhewagen erlebten wir kürzlich auf dem Weg zur Expo. Glühend heisser Samstag, die Bahn klimatisiert, freundliche Stimmung unter den Mitreisenden. Ab und zu einvernehmliche Blickkontakte. Keiner muss ins Handy schreien und uns sein Privates mitteilen. Dann vor drei Tagen das Gegenprogramm. Tyrannei der öffentlichen Intimität im Zug nach München, am Ende eines Arbeitstages.
Schon in Zürich beginnt der Ärger; es gibt weder Ruhe- noch Speisewagen. Im Nebenabteil erledigt ein etwa Vierzigjähriger alle aufgestauten geschäftlichen und privaten Telefonate. Mit stolzem Gesichtsausdruck posaunt er Befehle ins Telefon. Für die Mitfahrenden unüberhörbar, was für Produkte Herr Lautsprecher verkauft. An seinem Tonfall erkennen wir, welche Position der von ihm Angerufene in der Unternehmenshierarchie hat. Aber wollen wir das wirklich hören? Du und ich schauen uns kopfschüttelnd an, suchen vergeblich nach Ohropax und halten uns schliesslich die Ohren zu. Eine das Gegenteil bewirkende Anstrengung!
Unsere Lage ist hoffnungslos. Freie Plätze gibt es keine. In St. Gallen steigt der Dauerredner aus. Dafür steigt eine Dame mit ihrem Teenager-Sohn ins Abteil. Und so geht die Tyrannei des Handy- Geschwätzes gleich weiter. Diesmal als Duett von Sopran und Stimmbruch. Als ein Mitreisender sich beschwert, muss der Stimmbruch-Jugendliche mit seinem Gerät in den Gang; der mütterliche Sopran aber singt ungestört weiter. Bis München haben wir sicher ein Dutzend Mal gehört, dass unser Zug dort um 22 Uhr eintreffen wird. Auf der Rückreise lächelt uns das Glück. Ein Geistlicher setzt sich neben uns. Wir lächeln uns zu und fallen bald in die übliche Bahntrance. Bis unser Nachbar ein Handy aus der Tasche zieht. Jetzt redet er mit dem lieben Gott, flüsterst du. Aber der Geistliche redet nicht, er hält ein Ohr an den Hörer, richtet den Blick nach oben, sicher eine Viertelstunde lang. Papst oder lieber Gott? Egal. Wir schauen uns an, und unsere Welt ist bis Zürich in Ordnung.
Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.
Ein Paar in Bahntrance
3. Juli 2011 | Keine Kommentare