Eine wichtige Neuerscheinung des aktuellen Jahres ist soeben im dgvt-Verlag Tübingen erschienen. Es handelt sich um die deutsche Übersetzung eines Buches von Ethan Watters, auf das ich schon 2011 im systemagazin aufmerksam gemacht habe. Watters ist ein amerikanischer Journalist, der sich in seinen Texten mit psychiatrischen, psychologischen und psychotherapeutischen Fragestellungen beschäftigt. In Wikipedia heißt es über sein aktuelles Buch: „In Crazy Like Us erweitert Watters seinen kritischen Ansatz auf die unreflektierte Anwendung psychiatrischer Konzepte. Watters wendet sich in diesem Buch an ein breites Publikum. Teilweise im Stil einer Reisereportage geschrieben schildert das Buch Watters Begegnungen mit psychisch Kranken, Psychiatern und Psychotherapeuten auf der ganzen Welt. Watters zeichnet die Wege nach, auf denen sich über Zeitschriften, Zeitungen, Fachmagazine und Meinungsführer psychiatrische Diagnosen um den ganzen Erdball verbreiten – häufig vorangetrieben durch Kampagnen der Pharmaindustrie.
Watters stützt sich dabei auf die Arbeiten des Medizinhistorikers Edward Shorter. Shorter geht davon aus, dass psychiatrische Diagnosen wie Sinnangebote funktionieren. Sie geben Menschen die Möglichkeit, ihrem Leiden in einer zu ihrer Zeit und in ihrer Kultur akzeptierten Form Ausdruck zu verleihen. (…) Watters selbst schreibt in Crazy Like Us über die im Westen verbreiteten Konzeptionen psychischer Störung: ,Wenn man sie von fernen Ufern aus betrachtet, sieht man die gesellschaftlichen Vorurteile und Gewissheiten, die unser eigenes Bild von psychischen Krankheiten und dem menschlichen Geist prägen, mit atemberaubender Klarheit. Von diesem Standpunkt aus erscheinen unsere eigenen Annahmen über Wahnsinn und das Selbst plötzlich recht seltsam.’“
Die deutsche Übersetzung hat Thorsten Padberg besorgt, auch für systemagazin-Leser kein Unbekannter mehr. systemagazin bringt hier mit freundlicher Erlaubnis des Verlages sein Nachwort als Übersetzer. Andrea Sacher aus Unna hat das Buch gelesen und resümiert: „Dieses Buch ist ein Appell an jeden von uns, die Selbstverständlichkeiten in unserem beruflichen Alltag zu hinterfragen. Lesen Sie es!“. Dieser Einladung kann ich mich nur anschließen: Wenn Sie die Rezension und das Nachwort gelesen haben, wissen Sie warum!
Andrea Sacher, Unna:
Um es schon gleich vorneweg zu sagen: Lesen Sie dieses Buch! Es wird Sie, als im psychosozialen Bereich tätigen Menschen, verunsichern. Und das ist gut so! Wenn Sie schon verunsichert sind, dann wird es Sie in diesem Gefühl bestätigen und das wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer Veränderung. Aber der Reihe nach:
„Sie kamen mit Fragebögen. PsychotherapeutInnen in Ausbildung und ehrenamtliche ÜbersetzerInnen sprachen vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin junge Flüchtlinge unter 24 Jahren an und baten sie, an einer Umfrage teilzunehmen – der ‚Berlin Health Survey‘. Nach Erfahrungen mit sexueller Gewalt und Folter fragten die Forscher. So sollte ein Bild von der psychologischen Verfassung der jungen Flüchtlinge entstehen. Ein Bild von der Last, die sie mitbringen.“
Dies ist, wie unschwer zu erkennen, kein Zitat aus dem Buch von Ethan Watters, das im Original 2010 in den USA erschienen ist und jetzt in der deutschen Übersetzung vorliegt, sondern der Anfang eines Berichtes aus unseren Tagen über Flucht und psychische Belastung („Angst essen Seele auf“) von Jan-Niklas Kniewel am 11.12.2015 auf taz.de. Da strömen die mit akademischem Wissen beladenen Menschen aus, um die vermeintlich traumatisierten Flüchtlinge zu untersuchen und ihnen damit zu helfen.
Aber: „Als die Mitarbeiter des Behandlungszentrums für Folteropfer in Berlin von der Untersuchung erfuhren, distanzierten sie sich. Wer in einem ungeschützten Raum explizit nach solchen Erlebnissen frage, gehe das Risiko ein, Traumata zu reaktualisieren, schrieben die Experten in ihrem Statement. Außerdem, so fuhren sie fort, wäre das Fragebogen-Instrument für die Zielgruppe gar nicht geeignet und ermögliche weder eine Einschätzung des Versorgungsbedarfs, noch die Erstellung einer Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).“
So lautete die Kritik vor Ort.
