Vor ziemlich genau 15 Jahren habe ich im systemagazin ein Buch des Spiegel-Journalisten Peter Wensierski rezensiert, in dem sich dieser mit den systematischen Quälereien von Kindern und Jugendlichen in der bundesrepublikanischen Heimerziehung der Nachkriegszeit beschäftigte und mit dem er erstmals eine wirklich weitreichende gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema auslöste. Zu Beginn meiner Rezension stellte ich eine Verbindung mit meinen eigenen (kurzen) Erfahrungen mit diesem System als Verschickungskind in einer „Erholungsmaßnahme“ her. Ich schrieb: „Ich bin froh, dass sich meine Erfahrungen mit diesem System als fast Neunjähriger nur auf sechs Wochen beschränkten, die nicht einmal eine Erziehungsmaßnahme darstellten, sondern als Erholungskur deklariert waren. Sie gehörten dennoch zu den schlimmsten Wochen meines Lebens. Wir wurden von den Nonnen nicht geprügelt, aber mehr oder weniger zwangsernährt (schließlich bestand der Erfolg der Maßnahme in der Gewichtszunahme), systematisch gekniffen, geschubst, gedemütigt, beschimpft und eingeschüchtert, nachts brutal geweckt, wenn wir auf der falschen Seite schliefen (um schlechte Träume zu vermeiden!), strengen Strafen für Kleinigkeiten unterworfen (stundenlanges Stillsitzen, für 50 Kinder Schuhe putzen usw.). Das Schlimmste aber war, dass meine heimwehgetränkten Briefe an die Eltern zerrissen und neu diktiert wurden, und die Eltern meine Erfahrungen lange Zeit nicht glauben wollten: „Du hast doch immer so schön geschrieben!“
Mittlerweile ist klar, dass ich diese (und noch viel schlimmere) Erfahrungen mit Abertausenden von Menschen teile, denen ein aktuelles Buch gewidmet ist, dass Anfang des Jahres im psychosozial-Verlag erschienen ist. Die Autorin, Anja Röhl, Jg. 1955, Sonderpädagogin, Germanistin und Autorin, ist die Tochter des Journalisten und Autors Klaus Rainer Röhl und Stieftochter von Ulrike Meinhof. In den frühen 60er Jahren war sie selbst mehrfach der Verschickung in solche Kinderkuren ausgesetzt. Schon 2009 beschrieb sie ihre diesbezüglichen Erfahrungen in einem Artikel für die „Junge Welt“ und startete später eine eigene Website verschickungsheime.de, die ein Sammelbecken für Erfahrungsberichte von vielen Betroffenen wurde. Im November 2019 organisierte sie auf Sylt eine Tagung für Betroffene und legt nun mit ihrem Buch eine erste Bestandsaufnahme ihrer Recherchen vor – eine Veröffentlichung, die es zu diesem Thema und in diesem Umfang bislang nicht gegeben hat. Weit über 3000 Betroffene haben in einen Fragebogen Fragen nach ihrem Jahrgang, den Namen der Heime, den Gefühlen während der Heimverschickungen und ihren Erinnerungen an die drei negativsten Erlebnisse berichtet, die sie aus dieser Zeit erinnern. Eine Vielzahl von frei formulierten Berichten steht noch zur inhaltlichen Auswertung an.
Die Dimension dieser für viele damaligen Kinder z.T. massiv traumatisierenden Erfahrungen wird einem klar, wenn man sich vor Augen führt, dass für die 1950er bis zu den 1970er Jahren bei den Geburtsjahrgängen von 1949 bis 1969 bei einer Kapazität von etwa 56.000 Betten in 839 Heimen und einem Durchlauf von 7-8 Wochen mit einer Zahl von 8-12 Millionen Kinderverschickungen gerechnet werden muss (189f.), Mehrfachverschickungen von Kindern eingerechnet.
Den Unterschied zu den Kindern, die dauerhaft aus ihren Familien herausgerissen wurden, beschreibt Röhl folgendermaßen: „Außer sie selbst hat ihr Elend niemanden betroffen, meist wurde es nicht einmal bemerkt. Nach den sechs Wochen in der »Hölle«, wie viele es beschreiben, kamen sie zurück in ihr altes Leben, als sei nichts gewesen. Die innerlichen Verletzungen, die sie davongetragen hatten, wurden vom normalen Familienalltag, der wie früher daherkam, überlagert, die Erlebnisse und inneren Verwundungen wurden oft nicht geglaubt, wurden beschwichtigt oder abgewehrt“ (11).
Natürlich befinden sich unter den großen Zahlen viele, vielleicht auch sehr viele Menschen, die ihre Kinderkur positiv erlebt haben. Meine jüngere Schwester beispielsweise war parallel zu mir in einem Erholungsheim in der Eifel und verkündete bei der Wiederkehr gleich, dass sie im folgenden Jahr gerne dort wieder hinfahren wolle. Aber dennoch kann die Annahme, dass es sich nicht nur um eine starke Häufung von Einzelfällen, sondern um ein Massenphänomen handelt, „durch die Fülle der vorliegenden Berichte und deren Detailreichtum sowie die jetzt schon bekannten ersten Fragebogenergebnisse mit einem entschiedenen Ja beantwortet werden“ (12f.). Die Berichte betreffen nicht nur einzelne Häuser oder Regionen, sondern Heime im gesamten Land.
Als Journalistin, Betroffene und Aktivistin hat Röhl kein primär wissenschaftlich orientiertes Forschungswerk geschrieben, das war auch nicht ihr Anliegen. Gleichwohl hat sie eine unglaublich eindrucksvolle Sammlung an Daten, Befunden und Berichten zusammengestellt, die für sich sprechen.
Das Buch ist in mehrere Abschnitte gegliedert. Ein einleitendes Kapitel schildert u.a. den Prozess, in dem sich die „Verschickungskinder“ zur Anerkennung und Aufarbeitung ihres Leids gefunden und zusammengeschlossen haben. Ein Blick in die Literatur zeigt, dass das Thema bislang kein Forschungsgegenstand gewesen ist. Stattdessen sind historische Loblieder auf Mutter-Kind-Kuren und Kinderkurheime zu finden, eine kritische Analyse fand weder bei den pädagogischen noch pädiatrischen Berufsgruppen – auch nicht im Nachhinein – statt.
