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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Das „Mikro-Makro-Problem“ in der Gesprächsforschung

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Systemtheoretische Konzepte sozialer Prozesse gehen davon aus, dass soziale Strukturbildung nicht vom Verhalten der beteiligten Individuen her erklärbar ist. Ihr Beschreibungsinstrumentarium lässt sich daher primär makrotheoretischen Ansätzen zuordnen, die die Eigendynamik der gesellschaftlichen Differenzierung in unterschiedliche, mehr oder weniger autonome Funktionssysteme in den Blick nimmt. Die sozialtheoretischen Perspektiven, die mit einer solchen Betrachtungsweise auch ein neues Verständnis von Therapie und Beratung als soziale Systeme eröffnen, faszinieren die Berater- und Therapeutenzunft seit langem. Gleichzeitig sind der Anwendung solcher makrotheoretischen Ansätze auf die konkrete, empirische Beratungspraxis aufgrund ihres Abstraktionsgrades Grenzen gesetzt. Mikrotheorien dagegen versuchen, soziale Ordnungsbildung gerade aus der Beobachtung von konkreten, alltäglichen Handlungssituationen und Interaktionen zu rekonstruieren. Eine empirische Disziplin, die diese Perspektive auch für Therapeuten und Berater fruchtbar machen kann, ist die Gesprächsforschung, die z.B. Narrationen untersucht und Konversationsanalysen betreibt, also genau das untersucht, was in einer Therapiesitzung oder einem Beratungsgespräch von Moment zu Moment geschieht. Mikro- und Makrotheorien sind aber nicht ohne Weiteres in einem gemeinsamen theoretischen Rahmen zu integrieren. Dies ist der Ausgangspunkt eines spannenden Aufsatzes von Stephan Habscheid, der 2000 in der Zeitschrift „Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion“ erschienen ist und einen Versuch darstellt, Mikro- und Makroperspektiven so aufeinander zu beziehen, dass Konversationsanalyse auch für die Luhmannsche Theorie sozialer Systeme anschließbar wird.
Im Abstract heißt es: „Gesprächsanalyse, sei sie konversationsanalytischer, sozio- oder funktionalpragmatischer Provenienz, beansprucht, einen Beitrag zur Erklärung und Beschreibung sozialer Ordnung zu leisten. Vor diesem Hintergrund liegt es auf der Hand, (wieder) nach einer Anbindung an den sozialtheoretischen Diskurs zum „Mikro- Makro-Problem“ zu suchen und die Reichweite verschiedener gesprächsanalytischer Antworten im Kontext des aktuellen Diskussionsstandes kritisch einzuschätzen. Zwar lässt sich auf wissenssoziologischer und ethnomethodologischer Grundlage soziale Ordnung im sprachlichen Handeln bzw. in der Interaktion verankern; allerdings ist zu fragen, ob – angesichts einer Strukturbildung, die sich in mehrfacher Hinsicht „hinter dem Rücken der Beteiligten“ vollzieht – die Frage nach den Grundlagen sozialer Ordnung im Rahmen einer ausschließlich rekonstruktionslogischen Forschungsstrategie geklärt werden kann. In diesem Beitrag möchte ich, auch bezogen auf empirische Daten, zwei Strategien im Umgang mit dem „Mikro-Makro-Problem“ in der Gesprächsanalyse diskutieren: Erstens eine Interpretation der Konversationsanalyse, die anschließbar ist an Luhmanns Theorie der sozialen Systeme, und zweitens einen handlungstheoretischen, gleichwohl nicht-intentionalistischen Zugang, der an andere aktuelle Lösungsansätze zum „Mikro-Makro-Problem“ angeschlossen werden kann, nämlich an Giddens‘ Strukturationstheorie und an „Invisible-hand-Erklärungen“, wie sie aus der Sprachwandel-Diskussion bekannt sind.“

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