Ich greife dieses Beispiel auf, weil es sehr schön veranschaulicht, dass die Phänomene, denen Ethan Watters in seinem Buch nachgeht, jeden Tag stattfinden, überall auf der Welt – auch bei uns. Die Grundannahme des Buches ist, dass sich Definitionen von psychischen Erkrankungen und Vorstellungen über Behandlungsformen von Amerika aus globalisiert haben. Sie sind mittlerweile zu internationalen Standards geworden. Obwohl dies meistens mit den besten Absichten der Akteure geschah, konnten diese die Folgen dieser Standardisierung kaum voraussehen. Watters versucht an vier Beispielen aufzuzeigen, dass „die Art und Weise, wie die Angehörigen einer Kultur über psychische Krankheiten denken – wie sie die Symptome kategorisieren und gewichten, wie sie versuchen, sie zu heilen, und wie sie den Verlauf und die Heilungschancen einschätzen –, dass dies die Krankheiten selbst beeinflusst. Indem wir dem Rest der Welt beigebracht haben, genauso zu denken wie wir, haben wir ihn, im Guten wie im Schlechten, genauso verrückt gemacht wie uns.“
Um diese globale Entwicklung und deren Auswirkungen auf den menschlichen Alltag aufzuzeigen, erzählt Watters die Entstehungsgeschichten von vier Krankheiten in vier verschiedenen Ländern. Er dokumentiert jeweils spezifische Einzelfälle und kombiniert diese mit den Einschätzungen interkulturell tätiger ForscherInnen und AnthropologInnen. Seine Reisen führen ihn nach Sansibar, wo der Glaube an dämonische Besessenheit nach und nach durch biomedizinische Vorstellungen psychischer Erkrankungen ersetzt wird, und beschreibt, wie zwei Familien mit ihren betroffenen Angehörigen damit umgehen. Anhand des Schicksals einer Vierzehnjährigen in Hongkong zeichnet er den Aufstieg der „Krankheit Anorexie“ in Hongkong nach, die dort bis vor einigen Jahren noch gänzlich unbekannt war. Auf Sri Lanka erfährt er bei seinen Recherchen, wie nach der Tsunamikatastrophe 2004 aus der ganzen westlichen Welt TherapeutInnen herbeieilten, um sich um die vielen leidenden Menschen zu kümmern. Sie waren ausgerüstet mit ihrem Verständnis über die Folgen von Traumata auf die menschliche Psyche und wie damit umzugehen sei. Die einheimische Bevölkerung kannte bis dato die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ nicht. Sie hatte ihre eigenen Methoden, mit Schicksalsschlägen umzugehen, doch diese wurden in den meisten Fällen völlig ignoriert oder als rückständig betrachtet. Die letzte Reise führt Watters nach Japan. Er beschreibt sehr eindrücklich und auf erschreckende Weise, wie psychiatrische Diagnosen von Pharmaunternehmen gezielt am Markt platziert werden, um den Absatz ihrer Produkte in die Höhe zu treiben, in diesem Falle den des Antidepressivums Paxil.
Ich möchte an dieser Stelle nicht mehr über die Darstellung der vier Geschichten sagen. Und wahrlich: es sind Geschichten, spannend geschrieben und gut zu lesen. Und ja, es handelt sich hier nicht um wissenschaftliche Untersuchungen, obwohl einige Zahlen und Daten auch hieraus verwendet werden. Die Geschichten speisen sich aus journalistischer Recherche: Interviews, Beobachtungen, eigene Erfahrungen, Literatur. Und wahrscheinlich würde Ihnen ein Pharma-Unternehmen eine ganz andere Geschichte erzählen: von Doppel-Blind-Studien, von Effektstärken und Erfolgsquoten. Aber das Buch handelt vom Geschichtenerzählen und wie Geschichten unser Leben beeinflussen. Es macht uns noch einmal deutlich – etwas, was wir beispielsweise seit Michel Foucault oder Ivan Illich längst wissen, aber anscheinend immer wieder vergessen –, dass unser Wissen über psychische Erkrankungen (und nicht nur darüber) sich in dem gesellschaftlichen Koordinatenfeld von Zeit und Kultur generiert. Demnach gibt es in allen Kulturen Formen seelischen Leidens und diese hat es zu allen Zeiten gegeben. Menschen haben Erfahrungen gesammelt und Wissen aufgezeichnet, um mit diesen Leiden umzugehen. So gibt es zu bestimmten Zeiten spezielle Ausprägungen des Leidens, z. B. die – sogenannte – Hysterie und – sogenannte – Neurasthenie zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa oder die – sogenannte – Burn-Out-Diagnose in unserer Zeit, sowie auch in den verschiedenen Kulturen, z. B. der – sogenannte – Amok-Lauf, der sich von seinen Ursprüngen aus Indonesien mittlerweile auch internationalisiert hat. Der Umgang mit Erkrankungen ist geprägt durch das, wie in einer Gesellschaft gedacht und gesprochen wird. Darüber hinaus – und das wird durch Watters Ausführungen noch einmal in den Fokus gerückt – scheint seelisches Leiden Formen anzunehmen, die durch die Diskurse bestimmt werden. So stellt sich an dieser Stelle die Henne-Ei-Frage: Was war zuerst? Das Wort oder das Leiden?
Wenn Watters beschreibt, wie wir aus dem Globalen Norden – denn es sind längst nicht mehr nur die AmerikanerInnen – mit unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen über psychische Erkrankungen und den Marktinteressen unserer Unternehmen noch die letzten Winkel auf der Welt kolonisieren, indem wir ihnen die Segnungen unserer Medizin und Psychotherapie zu teil werden lassen, so hält er uns als in diesem Bereich Tätige den Spiegel vor. „[Von] fernen Ufern aus betrachtet, sieht man die gesellschaftlichen Vorurteile und Gewissheiten, die unser eigenes Bild von psychischen Krankheiten und dem menschlichen Geist prägen, mit atemberaubender Klarheit. Von diesem Standpunkt aus erscheinen unsere eigenen Annahmen über Wahnsinn und das Selbst plötzlich recht seltsam.“ Und umgekehrt, wenn man liest, wie Menschen in anderen Kulturen – noch – mit seelischem Leid und Schicksalsschlägen umgehen, eingebunden in eine Gemeinschaft, mit sinnhaften Deutungen, bekommen wir eine Ahnung davon, was wir schon verloren haben, indem wir immer mehr Diagnosen, medikamentöse und nichtmedikamentöse Behandlungsformen schaffen und nicht mehr auf die Leidensgeschichte jedes Einzelnen hören.