Das zweite Kapitel zeigt die Kontinuität der Verschickung mit dem Projekt der nationalsozialistischen Kinderlandverschickung auf. Zwar benannten sich die Einrichtungen meist nach dem Krieg anders, aber in Hinblick auf die pädagogische Grundhaltung und Ideologie sowie die personellen Ressourcen hatte sich offenbar nicht viel verändert. „Die NS-Kinderlandverschickung bildet möglicherweise einen ideologischen Ursachenkomplex für die nachfolgend in der Kur-Erholungsheimverschickung durchgeführten rüden und brutalen »Kinderführungsformen« (…). Vom Jahrgang her waren es doch immerhin die damaligen HJ-Führer ebenso wie die BDM-Führerinnen, die während der NS-Kinderlandverschickung rund 2,8 Millionen Kinder (…) hauptamtlich zu »führen«, zu beschäftigen und zu beaufsichtigen hatten. Und das, obgleich sie meist nur zwei Jahre älter als die ihnen anvertrauten Jugendlichen waren (…). 1944, in der Zeit der »erweiterten Kinderlandverschickung«, in der beinahe alle Kinder aus den Ballungsgebieten in Kinderlager »verschickt« wurden, waren die BDM- und HJ-Führer selbst gerade einmal 18 Jahre alt. Das bedeutet, dass sie 1954 erst 28 und 1964 erst 38 Jahre alt waren“ (30).
Sehr eindrucksvoll sind die ökonomischen Gegebenheiten der Verschickungsindustrie. Die Heime arbeiteten im Ganzjahresbetrieb. Die entsendenden Versicherungen, Krankenkassen oder Wohlfahrtsverbände hatten vertragliche Bindungen mit den Heimen und verpflichteten sich, eine bestimmte Anzahl von Kindern pro Jahr zu liefern und bei Nichterfüllung Schadenersatz zu leisten. „Die »Verschickungsempfehlung« war eine ärztliche Diagnose, die sehr beliebig war“ (31). Das kann ich nur bestätigen. Als ich selbst 1972 meinen Ersatzdienst beim Landesverband des DRK in Düsseldorf ableistete, gehörte das Ausfüllen von diagnostischen Tabellen für die Kinderschickung zu den Aufgaben von uns Zivis. Auf diesen Tabellen waren die persönlichen Daten der Kinder erfasst, das Feld für die Diagnose war jedoch freigelassen und wir konnten unserer Phantasie beim Ausfüllen freien Lauf lassen. Einen Arzt hatten die Kinder offensichtlich nicht gesehen. Da es sich um eine sehr stupide und langweilige Tätigkeit handelte und wir auch nicht allen Kindern ein Asthma angedeihen lassen wollten, begannen wir nach einiger Zeit, uns fiktive Krankheitsnamen auszudenken und in die Listen einzutragen. Dies blieb offensichtlich unbemerkt, weil diese Listen ohnehin nur pro forma geführt wurden. „Auf diese Art und Weise konnten weiterhin, so wie vor 1939 auch, völlig gesunde Kinder per Kassenzuzahlung verschickt werden“ (35). Die Gründung von Heimen war dementsprechend ein Bombengeschäft, wenn man den Zuwachs z.B. von 300 Heimen allein von 1956 bis 1964 bedenkt (33).
Diese Industrie stützte sich überall die gleichen Abläufe. Wichtig war, dem Problem des Heimwehs durch eine radikale Unterbindung des Kontaktes zu den Eltern zu begegnen: „Ab frühestem Alter ließ man die Kinder von den Eltern an einen Bahnhof bringen und von da an allein mit Zug oder Bus per Sammeltransport in die zum Teil Hunderte von Kilometern entfernten Kurorte fahren, auch Zwei- bis Vierjährige. Es gab keine gruppen- oder klassenmäßige Verschickung. Vertraute Erzieherinnen oder Lehrer kamen nicht mit, die Kinder fuhren allein. Zur Begleitung reisten lediglich »Fürsorgerinnen« mit, diese verblieben bei Ankunft meist in den Zügen. Die Betroffenen schildern dieses Prozedere in fast allen Berichten als traumatische Abschiedsszenen, bei denen die Eltern plötzlich verschwunden waren. Die Kinder waren über Stunden allein in den Zügen und weinten bitterlich, am Ende wurde ihnen oft auch noch zur Strafe ihr Brot weggenommen. In allen Erinnerungsberichten wiederholt sich das Bild: vollgestopfte Bahnsteige, plötzlich allein im Zug, Züge voller Kinder, Begleitpersonal nur durch die Gänge hastend“ (38). So erinnere ich es auch.
Im größten Abschnitt des Bandes werden einzelne Heime auf verschiedenen Nordseeinseln, aber auch in Bad Salzdetfurth, Bad Rothenfelde, Bad Sachsa, Berchtesgaden und Scheidegg anhand einiger historischer Daten und vor allem der Berichte von Betroffenen vorgestellt.
Die Konfrontation mit den immergleichen Schilderungen von Folter, Quälereien, Demütigungen und Sadismen über alle Zeiten und Entfernungen hinweg ist deprimierend und kaum durchzuhalten – ich musste die Lektüre immer wieder unterbrechen.
Ein Heim will ich besonders hervorheben, nicht weil es andere Heime an Grausamkeit übertroffen hätte, sondern weil ich selbst im September 1962 dort sechs Wochen verbringen musste: Das Kinderheim Sancta Maria auf Borkum. Der Bericht einer Betroffenen wird folgendermaßen wiedergegeben: „Ich war im Dezember 1961 im Kinderhaus Sancta Maria in Borkum und kann nur bestätigen: Kinder wurden misshandelt, das Essen war ein Horror, und hatte jemand erbrochen, musste er so lange essen, bis der Teller leer war, egal, ob mit oder ohne Kotze. Nachts aufs Klo zu gehen war verboten, wer ins Bett pinkelte, musste nachts im Dunkeln auf der Treppe den Nonnen die Schuhe putzen und in der Küche arbeiten – als sechs- und siebenjährige Kinder!! Briefe an die Eltern wurden geöffnet und weggeschmissen. Nikolaus-Pakete verteilten die Nonnen unter sich!“ (92, siehe auch oben). Eine spannende Frage ist natürlich, wie geht eine solche Einrichtung mit ihrer eigenen Geschichte um? In Bezug auf die nationalsozialistische und antisemitische Vergangenheit Borkums, die auch die Kinderverschickungspraxis prägte, „verwundert es nicht, dass in den Geschichtsrückblicken des heutigen Nachfolgeheims auf Borkum, das Mutter-Kind-Kurheim Sancta Maria, der Faschismus vollkommen ausgelassen wird, verwunderlich ist aber doch, dass auch die Zeit danach nicht erwähnenswert erscheint, denn die Zeitspanne von 1918 bis 1979 ist ebenfalls ausgelassen worden, erst das Jahr 1979, in dem dann wohl die Mutter-Kind-Kuren »neben den Kindererholungen« begannen, wird wieder erwähnt“ (81).