So komme ich noch einmal zum Anfang meiner Darstellung. Dieses Buch ist ein Appell an jeden von uns, die Selbstverständlichkeiten in unserem beruflichen Alltag zu hinterfragen. Lesen Sie es!
Ethan Watters (2016): „Crazy like us“. Wie Amerika den Rest der Welt verrückt macht. Tübingen (dgvt-Verlag)
238 Seiten
Preis: 19,99 Euro
ISBN: 978-3-87159-222-5
Verlagsinformation:
In den letzten Jahrzehnten haben die Amerikaner die ganze Welt mit ihren Rezepten zur Behandlung von psychischen Erkrankungen überschwemmt. Das Buch beschreibt, wie ihre therapeutische Mission den Rest der Welt verrückt macht. Auf seiner Reise von Hongkong über Sri Lanka und Sansibar nach Japan beobachtet Ethan Watters, wie der Versuch, in den jeweiligen Kulturen das Konzept einer psychischen Krankheit zu modernisieren, dazu führt, dass althergebrachte Ausdrucksweisen von Verrücktheit durch westliche Vorstellungen ersetzt werden. Die amerikanischen Versionen von Depression, Posttraumatischer Belastungsstörung oder Essstörungen verbreiten sich so schnell wie ansteckende Krankheiten. Doch ist es gerechtfertigt, dass sich Amerika so selbstverständlich zum Therapeuten des ganzen Globus aufschwingt? Mit Blick auf die psychische Gesundheit in den USA, wo inzwischen bei jedem Vierten eine psychische Erkrankung diagnostiziert wird, ist es fraglich, ob die modernen Ansätze tatsächlich zu einer verbesserten psychischen Gesundheit führen. Watters Schilderungen fremder Kulturen zeigen, dass wir möglicherweise mehr zu lernen als zu lehren haben.
Inhalt:
Vorwort: Ein Déjà-vu-Erlebnis (Heiner Keupp) 9
Einleitung 19
Kapitel 1: Der Siegeszug der Anorexie in Hongkong 25
Kapitel 2: Die Welle, die PTBS nach Sri Lanka trug 65
Kapitel 3: Die wechselnden Masken der Schizophrenie in Sansibar 109
Kapitel 4: Das Mega-Marketing der Depression in Japan 153
Schluss: Die globale Wirtschaftskrise und die Zukunft psychischer Krankheiten 199
Nachwort des Übersetzers: Crazy like us – Ethan Watters Berichte über psychische Krankheiten in fremden Kulturen zeigen auf, wie verrückt wir selbst geworden sind (Thorsten Padberg) 250
Thorsten Padberg: Crazy like us – Ethan Watters Berichte über psychische Krankheiten in fremden Kulturen zeigen auf, wie verrückt wir selbst geworden sind
Die Kassenärztliche Vereinigung einer großen deutschen Stadt lädt zum Informationstag. Die verschiedenen Arztgruppen stellen sich vor und zeigen, was sie können. Blutdruckmessen etwa, Hautkrebsscreening gratis, was in aller Schnelle eben so möglich ist. Auch die Psychotherapeuten haben einen Stand aufgebaut. Sie verteilen Informationsmaterialien und geben Kostproben ihrer Arbeit. Stündlich gibt es Entspannungsgruppen und die Gelegenheit zu „psychologischer Kurzberatung“: Zehn Minuten mit einem Psychotherapeuten/einer Psychotherapeutin ganz für sich allein. Die ausführende Kollegin ist schon alter und erfahren. Ihre Fragen sind routiniert, ihr Kopfnicken erfolgt habituell und lädt zum Sprechen ein. Und es funktioniert. Die Men- schen, die zu ihr kommen, beginnen zu reden. Über sich und das, was sie bedrückt. Und der Kopf der Therapeutin bewegt sich dazu, als würde er im Rhythmus einer schon oft gehörten Melodie mitwippen.
Frau K. zum Beispiel ist 43 Jahre alt und hat offensichtlich längere Zeit nicht mehr in Ruhe in einen Spiegel geschaut. Es ist nicht so, dass sie nicht ordentlich aussieht. Es ist mehr das Funktionale an ihrer Kleidung, in ihrem Auftreten. Zu funktional. Zu grau. Grau fühle sie sich auch, sagt sie. Sie hat einen Sohn, der viel Arbeit macht, und einen Mann, der viel auf Arbeit ist. Ihrem Leben fehlt es an Abwechslung, an Freude, an Farbe. Niedergeschlagen sei sie häufig in letzter Zeit und sie wisse auch nicht, wie sie etwas daran ändern könne. Sie schlafe schlecht und habe keine Lust auf die Hausarbeit. An dieser Stelle schluckt sie und verstummt. Der Kopf der Therapeutin hat aufgehört, zu wippen. In der Stille klingt Frau K.s Geschichte nach. Im Hin und Her der Konversation ist es jetzt an der Therapeutin, fortzufahren. Und als sie dann spricht, sagt sie: „Das, was Sie da erzählen, klingt mir aber nach einer richtigen klinischen Depression.“ Frau K. beginnt zu weinen. Ja, so etwas habe sie sich schon gedacht. Gebe es denn Hilfe? Die Therapeutin lächelt. Natürlich gebe es Hilfe, gut erprobte, wissenschaftlich gesicherte Methoden der Verhaltenstherapie zum Beispiel. Und ergänzend dazu Medikamente. Die zehn Minuten sind vorbei. Ob sie schon über professionelle Hilfe nachgedacht habe? Frau K. lässt sich noch eine Liste mit Telefonnummern geben. Als sie sich verabschiedet, lächelt auch sie. Sie bedankt sich. Endlich habe sie einmal jemand richtig verstanden.
Geschichten über uns aus der Ferne
In der eingangs geschilderten (authentischen) Szene, die sich in Deutschland in ähnlicher Form in ärztlichen und psychologischen Praxen jedes Jahr tausendfach abspielt, tauscht Frau K. innerhalb von zehn Minuten ihre gesamten alten Probleme gegen ein einzelnes neues. Frau K. klagt beim Informationstag der Kassenärztlichen Vereinigung zunächst über ihr Leben, über ihre Beziehungen und ihre Gefühle. Sie geht mit einem faulen Sohn, einem abwesenden Mann und der Trauer über ihr Leben in die Kurzberatung. In kürzester Zeit tauscht sie all diese Probleme gegen ein einziges, völlig andersartiges: Depression. Sie ist jetzt psychisch krank. Durch Ethan Watters Augen, der das Leben und Leiden rund um den Planeten studiert hat, erscheint diese schnelle Einordnung von Frau K.s Problemen als Zeichen einer psychischen Krankheit selbst ein wenig verrückt.
Ethan Watters hat ein Buch mit einem multikulturellen Thema geschrieben. Wie ist es um die Konzeption von psychischer Gesundheit in fernen Ländern bestellt? Er reist durch Tansania, Sri Lanka, Japan und Hongkong, lernt dort Menschen kennen, die in Schwierigkeiten sind, und solche, die ihnen bei der Bewältigung ihrer Probleme helfen. Mal mehr, mal weniger gut. Dabei lehrt er uns, was wir vielleicht schon wussten: Woanders auf der Welt ist nicht nur das Leben anders, sondern auch das Leiden. Crazy like us – verrückt wie wir? Wohl eher nicht. Dass man die Opfer des Tsunamis in Sri Lanka nicht wie die Opfer eines Autounfalls in Berlin behandeln darf, klingt einleuchtend.
Doch was kümmert es uns? Watters Buch dient vielleicht als Mahnung, nichts für selbstverständlich zu halten, wenn wir es, wie es zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung in Deutschland geschieht, mit Menschen zu tun haben, die traumatisiert aus einem anderen Kulturkreis zu uns kommen. Der Hinweis auf die kulturellen Rahmenbedingungen jeder Psychotherapie, ja schon der Diagnosestellung, ist relevant, wenn es darum geht, diesen Menschen zu helfen.
Doch die Bedeutung der Aussagen in Watters Buch geht für seine im Westen lebenden Leser über eine Anleitung zum Umgang mit dem Rest der Welt weit hinaus. Indem Watters seine Leser auf eine Reise um die halbe Welt mitnimmt und aufzeigt, wie wenig passend unsere hausgemachten Konzeptionen von psychischer Krankheit und ihrer Heilung für die Menschen in fremden Ländern sind, weist er uns damit zugleich auf unsere eigene Verfassung hin. Durch den Blick in die Fremde wird uns unser eigenes Erleben und Empfinden wieder erfahrbar. Wir schauen durch eine andere Brille auf uns selbst zurück: „Wenn man sie von fernen Ufern aus betrachtet,“, schreibt Watters, „sieht man die gesellschaftlichen Vorurteile und Gewissheiten, die unser eigenes Bild von psychischen Krankheiten und dem menschlichen Geist prägen, mit atemberaubender Klarheit. Von diesem Standpunkt aus erscheinen unsere eigenen Annahmen über Wahnsinn und das Selbst plötzlich recht seltsam.“
Dass Trauer, Schwermut und Suizidgedanken zwar unbedingt als Problem, nicht aber notwendigerweise als Ausdruck einer Krankheit angesehen werden müssen, lernt Watters z. B. auf seiner Reise nach Japan. Allein die Tatsache, dass Antidepressiva dort erst seit 2001 verkauft werden, dürfte die meisten westlichen Leser überraschen, so sehr haben wir uns an die kleinen Helfer in Pillenform für die „Volkskrankheit“ Depression gewöhnt. Der Grund für diese späte Markteinführung erscheint uns dann schon fast unglaublich: Nur eine verschwindend geringe Minderheit der Japaner sah sich bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt als depressiv an. Also gab es auch keinen Grund, Medikamente gegen Depressionen einzunehmen. Watters nutzt diese Gelegenheit, mit nur wenigen Jahren Abstand die im Schnellverfahren nachgeholte Verbreitung der psychiatrischen Diagnose Depression in Japan nachzuzeichnen. Vollzogen wird sie durch das, was Watters die „Mega-Marketing-Maschinerie“ der Medikamentenhersteller nennt.