Das ist in der Tat verwunderlich. Bis in die 90er Jahre hinein hat mich meine Zeit in diesem Heim immer wieder beschäftigt, auch wenn mich das in dieser Zeit nicht mehr so gequält hat wie in den ersten 20 Jahren meines Lebens. Als ich 1994 erfuhr, dass das Kinderschickungsheim mittlerweile zum Mutter-Kind-Kurheim geworden war, beschloss ich, für eine Woche nach Borkum zu reisen, um das Haus noch einmal in Augenschein zu nehmen. Ich nahm ein Zimmer im schönsten Hotel der Insel, um mich ressourcenmäßig zu wappnen, fand das Haus auch nach wenigen Minuten – und traute mich dann geschlagene drei Tage nicht, das Haus zu betreten. Immerhin war ich schon in den Vierzigern, hatte diese Geschichte in meiner Psychoanalyse bearbeitet und war nicht wirklich auf diese Erfahrung von Altersregression vorbereitet. Am dritten Tag habe ich dann meinen Mut zusammengenommen (mit der Selbstaffirmation, dass ich als Erwachsener das Haus ja auf jeden Fall jederzeit selbst wieder verlassen könne) und trat ein. Der Schock traf mich tief, dass sich seit 1962 nichts an dem Haus geändert hatte: die gleichen Tapeten, Teppiche, Bilder an den Wänden, Möbel etc. – die einzige Änderung bestand darin, dass die Schlafsäle für 40 Kinder nun in kleinere Räume unterteilt worden waren. Das Haus war leer und ich lief durch die Räumlichkeiten, bis ich auf eine Nonne traf, die mich fragte, was ich dort wolle. Ihr erzählte ich meine Geschichte, die sie mit Anteilnahme anhörte. Sie selbst war von ihrem Orden in das Heim strafversetzt worden und erzählte mir, dass sie mir jedes Wort glaub – und dass die hochbetagte Oberin immer noch die gleiche sei wie in den 1960er Jahren! Auch wenn die persönliche Konfrontation an dieser Stelle für mich heilsam war, hat mich doch die Wiederbegegnung mit dem Ort meiner Quälerei gegruselt. Im Januar 2020 war ich übrigens noch einmal dort – mittlerweile in einem grundsanierten Haus mit einer ganz anderen Ausstrahlung. Die dunkle Wolke war für mich im Unterschied zu 1994 entgültig verschwunden. Auf der Website des Hauses findet sich bis heute kein einziges Wort über die schuldhafte Geschichte. Vergangenheitsbewältigung sieht anders aus.
Nach einem Zwischenkapitel mit empirischen Daten zur Demografie und Trägeranalyse folgt noch ein ausführliches Kapitel mit Überlegungen zur Ursachensuche. Da es keine einzelnen Ursachen für dieses Massenphänomen geben kann, präsentiert Röhl ein mehrschichtiges Bedingungsgefüge, um zu erklären, „warum es in den Kindererholungsheimen und -heilstätten zu solchen Grausamkeiten gegen Klein- und Vorschulkinder gekommen ist“ (203), und benennt dabei auf sehr plausible Weise neun „Ursachenstränge“, die dazu beigetragen haben. Dazu zählt sie (1) die biografische Prägung der Erziehungspersonen während des Nationalsozialismus, (2) die Prägung durch NS-Schwesternschaft und den Pflegeberuf, (3) die aus dem Nationalsozialismus fortgeführte strafende Pädagogik, (4) die Dynamik »Totaler Institutionen« in den Heimen, (5) die Wurzeln in der NS-Geschichte der Kinderheilkunde, (6) die Wurzeln in der Balneologie sowie Klimaheilkunde und -therapie, (7) das Interesse medizinische Forschungen an den Kindern als Probanden, (8) Ökonomie und Renditeaspekte und (9) der Sadismus vieler Erziehungspersonen. Ein Plädoyer für eine empathische Pädagogik schließt das Buch ab.
Die Autorin hat sich mit ihrer Arbeit und ihrer Veröffentlichung das große Verdienst erworben, auf einen völlig blinden Fleck in der jüngeren Geschichte der Kindheit aufmerksam gemacht zu haben. Dass die geschilderten Ereignisse und Erfahrungen lebenslang virulent bleiben können, zeigt sich in den zahllosen Berichten auf eindrückliche Art und Weise, auch wenn sie nicht von so langer Dauer waren wie die Unterbringungen in Erziehungsheimen.
„Vorfälle von Demütigungen und Qualen innerhalb eines kurzen Ausschnitts von sechs bis zwölf Wochen im Leben von kleinen Kindern sind offenbar ebenso wichtig und bedeutsam wie Qualen über mehrere Jahre. Ein Unterschied ist, dass sie, da sie so anders als das sonstige Leben erlebt wurden, schneller vergessen wurden – aber offenbar nur scheinbar. Sie sinken zwar in die Tiefen des Unbewussten, weil Kinder sich schützen müssen, aber sie kommen hervor, wenn die Menschen Gehör finden und endlich nicht mehr glauben, sie seien die Einzigen gewesen, denen das geschehen ist, und das womöglich sogar »zu Recht« (14f.). Für dieses zu Gehör bringen gebührt der Autorin größter Dank!
Zur website verschickungsheime.de
Eine weitere Rezension von Peter-Ulrich Wendt für socialmagazin
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe
Anja Röhl (2021): Das Elend der Verschickungskinder. Kindererholungsheime als Orte der Gewalt. Gießen (Psychosozial-Verlag)
305 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm
ISBN-13: 978-3-8379-3053-5, Bestell-Nr.: 3053
DOI: https://doi.org/10.30820/9783837977646
Preis: 29,90 €
Verlagsinformation:
Zwischen den 1950er und 1990er Jahren wurden in Westdeutschland zwischen acht und zwölf Millionen Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren auf kinderärztliches Anraten und auf Kosten der Krankenkassen ohne Eltern zur »Erholung« verschickt. Während der meist sechswöchigen Aufenthalte an der See, im Mittelgebirgsraum oder im Hochgebirge sollten die Kinder »aufgepäppelt« werden. Tatsächlich erlebten sie dort jedoch oft Unfassbares: Die institutionelle Gewalt, die sich hinter verschlossenen Türen ereignete, reichte von Demütigungen über physische Gewalt bis hin zu sexuellem Missbrauch. Betroffene leiden noch heute an den Folgen der erlittenen Traumata. Anja Röhl gibt den Verschickungskindern eine Stimme und möchte die Träger ehemaliger Verschickungsheime in die Verantwortung nehmen. Sie zeigt, welches System hinter den Kinderkuren stand, und geht möglichen Ursachen für die dort herrschende Gewalt nach. Das Buch ist ein erster großer Schritt zur Aufarbeitung eines bisher unerforschten Bereichs westdeutscher Nachkriegsgeschichte und zur Anerkennung des Leids Betroffener.