Unter anderem weil zumindest bis heute kein biologisches Substrat der Störung „Depression“ gefunden wurde, ist die Zusammenfassung von psychologischen Symptomen unter ein psychopathologisches Label letztlich eine Übereinkunft von Fachleuten. Die Ausgestaltung dieser Übereinkunft wird von daran interessierten Marktkräften durch Einladungen, Geschenke und Schmeicheleien selbst mit hergestellt und geprägt, wie Watters in Gesprächen mit einigen der in Japan daran beteiligten Psychiater aufzeigt. Watters fasst zusammen: „Eine Kultur kann die Kategorien, mit denen bestimmte Symptome in einer anderen Kultur erfasst werden, umgestalten, die dortigen Erklärungsmodelle ersetzen und die Grenze zwischen normalem und als krankhaft angesehenem Verhalten und Erleben neu definieren.“
Psychopathologische Diagnosen bestehen nicht unabhängig von ihrer Zeit und Kultur, sie werden von Fachleuten deklariert und verbreitet. Dennoch sind sie in dem Moment, in dem sie von Menschen „gelebt“ werden, vollkommen real. Das macht das Reiseziel Japan zu solch einer guten Wahl für Watters Anliegen. Er kann hier zeigen: „Die einfache, aber nicht leicht zu verstehende Wahrheit ist, dass psychische Krankheiten … gleichzeitig kulturell geprägt sind und dem Leidenden dennoch vollkommen authentisch erscheinen.“ Psychische Krankheiten, die – anders als die meisten medizinischen Diagnosen – keine materiellen Referenten haben, bestehen nicht unabhängig von dem, was Experten und im Anschluss auch die Betroffenen über sie zu sagen haben. Watters zeigt dies auch am Beispiel von Hongkong auf, wo sich junge Mädchen auf tragische Weise an einem spektakulären Fall von Anorexie, der es in die Medien geschafft hatte, ein Beispiel nehmen. Innerhalb weniger Jahre kommt es zu einer wahren Epidemie der dort bis dahin so gut wie unbekannten Essstörungen. Psychopathologische Diagnosen sind in Watters Augen Sinnangebote, die einem sonst schwer zu fassenden Leiden Ausdruck verleihen. Sie sind, wie Watters schreibt „real, aber … nicht zeitlos“. Wenn wir das vergessen und sie so wie Frau K. und ihre Therapeutin wie selbstverständlich als Bezeichnung einer Krankheit gebrauchen, reden wir uns wortwörtlich um den Verstand. Crazy like us hilft uns zu erkennen, auf welche Weise wir selbst verrückt werden.
Die Sprache der Psychopathologie schafft soziale Wirklichkeiten (ab)
Watters Reiseberichte machen deutlich, welche alternativen Sichtweisen auf unser psychisches Leiden möglich sind. Dass Depressionen in Japan während einer massiven Rezession im großen Stil die öffentliche Bühne betreten oder Essstörungen zum Zeitpunkt der Rückgabe der britischen Kolonie an das verhasste China in Hongkong Einzug halten, ist eine alternative Erklärung für psychologisches Leid und nicht notwendig die einzig richtige. Watters schafft damit zunächst mehr kognitiven Spielraum, in dem neben der im Westen dominanten psychiatrischen Sicht auf die Dinge andere Konzeptionen von psychischem Leid denkbar werden. Er wirft durch seine transkulturelle Perspektive eine für uns zu Hause in Deutschland entscheidende Frage auf: Welche Folgen hat es, wenn wir nicht nur die Not fremder Völker, sondern auch unser persönliches Leiden mit psychopathologischen Kategorien erfassen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem begrenzten Kreis nordamerikanischer Experten vereinbart wurden? Um auf das eingangs geschilderte Beispiel zurückzukommen: Was gewinnt Frau K., wenn sie ihre (schweren) Alltagsprobleme mit Mann und Kind gegen ein (mindestens ebenso schweres) psychologisches Problem tauscht, das anscheinend anlasslos über sie gekommen ist? Sie geht mit einem Begriff, der „Depression“, aus der Kurzberatung, der ihrem Leiden einen neuen Namen gibt. Wachsen ihre Möglichkeiten zur Bewältigung ihrer Schwierigkeiten dadurch oder werden sie damit kleiner? Wird ihr mit einem Antidepressivum und der Umstrukturierung ihrer Gedanken gut geholfen? Wenn es ihr mit Medikamenten und einer neuen Sichtweise besser geht, ist das dann auch die Lösung ihrer familiären und biographischen Probleme oder geraten diese dadurch womöglich ganz aus dem Blick?
Wie Watters am Beispiel der Forschung zur Schizophrenie zeigt, werden ganze Forschungszweige von einem Sog erfasst, die Dinge nach ihrer psychopathologischen Einordnung als Problem der individuellen Psyche anzusehen. Und damit ist meist ein neurologisches Problem des Gehirns gemeint. Obwohl es seit Längerem umfassende empirische Belege über den entscheidenden Einfluss des kulturellen Umfelds auf Erscheinungsbild, Verlauf und Folgen der Schizophrenie gibt, liegt der Fokus der Mainstream-Psychiatrie bis heute fast vollständig auf biologischen Erklärungsmustern. Wenn sich schon die Forscher von dieser sprachlich geschaffenen Wirklichkeit nicht lösen können, wieso sollte es den Psychotherapeuten und Patienten, die sich in ihrem Urteil auf die Expertise der Wissenschaften stützen, anders ergehen?
Die psychopathologische Sprache schafft psychosoziale Wirklichkeiten. In Frau K.s Fall macht der Depressionsbegriff aus einem Familienproblem eine individuelle Störung. Ach, wäre Frau K. nur psychisch gesund, gäbe es auch kein Problem mit Mann und Kind und Haushalt. Dadurch, dass Watters von anderen Formen des Umgangs mit psychischem Leid berichtet, wird uns im Kontrast unsere inzwischen so natürlich erscheinende, individualisierende Sichtweise bewusster: „Wenn wir durch die Augen der Menschen, die dort leben, wo menschliche Tragödien noch in komplexe religiöse und kulturelle Erklärungsmuster eingebettet sind, auf uns selbst blicken, bekommen wir eine Ahnung davon, wie sehr unser modernes Selbstbild das eines tief verunsicherten und ängstlichen Volkes ist. Wir investieren unseren Reichtum in die Erforschung und Behandlung dieser Störung, weil wir unsere anderen Überzeugungen, die unserem Leiden früher einmal Bedeutung gegeben und sie in einen Zusammenhang eingeordnet haben, ziemlich abrupt verloren haben.“
Es ist vor allem der soziale Kontext, der unserer Behandlung psychischer Probleme abhandengekommen ist. Wenn, wie Watters schildert, die Traumatherapeutin Kate Amatruda wie selbstverständlich davon ausgeht, dass man in Zeiten der Krise zunächst an sich selbst denken muss, bevor man für andere da sein kann, begegnet man ihr in Sri Lanka deswegen mit Befremden. Für die Menschen dort ist es ausgemacht, dass das größte psychische Leid erst dadurch entsteht, dass man in der durch den Tsunami verursachten Krise nicht mehr für andere da sein kann. Das eigentliche Problem liegt für die Sri-Lanker darin, dass sie von dem sozialen Netzwerk getrennt wurden, zu dem sie gehören. Watters Buch wirft für seine westlichen Leser die Frage auf, ob das eine Sichtweise ist, die nur in Sri Lanka gültig und sinnvoll ist, oder ob nicht auch uns manchmal besser geholfen wäre, wenn wir die Dinge ebenfalls aus diesem sozialen Blickwinkel betrachten würden.
Die Psychotherapeutin hätte am Informationstag der Kassenärztlichen Vereinigung mit Frau K. darüber reden können, auch in zehn Minuten, was der unbefriedigende Kontakt zu ihrer Familie für sie bedeutet. Was möchte sie daran ändern? Wie sollte ihr Leben stattdessen sein? Was könnte sie selbst dafür tun, welche Veränderungen wären nötig, um sich besser zu fühlen? Mehr Zeit für sich selbst? Ein Gespräch mit ihrem Mann über die Zukunft der Ehe? Was hätte sie rückblickend in den letzten Jahren anders machen wollen? Einen eigenen Beruf ergreifen? Einen größeren Freundeskreis aufbauen? Nachdem die Diagnose gestellt ist, interessiert die Therapeutin jedoch nichts davon. Ihr therapeutisches Handwerk dient allein der psychopathologischen Neuschreibung der Geschichte ihrer Klientin. Watters sieht diese Perspektive auf menschliches Leiden mit einer traurigen Konsequenz verbunden: der „Entwertung der Erlebnisse, die das Selbsterleben der kranken Person ausmachen“.
Die nachfolgenden Interventionen leiten sich aus dieser Diagnose ab. Frau K. wird nicht damit beginnen, Gespräche mit ihrer Familie zu führen, sondern erst einmal Tabletten einnehmen. Ihre persönlichen Veränderungswünsche werden nicht erhoben, weil sich die Behandlungsziele anscheinend automatisch aus der Symptomatik ergeben. Das psychotherapeutische Gespräch dient nicht länger der Reflexion, es soll nicht länger die Aufmerksamkeit auf schädliche Umstände lenken oder zum aktiven Entwurf des eigenen Lebens anleiten. Das Ziel einer Depressionstherapie nach westlichem Muster ist also ein „mehr desselben“, nur ohne Symptome.
Psychopathologie und Politik sind eins
Weil als Folge der Diagnostik Empfehlungen für den Umgang mit Lebensproblemen ausgesprochen werden, ist Psychopathologie implizit immer auch politisch. Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie greifen in die „Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens“ ein, so definiert Wikipedia den Politikbegriff. Wie unsere Leidensäußerungen kategorisiert werden, ist deshalb nicht nur eine Frage einer wissenschaftlichen Disziplin, sondern zugleich auch eine Frage der Politik. Das wird besonders dann deutlich, wenn man den Blick nicht nur über kulturelle Grenzen hinaus, son- dern auch durch die Zeit schweifen lässt.