Über die Autorin:
Anja Röhl, geboren 1955 in Hamburg, Tochter aus erster Ehe von Klaus Rainer Röhl. Erster Beruf: examinierte Krankenschwester, später Studium: Germanistik, Psychologie, Sonderpädagogik und Kunst. Arbeit als freie Dozentin und Theaterrezensentin für die junge Welt und Ossietzky, zahlreiche Veröffentlichungen. Drei Kinder.
Warum werden für Millionen von Euro aus Steuergeldern Wahrheiten von vor 70 oder 30 Jahren enthüllt, die jeder schon kennt? Jugendämter, Heimaufsichten und staatliche Gesundheitsfürsorgeeinrichtungen wußten doch Bescheid. Ausgerechnet an die Institutionen (Regierung, Parlament, Parteien) wenden sich die Betroffenenvertreterinnen nun, um Fördergelder abzurufen. Und vor allem: Was soll passieren, wenn die sogenannte »Aufarbeitung« beendet ist? Sie sei, so hört man, »nur der Anfang«. Frage: von was? Die Antwort, es dürfe sich »nicht wiederholen«, ist Unsinn. Wer will, dass sich Missbrauch und Erniedrigung von Kindern nicht wiederholen, muss in die Flüchtlingslager und Elendsviertel der Welt gehen und nicht nach Borkum fahren.
Außerdem: Die Raserei der Verfolgung von Unverfolgbarem, Vergangenem, genannt „Aufarbeitung“, zeigt die Unfähigkeit, sich auf eine vernünftige Bewältigung der gegenwärtigen subtilen Gewalt gegen Kinder zu konzentrieren. Tatort Familie.
Sehr geehrter Herr Hohn,
Sie haben sicherlich in einigen Punkten recht, aber schon der erste Satz enthält eine völlig falsche These, aus der Sie die folgenden Schlussfolgerungen ableiten.
Dennoch würde mich auch interessieren, warum Sie jetzt nach langen Monaten auf diese Diskussion im Systemmagazin gestoßen sind und was Sie dazu bewegt. Sind Sie selbst ein „Betroffener“ oder sind Sie zufällig durch einige Suchbegriffe bei Google darauf gestoßen. Ganz grundsätzlich gilt:
Keine einzige Million Euro wurde bisher für die Erforschung der wirtschaftlichen und psychosozialen und medizinischen Verhältnisse der damals mehr als 10 Millionen Kinder und vermutlich heute noch etwa 6 Millionen lebenden Erwachsenen ausgegeben. Das einzige Geld, das bisher ausgegeben wurde, war privates Geld von Menschen, die sich mit diesem Thema beschäftigen.
Ich selbst habe zum Beispiel vor ein paar Tagen einem Anwalt Geld in die Hand gedrückt, damit er mir die Akte einer Verleumdungsklage besorgt, nur weil ich einem Blogger auf eine solche ähnliche Anfrage geantwortet habe, garniert mit teils konfusen und halbwahren Behauptungen.
Wenn Sie Interesse und Lust haben, sich über das Thema zu informieren, können Sie mich auch gerne anrufen: 0176/96388909, nachmiitags am besten erreichbar.
Viele Grüße, Bruno Toussaint
Tatort Familie ist ein gutes Stichwort. Denn die ungelösten Traumata aus den Verschickungsheimen richten nicht nur Schaden in der Individualseele, sondern auch in den Bindungsverhältnissen an. Stichwort: transgenerationale Weitergabe von Traumata.
Das Projekt ermöglicht vielen Menschen, der Suchbewegung nach einer Lösung in ihrer Seele einen Ort, einen Anhaltspunkt zu geben. Damit ist viel Heilsames getan und ich habe den Eindruck, dass das Geld das dafür aufgewendet wird, sehr gut investiert ist.
Lieber Lothar,
Du schreibst: „Das Projekt ermöglicht….usw. „. Das stimmt insofern nicht, dass noch gar keine richtige Forschung angefangen hat und insofern auch so gut wie kein Geld ausgegeben wurde. Während aber Tausende ehemalige Verschickungskinder langwierige Therapien machen müssen und dabei im Grunde in einem dunklen Nebel der Vergangenheit herumstochern, mit mehr oder weniger Erfolg, ist das Thema der Kinderverschickung schon längstens zum Trendthema verkommen. Hier das letzte Beispiel, wo statt Aufarbeitung der Verschickung „Resilienz“ als sozialpädagogisches oder therapeutisches Häppchen angeboten wird: https://www.youtube.com/watch?v=lkpu5VUfQv8
Der Film stellt zunächst eine präzise beschriebene Dokumentation über die Kurverschickung der Kinder in den 1960er bis 1990er Jahren dar. Vor allem zeigt „Dietmar“ ein hervorragendes Gedächtnis, das man in Berichten von Betroffenen nicht oft hört. Allerdings zeigt das gesamte Filmdrehbuch eine bedenkliche Tendenz, düstere Ereignisse im Leben von Millionen von Kindern und damit auch heutigen Erwachsenen als „Trendthema“ darzustellen und dies wiederum mit dem sozialpädagogischen Trendthema „Resilienz“ zu koppeln. Das Thema der Kinderverschickung verkommt also zum Markttrend.
Das begann mit einem Wettlauf zwischen Anja Röhl: „Das Elend der Verschickungskinder“ und Hilke Lorenz: „Die Akte Verschickungskinder“, wobei Christoph Gunkel vom Spiegel dem ersteren Buch den Vorzug gab und dessen in der Manier eifriger Amateure beschriebene Nazi-Ursachenstränge in der Öffentlichkeit noch weiter aufheizte. Danach sprang der sogenannte „wissenschaftliche Beirat“ von Anja Röhl ab und seither hat es keine richtige Aufarbeitung mehr gegeben. Es gibt also keinen methodischen Rahmen und keinen Forschungsansatz, stattdessen gibt es aber fast schon verzweifelte Förderaufrufe, die aber, außer in Baden Württemberg, bis heute nicht bewilligt wurden.
Der liebe Reiner Hohn (wahrscheinlich ein Pseudonym) schreibt aber ganz am Ende einen wichtigen Satz, nur falsch herum gedacht: Die Raserei der Verfolgung des Unverfolgbaren, der Vergangenheit, genannt „Aufarbeitung“, zeigt zudem die Unfähigkeit, sich auf einen vernünftigen Umgang mit der gegenwärtigen subtilen Gewalt gegen Kinder zu konzentrieren. Tatort Familie.
Wir möchten, dass er uns erklärt, wie er sich die Aufarbeitung der „heutigen subtilen Gewalt gegen Kinder im „Tatort Familie“ vorstellt, ohne jedoch die „Subtilität“ der generationenübergreifenden Gewalt in den Familien wirklich verstehen zu können. Das Verständnis der millionenfachen Gewalt bei der Verschickung wäre aber ein wichtiger Baustein, um die heutige Gewalt gegen Kinder zu verstehen.
Ich hoffe nur, dass ich für diesen Kommentar nicht schon wieder eine Anzeige kassiere.
Lieber Bruno,
ich meinte einfach das gesamte Projekt, die Verschickungsheim zum Thema zu machen und Webseiten einzurichten, in denen sie gelistet sind und Austausch von Betroffenen zu ermöglichen. Wer da jetzt was genau im einzelnen tut, darum habe ich mich nicht gekümmert.
Diese Thematisierung ist außerordetlich hilfreich, weil sie der qualvollen Suche einen Ort und einen Resonanzraum gibt. Das ist therapeutisch schon die halbe Miete. Nicht mehr und nicht weniger wollte ich zum Ausdruck bringen.
[…] Dazu mein Post im Forum für systemische Psychologie, der sich intensiv mit ihrem Buch befasst, siehe letzter Kommentar vom 13.08.2021 https://systemagazin.com/das-elend-der-verschickungskinder/#comment-12256 […]
Persönlich finde ich die Initiative zu den „Verschickungsheimen“ sehr begrüßenswert, da ich selbst Betroffener bin. Allerdings muss ich bekennen, dass ich das Buch nicht gelesen habe. Die Praktiken in den Heimen mit dem Nazismus in Verbindung zu bringen, ist eine in D leider gängige Praxis – alles Schlechte ist irgendwie „Nazi“ und damit hat man es bequem verortet und hat selbst nichts mehr damit zu tun, außer dass an sich seinen Vorfahren moralisch überlegen fühlt.
Tatsächlich aber findet man ähnliche schreckliche Praktiken im Umgang mit Kindern auch in anderen Ländern, es ist also weder etwas „typisch Deutsches“ noch „typisch Nazimäßiges“.
Hilfreicher und mE als einzige Erklärung dient der traumatheoretische Ansatz. Selbst Traumatisierte gehen traumatisierend mit Kindern um, weil sie ihre eigenen Gefühle als Traumaüberlebensstrategie abgespalten haben und deshalb nicht fühlen können, wie es Kindern geht. Stattdessen praktizieren sie körperliche und seelische Gewalt, die sie selbst erfahren haben.
Sehr empfehlenswert in diesem Zusammenhang ist die Traumatheorie von Franz Ruppert, der vielfältig dazu veröffentlicht hat.
Danke Lothar,
Du stehst nicht allein mit deiner Meinung, dass sozusagen auf dem bequemsten Wege alles Schlechte den Nazis zugeordnet wird. Trotzdem, auch wenn es mit der Herkunft einzelner Heime so war, es erklärt immer noch nicht die Traumata der Kinder. Aber wenn sich dann schon Historiker in all ihrer wissenschaftlichen Beflissenheit über das Thema hermachen und damit eine ganze Sendung füllen, wird es langsam gefährlich.
Hier bei Lena Gilhaus, die für den WDR und DLF in Köln arbeitet, hat der hauseigene Historiker Matthias v. Hellfeld mit dem Thema regelrecht eins vom Leder gezogen. Auf der Facebook-Seite von Lena Gilhaus habe ich mir erlaubt, dies auseinander zu nehmen: https://www.facebook.com/gena.lilhaus
Hier auch die Sendung bei DLF Nova;: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/verschickungskinder-traumatisiert-in-verschickungsheimen?fbclid=IwAR1i08pBwUcoHKX8-aCA79E3Ub17PJtRzuR9Tsh1kIfaHyjDADKAdDoXDE8
Es gibt eine Internetseite zu diesem Thema: https://verschickungskind.de/
Ich weiß nicht, ob dieses Projekt von Frau Röhl selbst initiiert wurde, sie steht jedenfalls nicht im Impressum.
EIne Patientin hat mich auf diese Seite aufmerksam gemacht und ich bin sehr froh, dass es dieses Projekt gibt. Es ist für Menschen, die als Kinder derartige entwicklungstraumatische Aspekte erlebt haben, außerordentlich wichtig, dafür ein Bewußtsein zu entwickeln. Und nun nach vielen Jahren eine Datenbank der Heime und eine Vernetzungsmögichkeit mit anderen zu haben, erlebe ich als persönlich Betroffener als außerordentlich heilsam.
Danke, Lothar!
Ich war selbst bei der Gründung der Initiative im September 2019 in Berlin dabei und musste miterleben, wie alle Mitglieder des sogenannten „Wissenschaftlichen Beirats“ innerhalb kurzer Zeit aufgrund von Streitigkeiten mit der Dame ausschieden. Was bleibt, sind tatsächlich die regionalen Initiativen und Selbsthilfegruppen, in denen sich Menschen untereinander austauschen können. Einige dieser Gruppen, z.B. in Baden-Württemberg und in NRW, sind inzwischen unabhängig, auch mit eigenständiger Finanzierung, und arbeiten relativ gut.
Die „Bundesinitiative“ der beiden Frauen aus Berlin versucht jedoch immer noch, eine zentrale Struktur aufzubauen; Koordinatoren für Heime oder Bundesländer werden willkürlich ausgetauscht usw. Dies hat insofern Nachteile für die gesamte Forschung, als die ursprünglich angekündigten Aufarbeitungsmodelle mit dem Sozialministerium und der Diakonie in Niedersachsen nur Archivrecherchen nach dem Zufallsprinzip ans Tageslicht gebracht hatten; es gab auch keine inhaltlichen oder thematischen Vorgaben – auch nicht zugunsten der Betroffenen. Echte Traumaforschung auf der Grundlage der historischen Gegebenheiten in den Heimen der Diakonie kam so nie in Gang und wurde auch von Seiten dieser Initiative nie eingefordert. Dies war der größte Fehler der Initiative – die aber letztlich nur aus zwei Privatfrauen besteht, und mit Absicht, das oben gelobte Buch anzupreisen!!!