Wutausbrüche sind vielleicht eines der auffälligsten Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung, wie sie im Klassifikationswerk psychopathologischer Diagnosen, dem DSM, beschrieben werden. Wenn Watters nachzeichnet, wie sich aus einer historisch einmaligen Gemengelage aus Rap-Sessions, Veteranentreffen und sozial engagierten Psychoanalytikern zur Zeit des Vietnamkriegs die Idee der PTBS entwickelte, wie wir sie heute kennen, wird darin deutlich, wie sich die Themen der Zeit in die Diagnosen der wissenschaftlichen Disziplin Psychiatrie einschreiben. Das im DSM noch heute zu findende Wut-Symptom, lernen wir, hatte ursprünglich nur indirekt mit den Kriegserlebnissen der Soldaten zu tun: Die Posttraumatische Belastungsstörung, so wie ihre Erfinder sie konzipiert hatten, umfasste Wut als Symptom dieser Störung nur deshalb, weil die Verärgerung der Soldaten über die Regierung der USA zentraler Bestandteil ihres ganz individuellen, zeitbedingten Leidens war. Weil PTBS aber auch für viele andere durch schwer zu verarbeitende Ereignisse Belastete nützlich erschien, wurde die Diagnose immer mehr erweitert. Noch heute findet sich die Wut der Soldaten auf ihre Regierung in der DSM-Definition der PTBS. Nicht länger als verständliche Reaktion einer Soldatengeneration, die sich von der eigenen Regierung betrogen fühlte, sondern als Bestandteil einer seelischen Erkrankung, die als fehlerhafte Verarbeitung eines belastenden Ereignisses angesehen wird.
Dadurch, dass man psychiatrische Begriffe dekontextualisiert und zu Bezeichnungen der zeitlosen Erkrankungen der Psyche umdeklariert, können sie später zu Zwecken eingesetzt werden, bei denen sich ihren Erfindern der Magen umgedreht hätte. Wird sie als Fehler in der Informationsverarbeitung verstanden, ist PTBS nicht länger ein Mittel des sozialen Protests gegen das Leiden an einem sinnlosen Krieg. Stattdessen kann PTBS zu einem rhetorischen Mittel werden, die Verantwortung für das Leiden an Kriegshandlungen den Betroffenen selbst zuzuschreiben. Mit den posttraumatisch Erkrankten stimmte dann schon vor Ausbruch der Kriegshandlungen etwas Grundlegendes nicht: Mit einer so genannten „Dunkelzifferstudie“ erklärte der Professor für Klinische Psychologie Hans-Ulrich Wittchen von der Technischen Universität Dresden der Öffentlichkeit den „herausragende[n] Stellenwert psychischer Vorerkrankungen“ für die Frage, ob Soldaten durch den Einsatz psychisch geschädigt werden. „Nur psychisch gesunde Soldatinnen und Soldaten dürfen in die Einsätze gehen“, wird Wittchen in der Süddeutschen Zeitung vom 26.11.2013 zitiert. „Dass ein Fünftel der Soldatinnen und Soldaten bereits mit einer manifesten psychischen Störung in den Einsatz geht, muss ein Ende finden“, schloss sich der damalige Wehrbeauftragte des Bundestags, Hellmut Königshaus, an. Wer durch Kriegshandlungen traumatisiert wurde, leidet dann in Wirklichkeit gar nicht unter den Folgen des Krieges, sondern hatte vorher schon andere psychische Krankheiten oder beispielsweise Alkoholmissbrauch betrieben. Das Traumakonzept, wie es sich seine sozial engagierten Erfinder gedacht hatten, wird in dieser Auslegung in sein Gegenteil verkehrt.
Auch in ihrer abstrahierten Form, die vorgibt, einfach eine Beschreibung einer psychischen Störung zu sein, transportieren psychiatrischen Diagnosen deshalb implizit ein politisches Programm. Die beste Therapie nach einem Trauma ist dann nicht mehr „eine gut gemachte Sozialpolitik“, wie Watters einen Vorschlag aus Sri Lanka referiert, sondern, wie Wittchen empfiehlt, eine Vorauswahl der Soldaten durch „verbesserte klinisch-diagnostische Screenings“. Ein Krieg, so sinnlos er auch sein mag, der von psychisch gesunden Kämpfern geführt wird, hätte demnach für diese auch keine schädlichen psychologischen Folgen.
Psychiatrie und Klinische Psychologie werden dadurch zunehmend zu wertenden Instanzen, die über „gesund oder krank“ urteilen und damit „gut oder schlecht“ meinen. Sie treffen moralische Entscheidungen, denen sie ein wissenschaftliches Mäntel- chen umhängen. Das verstecken diese Disziplinen gut vor sich selbst. Wie bei einem „Goldrausch“ stürmen in Watters Beschreibung die Hilfsorganisationen nach Sri Lanka, um ihre Behandlungsprogramme an der notleidenden Bevölkerung auszuprobieren, ohne auch nur einmal nach den Bedürfnissen der Betroffenen zu fragen. Watters zeigt, wie mit messianischem Eifer versucht wird, die Erkenntnisse der objektiven Wissenschaft umzusetzen.
Dabei ändern sich psychopathologische Diagnosen mit den gesellschaftlichen Stimmungen ihrer Zeit und die Psy-Wissenschaften werden zu sozialen Akteuren. Das bekannteste Beispiel dürfte die Streichung der Homosexualität aus den Klassifikationswerken der Psychiatrie sein, als Ergebnis der Proteste der Schwulenbewegung in den USA. Dass damit soziale Strömungen in den Begriffen der gegenwärtigen Psychiatrie verdinglicht werden, zeigte jüngst eine psychiatrische Untersuchung, die angeblich Missbildungen im Gehirn von Schwulenhassern fand. Vor 35 Jahren war es noch die offizielle Lehre der Psychiatrie, dass Homosexualität eine Geisteskrankheit sei. Heute halten erste Psychiater genau diese Ansicht für ein Zeichen einer psychischen Erkrankung, suchen nach ihrer Manifestation im Gehirn und meinen dann, sie dort auch gefunden zu haben. Der Begriff der psychischen Krankheit wird so – in die eine wie in die andere Richtung – zum Instrument der politischen Propaganda.
Literatur und Wissenschaft in Watters Werk
Wissenschaft strebt nach Wahrheit, während in der Literatur erfundene Geschichten erzählt werden. So jedenfalls stellt sich das der naive Realismus vor. Für eine solche duale Klassifikation stellt Watters Buch ein Problem dar, denn er berichtet in Geschichtenform von seinen Reisen und vermittelt zugleich wissenschaftlich fundiertes Wissen. Weil er in der Ich-Form berichtet, wirkt sein Text weniger objektiv als die üblichen Lehrbücher zu diesen Themen, er verzichtet auf den wissenschaftlichen Gestus. Doch es ist ein Irrtum, anzunehmen, sein Text würde dadurch im besten Fall gefälliger und im schlimmsten Fall zum Ausdruck seiner nur subjektiven Meinung. Literatur ist ihre eigene Erkenntnisform und beeinflusst in kaum abzuschätzendem Maß unsere Sicht auf die Welt, noch bevor wir uns zu ihrer Vermessung mit den Mitteln der empirischen Wissenschaft aufmachen. Watters gefällige Darstellung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, wie gut er sein Gebiet beherrscht, um so eindrücklich schreiben zu können.
Wer Crazy like us gelesen hat, wird seine Heldinnen und Helden kaum vergessen können: die Anthropologin Juli McGruder, die Schizophrenie nicht nur aus ihrer Forschung, sondern auch aus ihrer Familie kennt; Dr. Laurence Kirmayer, der als Experte für transkulturelle Psychiatrie unfreiwillig Beihilfe zur Verbreitung des westlichen Depressionskonzeptes in Japan leistet; oder Charlene Hsu Chi-Ying, die durch ihren Tod auf einer belebten Einkaufsstraße in Hongkong zum Ausgangspunkt einer Epidemie von Essstörungen wird. Sie alle verkörpern Themen. Durch die Schilderung ihrer persönlichen Betroffenheit und/oder ihres aktiven Engagements bringt uns Watters diese Menschen nahe und macht uns für die komplexen psychiatrisch-psychologisch- philosophischen Themen empfänglich, mit denen sie in ihrem täglichen Leben umgehen. So werden ihre Anliegen zu unseren, weil wir ihre Geschichte kennen.
„Wir träumen in Geschichten, schwärmen in Geschichten, erinnern, erwarten, ver- zweifeln, glauben, zweifeln, planen, überarbeiten, kritisieren, konstruieren, tratschen, lernen, hassen und lieben in Geschichten“, schrieb 1968 die Literaturtheoretikerin Barbara Hardy (1). Die Empirie, deren nüchterne Mathematik in wissenschaftlichen Jour- nalen so hoch geschätzt wird, vollzieht oft nur nach, was wir uns in Geschichten vorher selbst verständlich gemacht haben. Es sind Autoren wie Ethan Watters, die uns mit ihren Geschichten die Themen nahebringen, deren Erforschung sich wirklich lohnt. Wir dürfen hoffen, dass am Ende auch Menschen wie Frau K. und ihre Therapeutin davon profitieren.
(1): Hardy, B. (1968). Towards a poetics of fiction: An approach through narrative. Novel, 1, 5–14.
Über den Autor:
Der renommierte Journalist und Autor Ethan Watters schreibt regelmäßig für das New York Times Magazine, Discover, Men’s Journal und Wired. Weitere Bücher von ihm sind Urban Tribes, eine Untersuchung der Lebensweisen wohlhabender unverheirateter Paare, sowie Making Monsters: False Memories, Psychotherapy, and Sexual Hysteria (gemeinsam mit Richard Ofshe). Er lebt mit seiner Familie in San Francisco.
[…] Source: „Crazy like us“ – Wie Amerika den Rest der Welt verrückt macht […]
Gerne schliesse ich mich der Leseempfehlung von Tom Levold und Fritz Simon an. Walters und seiner Kritik der „Amerikanisierung von psychischen Krankheiten“ bin ich zum ersten mal in einem Artikel in der Famdynamik (3/2010) begegnet. Leider wurde seine journalistische Arbeit in der Fachwelt bisher kaum zur Kenntnis genommen, trifft seine Kritik doch fest etablierte Glaubensysteme und damit verbunden auch die (finanziellen) Interessen aller Experten für psychische Störungen, für die das Gesundheitswesen über Jahre zum sicheren „Arbeitgeber“ geworden ist bzw. noch werden soll… Hier liessen sich aus unserem klinischen Praxisalltag heraus zahlreiche Beispiele anführen, wie „die Sprache der Psychopathologie soziale Wirklichkeiten schafft“ und somit auch das eigene, mitunter auch das Selbstverständnis der Systemiker betr. Psychotherapie und deren „Krankheitswertigkeit“ prägt und verändert. Erfreulich, dass dieser Psychotherapie- und Diagnostikdiskurs in diesem wie auch im kommenden Jahre ins Zentrum von Symposien bzw. Kongresse gestellt wird.
Martin Rufer, Bern.
Ein wirklich lesenswertes Buch. Es zeigt, wie der amerikanische Diagnose-Imperialismus entstanden ist und welche Folgen er weltweit für die Mainstream-Psychiatrie und die öffentliche Meinung zu psychischen Auffälligkeiten bzw. abweichendem Verhalten hat.