Ein solch umfassendes Aufarbeitungsmodell für das Seehospiz im Besonderen und über die Arbeit der Diakonissen in den Heimen, werde ich selbst Ende September der Diakonie vorschlagen. Die damaligen Heilmethoden sollen hier ebenso festgehalten werden wie der Drehtüreffekt, bei dem die Kinder damals oft kränker entlassen wurden als sie aufgenommen wurden. Ebenso sind die Traumata der Kinder viel genauer zu beschreiben, da inzwischen ein genaues Persönlichkeitsprofil der Schwestern vorliegt, die sich auch untereinander stritten und oft willkürlich gegen die Kinder vorgingen. Allerdings ist das Aufarbeitungsmodell viel aufwändiger und erfordert eine Bereitschaft zur Ehrlichkeit auf Seiten der Betreiber, der Diakonissen in Bad Harzburg und auf Seiten der Diakonie. Vorab gehört auch Pressearbeit dazu, um den notwendigen Druck aufzubauen.
Hallo Bruno, falls Du Adressen oder Kontaktdaten von den Regionalgruppen (z.B. BaWü) hast, wäre ich Dir sehr dankbar für eine Nachricht – bitte PN an mich, Lothar
Zum letzteren, die Weitergabe von Traumata durch das Personal. Bei den evangelischen Diakonissen war es so, dass sie bis Ende des Krieges hauptsächlich im früheren deutschen Osten, also Westpommern um Stetin und in Schlesien ihre Rettungshäuser besaßen, dort sehr stark im sozialen Bereich tätig waren. Dann flohen sie mit ihren Kindern in den langen Flüchtlingstrecks gegen Westen und wurden dabei oft von den russischen Stukas beschossen, zugleich wurden hunderte der Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt.
Viele der Frauen kamen also schon hochgradig traumatisiert im Westen an und mussten sich eine neue Existenz aufbauen, Wo sie also schon vorher kaum liebesfähig zu Kindern waren, bleib ihnen nur noch die Eiseskälte, verbunden mit diesem extremen Schweigen und die antrainierte Fähigkeit zur absoluten Triebkontrolle. Auch wenn damit noch keine direkte Gewalt verbunden war, zumindest genügte es, den Kindern Panik einzujagen, was sich weiter zu Aktion und Reaktion bis zum Sadismus der Schwestern aufschaukelte und bei den Kindern wiederum Schocks auslöste.
Man denkt dann oft, dass den Kindern der Wille gebrochen wurde, im Sinne einer fortdauernden Resignation und Apathie, Manche Kinder wurden allerdings auch regelrecht „verhaltensauffällig“ im späteren Leben und verhedderten sich in den Paragraphien, bis hin, dass ihnen ein Betreuer als Vormund zugewiesen wurde. Dies heißt, die Forschung steht noch ganz am Anfang, zumindest erklären kann ich mir dies nicht – hatte heute lange Gespräche mit zwei solcher Betroffenen.
„einzige“ Erklärungen sind ja m.E. in aller Regel diskussionswürdig. Es soll ja auch Traumatisierte geben, die nicht retraumatisieren, das ist ja keine Zwangsläufigkeit, sondern auch kontextabhängig. In diesem Kontext auch sozialstrukturelle Aspekte zu berücksichtigen, die für Deutschland charakteristisch zum Tragen kommen ist aus meiner Sicht -auch- sinnvoll und zwar unabhängig davon, ob es in anderen Ländern nun Parallelen gibt oder nicht.
ja klar, so gesehen ist alles „diskussionswürdig“, auch Beiträge, die andere Beiträge als „diskussionswürdig“ etikettieren und deutschlandspezifische Deutungsmuster präferieren.
Mensch Markus, so können wir auch „Fachdiskussionen“ über die Bedeutung des halbleeren oder halbvollen Bierglases führen und vergessen dabei, uns wenigstens einmal im Leben zu betrinken. Entweder Sie haben hier etwas zu sagen, oder Sie sagen lieber nichts und hören einfach zu.
Dem kann ich mich nur anschließen
Mensch Markus, auf diese Weise können wir auch „Fachdiskussionen“ über den Sinngehalt des halbleeren oder halbvollen Bierglases führen und dabei vergessen, uns wenigstens einmal im Leben zu betrinken. Entweder Du hast hier etwas zu sagen, oder sage lieber nichts und höre einfach mal zu.
Lieber Herr Haun,
Ich selbst befasse mich z. Zeit mit der Auswertung der von der ev. Diakonie in Niedersachsen fast öffentlichkeitsscheu herausgegebenen Studie zu mehreren Kinderheimen in Niedersachsen, hauptsächlich aber zum Seehospiz auf Norderney. Und nun zu Ihrem Kommentar.
Auch wenn Ihr Kommentar typisch saarländisch verschwurbelt klingt, so hat er mich doch im Nachhinein beschäftigt. Im Original schreiben Sie: „“…. einzige” Erklärungen sind ja m.E. in aller Regel diskussionswürdig. Es soll auch Traumatisierte geben, die nicht retraumatisieren, das ist keine Zwangsläufigkeit, sondern auch kontextabhängig. In diesem Kontext auch sozialstrukturelle Aspekte zu berücksichtigen, die für Deutschland charakteristisch zum Tragen kommen ist aus meiner Sicht -auch- sinnvoll und zwar unabhängig davon, ob es in anderen Ländern nun Parallelen gibt oder nicht“.
In diesem Zusammenhang beziehe ich mich auf die tausende Kommentare in den jeweiligen Foren dieser ehemaligen Patienten aus den Kinderheimen. Die meisten können ihre Traumata tatsächlich kaum begründen und sie können auch beim besten Willen nicht die Ursache benennen. Dennoch, viele erlebten die Heime als ständige Bedrohungsatmosphäre – so ähnlich wie Soldaten im Auslandseinsatz – aber ohne erkennbare Schocks oder Gewalterfahrungen.
Daher, vorausgesetzt, sie können sich zumindest etwas in die Sphäre von Verschickten und Heimkindern hineinversetzen: Gibt es so etwas wie Traumata ohne eine erkennbare Traumabasis. Darunter wären dann Traumata zu verstehen, die sich lange Zeit als Schatten verstecken, die Betroffene eher zu einer diffusen Wahrnehmung ihres Lebens verleiten, ihre Reaktionen behindern und weniger Klarheit in ihrem Leben vermitteln.
Ich kenne also viele Menschen, die erkennbare und identifizierbare Traumata beschreiben können und auch Folgeerkrankungen zeigen. Dann gibt es in allen diesen Foren und Selbsthilfegruppen auch „Mitläufer“, die in ihren diffusen Lebensgefühlen quasi beschäftigt werden wollen, und sich in ihren Stimmungen immer auf frühere Aufenthalte in den Kinderheimen beziehen.
Genau diese Klientel mit ihrer diffusen Sehnsucht nach Aufarbeitung der Geschehnisse macht bei den tatsächlich über 10 Millionen verschickten Kindern die Mehrheit aus und sie bestimmt den gesamten Kreislauf der Aufarbeitung auch in politischen Gremien mit – sie wollen beschäftigt sein.
Ich denke also, dass Ihr Satz über Traumatisierte, die nicht retraumatisieren auch so verstanden werden kann, dass es auch Traumatisierte ohne erkennbaren Traumahintergrund gibt. Wenn dem tatsächlich so sei, könnten Sie mir dies nochmals in gutem Deutsch erklären.
Es dankt Ihnen, Bruno Toussaint
Prenzlauer Allee 45 a
10405 Berlin
Telefon 030/84119957
Mobil 0176/96388909
Mail nc-toussabr@netcologne.de
Lieber Bruno,
Du hast zwar Herrn Haun angesprochen, aber ich erlaube mir, kurz zu reagieren, weil das Thema Trauma sowohl persönlich als auch beruflich in meinem Fokus ist.
Traumata erkennt man nicht zwangsläufig an eingangs und für Laien objektiv erkennbare Auslöser (Krieg, Gewalt etc.). Man erkennt sie an den typischen und sich wiederholenden Reaktionsmustern – psycho-vegetative Stressmuster, für die in der Gegenwart auch für Betroffene selbst objektiv kein Auslöser erkennbar wird. Sie sind u.a. gekenntzeichnet durch ein „sich nicht mehr spüren“ und verschiedene Symptombildungen bzw. Kompensationen wie z.B. Sucht.
Wichtig ist die Unterscheidung von Ereignistraumata und Entwicklungstraumata. Letztere sind in großem Umfang gegeben durch die Bedingungen der Verschickungskinder. Scheinbar ist nichts schlimmes passiert. Aber: die Urängste des Kindes, Zurückweisung und Verlust der Bindung (und damit einhergehend tiefe existenzielle Angst), welche durch die Verschickung ausgelöst wurden, bewirken eine tiefgehende Stressprogrammierung des psycho-somatischen Systems, die auf der unbewußten (Stammhirn) Ebene läuft. Damit gehen die Betroffenen in den Foren in Resonanz. Das darf man nicht bagatellisieren, man muss es ernstnehmen.
Zu Entwicklungstraumata gibt es Literatur u.a. v. Lawrence Heller und Franz Ruppert. Auch das Buch „Trauma ist ziemlich strange“ ist empfehlenswert.
Mit dem üblichen „das kann man auch alles anders sehen“ und den in systemischen Kontexten üblichen Perspektivwechseln und sprachlich-kognitiv orientierten vorgehensweisen kommt man hier keinen Meter weit. Das geht nur über eine psychotherapeutische Arbeit, die sich den tiefen seelischen und somatischen Prozessen widmet und den Klienten sanfte und verstehende Begleitung bietet.
Soweit einige Gedanken von mir dazu, Grüße von Lothar Eder
…. …. Ich denke, dass unter der oben anstehenden Lobpreisung ein qualifizierter Kommentar stehen sollte. Zumindest könnte es nicht schaden; mancher Leser könnte dafür sehr dankbar sein. Mal sehen, ob er hier stehen bleiben wird.
Das Buch von Anja Röhl: „Das Elend der Verschickungskinder“ ist sicherlich kein „erschütterndes Dokument“, sondern eher ein reißerisches, gefüllt mit Behauptungen, die nirgends belegt sind, auch gefüllt mit Unterlagen, die ihr freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurden, wo sie sich aber nie bedankte oder gar die Erlaubnis zur Veröffentlichung eingeholt hatte.
Dennoch kann man es mit Vorsicht lesen. Immerhin hat Anja Röhl extrem viel recherchiert und in den Archiven gestöbert. Dabei wird der Leser förmlich mit Fakten bombardiert, z. B. über Sepp Folberths Strafanleitungen oder über die weit verbreitete NS-Vergangenheit der Heime – aber genau dies ist nicht stimmig, siehe weiter unten.
Erschreckend sind auch die Einblicke in das Wesen der „totalen Institution“, die alle diese Heime im Grunde auch darstellten, aber Röhl geht nicht auf die psychischen Spätschäden der heute noch Betroffenen ein. Hier macht sich der fast manische Schreibstil bemerkbar, denn sie kann nicht erklären, wie Traumata in großen Gruppen überhaupt entstehen oder wie die Kinder in den Hospitalismus abdriften usw. Hier hinterlässt das Buch eine riesige offene Flanke, wo es stattdessen von Pseudofakten ohne inhaltliche Ausführung nur so wimmelt.
Gleichzeitig reiht sie eine vermeintliche Tatsache an die andere, um den Heimen auf Biegen und Brechen eine Nazi-Vergangenheit anzuhängen, wo keine nachgewiesen werden kann. So wird z. B. behauptet, Kurt Gottschaldt habe im Seehospiz / Norderney bis 1938 Zwillingsstudien durchgeführt, die aber rein verhaltens-psychologische Studien waren, auch bis 1992 fortgeführt wurden und mit dem NS-Euthanasieprogramm der Nazis nichts zu tun hatten. Ebenso wird der König-Luitpold-Kinderheilstätte in Scheidegg eine NS-Vergangenheit nachgesagt, wo ein bekannter NS-Arzt aber nur bis 1938 Chefarzt war.
Umgekehrt wird jedoch nichts darüber gesagt, wie die Heime in den späten 1940er Jahren wieder in Betrieb genommen wurden, in den meisten Fällen mit völlig neuen Betreibern. Letztlich kann man solches Vorgehen nur als unsaubere Geschichtsaufarbeitung bezeichnen, mit dem erklärten Ziel, möglichst viel Horror und Gruseln zu erzeugen. Am Ende landet diese Art reißerische Mitleidsparty in der Politik. Hört man z. B. dem Abgeordneten Dennis Maelzer (NRW/SPD) bei gelegentlichen Interviews zum Thema Kinderverschickung zu, so merkt man sofort, dass er nie die wirklichen Fakten verarbeitet hat, somit kommt es zu falschen Entschlüssen in der Politik.
Insofern versäumt es das Buch, den Leser in die wirklich kritische Zeit des Post-Nazismus, bis etwa 1975, mitzunehmen, als neue pädagogische Konzepte bereits greifen und die Rechtslage bereits eine andere ist. In dieser Zeit nach dem Kriege geht es nämlich darum, die Widersprüche, die sich aus der großen Depression der beiden verlorenen Weltkriege ergeben, dann dem engagierten Wiederaufbau und dennoch die weit verbreitete Angst vor erneutem Zusammenbruch und die daraus resultierende Aggression und tabuisierte Gewalt in den Familien und vor allem in den Heimen, in einem durchgehenden Erzählstrang erfassen zu können.
Es war nämlich eine Goldgräber- und Aufbruchzeit, viele Heimbetreiber wollten schnell das große Geld machen, viele Einrichtungen wurden ohne jede Kontrolle aufgezogen und es zeigten sich im gesamten betrieblichen und „pädagogischen“ Prozess fast immer auch kriminelle Elemente. Deshalb stellen sich viele weitere Fragen, z. B. ob es sich bei den Kinderheimen eher um rein kommerzielle Unternehmen handelte – ohne dass sie tatsächlich ehrliche Heilungsabsichten verfolgten – die nur auf Zuteilung einer maximalen Zahl von „kurenden“ Kindern durch jeweilige Geschäftspartner wie Krankenkassen oder Kommunen etc. bestanden.
Viele Heime, die nach außen hin scheinbar aufrichtige Heilungsabsichten und religiöse Prinzipien propagierten, wie z. B. das Seehospiz auf Norderney, waren jedoch eher diffuse Gesundheits-Mischbetriebe und ein Sammelb-ecken obskurer medizinischer Wellness-Theorien, deren Wirksamkeit nie weiter erforscht wurde – gleichzeitig von absurd abstrafender Religiosität, Steinzeitpädagogik, rechte Abhärtungsstrategien in der Natur usw.
Daher sollte man sich auch mit dem Begriff der „ekklesiogenen“ Neurosen des kirchlichen Personals und deren Auswirkungen auf die Kinder vertraut zu machen. Hier liegen mittlerweile qualifizierte Zeugenaussagen vor, die den Umgang der Schwestern untereinander und gegenüber Kindern wie in einer Psychosekte beschreiben. Solche religiös geführten Heime machten aber schon über 30 % aus. Die Meldungen, die hier zurückkommen, zeichnen ein erschreckendes Bild eines mittelalterlichen Religionsverständnisses, das mit NS-Vergangenheit im Grunde gar nichts zu tun hat. Auch hier versagt Anja Röhl in voller Länge, es gibt schlicht keine Auskunft hierzu.
Gleichzeitig hatten sich diese Heime, oft in Konkurrenz zueinander, auf bestimmte profitable Zielgruppen fixiert, wie z. B. Kinder mit Asthma und Neurodermitis, die aber oft psychosomatisch vorbelastet waren und wie durch eine Drehtür mit Langzeitschäden aus der „totalen Institution“ wieder herauskamen. Daher auch hier die Frage, warum hatte Anja Röhl vorher nicht präzise recherchiert, was treibt sie überhaupt an. Ich sehe bei ihr und bei der Initiative um verschickungsheime.de keinerlei Tendenz, sich den wirklich harten Fragen zu stellen, z. B. über das Thema Vergewaltigung in den Heimen, obwohl es hier schon genügend Dokumente gibt.
Demzufolge klammern sich die ihrige und andere Selbsthilfegruppen an einen eher verklärenden Blick auf die eigene Vergangenheit, ohne sich im Sinne einer objektivierenden Betrachtung wirklich mit der unmenschlichen Brutalität der Heime auseinanderzusetzen zu wollen und den mühsamen Weg einer objektiven Täter-Opfer-Zuordnung zu gehen. Viele der heute noch schwer Betroffenen werden dadurch buchstäblich weggedrückt. Stattdessen macht sich der Mainstream eines eifrigen Röhl’schen Lautsprecherechos bemerkbar, verstärkt durch gezielte Presse- und Medienarbeit. Und wer es immer noch nicht wahrhaben will, in letzter Konsequenz geht es schlicht ums Geld, wer zieht die meisten Fördergelder ab, wohin sollen sie überhaupt fließen.
Des Weiteren scheint es innerhalb der Initiativen immer noch eine große Unwilligkeit zu geben, das Wort Gerechtigkeit mit Wiedergutmachung und letztlich mit Entschädigung gleichzusetzen und gleichzeitig für eine Strategie einzutreten, um der Öffentlichkeit die erlittenen Misshandlungen wirklich zu beweisen. Im Moment sieht es eher nur nach einer diffusen historischen Aufarbeitung aus Archiven aus, auch ohne konkrete thematische und inhaltliche Vorgaben – oft nur nach dem Zufallsprinzip. Auch sind die Initiativen untereinander zerstritten und ein wirklich partizipativer Prozess und der Aufbau zivilisatorischer Strukturen kommen nur langsam in Gang.
So wurde Ende 2020 ein „Letter of Intend“ zwischen dem Sozialministerium und der evangelischen Diakonie in Niedersachsen und der Initiative verschickungsheime.de (im Grunde bestehend aus Anja Röhl und Valerie Lenk als Privatpersonen) geschlossen, der nur eine rein archivarische Aufarbeitung des Geschehen nach verjährten Fakten vorsah – ohne weitere Verabredung für die Betroffenen. Damit wurde letztlich nur eine „Aufarbeitung light“ beschlossen, die das Wirken der Täterorganisationen – etwa die Diakonissen aus Bad Harzburg und andere – nie wirklich ausleuchten soll. Ein entschlossener Wille zur Vergangenheitsbewältigung sieht aber völlig anders aus.
So kann ich nur dafür plädieren, eine klare und rationale Sprache über die Geschehnisse der historischen Kinderverschickung zu sprechen, die nicht in diffusen Gefühlswelten schwelgt oder sich als Lautsprecher für eine Art bundesdeutschen Betroffenen-TÜV hergibt. Das haben die Hunderttausende von den heute immer noch betroffenen Kindern nicht verdient.
Siehe auch: https://350928.forumromanum.com/member/forum/entry_ubb.user_350928.2.1137084874.1137084874.1.zeitfenster_fuer_forderungen_an_politik_und_diakonissen_niedersachsen_noch-ehemalige_kurkinder_des.html?onsearch=1