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Alles ist okay!!

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Interkulturelle Zusammenarbeit kann sehr oft ungemein komisch sein, und davon gibt es heute jede Menge. Rudolf Klein hat in den Jahren von 2003 bis 2005 gemeinsam mit seiner Frau Barbara Schmidt-Keller ein systemisches Weiterbildungscurriculum in der Ukraine durchgeführt, ein Projekt mit vielen Hindernissen und wunderlich-wunderbaren Erfahrungen. Aus seinen Tagebuchnotizen hat er einen Text für den Adventskalender erstellt, für dessen Lektüre man sich unbedingt Zeit nehmen sollte:

Ukraine hin und zurück – Tagebuch einer interkulturellen Zusammenarbeit

Barbara Schmidt-Keller und ich waren lange Jahre in einer Suchtberatungsstelle des Caritasverbandes beschäftigt. Die zuständige Diözese unterhielt eine Partnerschaft mit einer Diözese in der Ukraine – Ivano-Frankivsk. Dort war ein Hochschullehrer für Psychiatrie namens Wasilij neben seiner Hochschultätigkeit in der Jugendarbeit engagiert.
Wasilij hatte die Idee, eine psychotherapeutische Ausbildung mit dem Schwerpunkt „Sucht“ aus Deutschland zu importieren. Er war aufgrund seiner deutschen Sprachkenntnisse und seines Einblickes in den psychotherapeutischen Bedarf seiner ukrainischen Heimat für eine solche organisatorische Aufgabe prädestiniert.
Wasilij besuchte im Rahmen eines Aufenthalts in Deutschland mehrere psychotherapeutische Institute, sprach mit den jeweiligen Ausbildern und entschied sich letztlich für eine systemische Ausbildung. In diesem Zusammenhang lernte er auch Barbara und mich kennen und fragte an, ob wir Interesse hätten, eine solche Ausbildung für eine von ihm „handverlesene“ Gruppe anzubieten. Die Kosten für dieses Projekt wurden durch die EU gedeckt. Träger war der Caritasverband.
Die Ausbildung setzte sich aus sechs fünftägigen Wochenkursen im Abstand von etwa drei Monaten zusammen und fand von 2003 bis 2005 in der Psychiatrie von Ivano-Frankivsk statt. Die Anreise erfolgte mit dem Zug nach Frankfurt, mit dem Flugzeug nach Lemberg (Lviv) und dann mit dem Auto nach Ivano-Frankivsk, das ca. 180 km südlich von Lemberg in den Ausläufern der Karpaten liegt. Die Übersetzung sollte durch einen eigens dafür engagierten Übersetzer erfolgen. Alle anderen organisatorischen Regelungen wie Unterkunft und Verpflegung sollten von Wasilij vorgenommen werden.
Die besonderen Erlebnisse, die sich aus der Begegnung zwischen teilweise unterschiedlich kulturell geprägten Erwartungen ergaben, habe ich damals in einer Art Tagebuch festgehalten. Einige Auszüge habe ich für den diesjährigen Adventskalender ausgesucht. 

1. Woche   

Anreisetag
Die Reise verläuft bis Lemberg unproblematisch. Züge und Flugzeug sind pünktlich. Wir werden in Lemberg von Wasilij und dem Fahrer Igor abgeholt. Igor lernen wir erst hier kennen. Er ist Psychiater, nimmt am Kurs teil und hat sich seinen alten Ford durch Maurerarbeiten während seines Urlaubs in London verdient. Die Autofahrt von Lemberg nach Ivano-Frankivsk wirkt abenteuerlich, gibt aber auch einen ersten Einblick in die ökonomischen und sozialen Verhältnisse der Ukraine. Zur Bewältigung der ca. 180 Km langen Strecke benötigen wir dreieinhalb Stunden. Die relativ lange Fahrdauer ist u.a. auch dadurch zu erklären, dass an der Grenze zwischen zwei Provinzen die Straße am Ende der einen Provinz ca. ein Meter höher liegt als sie am Beginn der anderen Provinz weitergeht. Beide Provinzen können sich seit Jahren nicht über den genauen Grenzverlauf einigen, sodass eine auf gleicher Höhe verlaufende Straße bisher nicht realisierbar war. Dieser Umstand wird bis ans Ende unserer Ausbildungsreihe so bleiben. Dieses unüberwindliche Hindernis kann nur durch eine Ausweichstrecke über einen Feldweg umfahren werden.

1. Tag
Der Kurs startet offiziell mit 22 Personen. Unangemeldet sind noch zwei Psychiaterinnen erschienen und werden von Wasilij aufgenommen. Ein Sponsor der Gruppe aus Lemberg (er bezahlt für einige Teilnehmer aus Lemberg den gesamten Aufenthalt, ist Geschäftsmann und Abgeordneter in irgendeinem politisch bedeutsamen Gremium) wünscht die Teilnahme seiner Gattin. Diese wird ebenfalls aus strategischen Gründen aufgenommen.

3. Tag
Der direkte Vorgesetzte von Wasilij und Igor lädt sich selbst in einem Befehlston ein und droht bei Verhinderung damit, den beiden die nächsten Kurse schwerer zu machen (Urlaub nicht genehmigen usw.). Es besteht die Hypothese, dass er seine Tochter noch in dem Kurs unterbringen will. Er erscheint verspätet, da er es als die Pflicht von Igor ansieht, ihn mit dem Auto abzuholen und anschließend wieder zurück zu fahren. Igor musste allerdings zuerst uns transportieren.
Der Vorgesetzte sitzt anfangs im Außenkreis und wird während einer Rückmelderunde in den Kreis integriert. Nach der ersten Einheit verabschiedet er sich. Barbara und ich bedanken uns für sein Interesse und teilen ihm mit, dass er bei einem erneuten Besuch willkommen sei.
Die Ehefrau und Tochter (ca. 8 Jahre) von Pater Vitali, einem Teilnehmer des Kurses, erscheinen verspätet und möchten als „interessierte Gäste“ zuhören. Mit Vitali und der Ehefrau wird in freundlichem Ton geklärt, dass diese Veranstaltung eine Lehrveranstaltung ist, Schweigepflicht besteht und persönliche Dinge zur Sprache kommen. Daher sei ihre Teilnahme nicht möglich. Außerdem sei die achtjährige Tochter vermutlich überfordert.
Eine Musiktherapeutin erscheint und möchte unangemeldet integriert werden. Parallel muss ein vom Bischof angemeldeter Priester seine Teilnahme absagen. Dieser wird durch einen anderen Priester ersetzt. Mit diesem Argument gelingt es Wasilij auch besser, die Musiktherapeutin abzuweisen. Der Kurs besteht inzwischen aus 25 Personen.

2. Woche

Anreisetag
Statt um 11.20 Uhr fliegt das Flugzeug erst um 21.00 Uhr nach Lemberg, nachdem zunächst wegen eines Schneesturmes in Kiew von einer zweistündigen, dann von einer fünfstündigen Verspätung und dann von einem Flug ab 21.00 Uhr nach Kiew informiert wurde. Eine Zwischenlandung in Lemberg sei aufgrund des Nebels nicht machbar. Die Rückreise nach Lemberg sollte von Kiew aus mit dem Bus in der Nacht erfolgen. Kurz vor Abflug in Frankfurt erhalten wir auf Nachfrage die Information, dass eine Landung doch noch in Lemberg vorgesehen sei. Ein Anruf bei Wasilij ermöglicht, dass wir um 24.00 Uhr in Lemberg abgeholt werden. Die Autofahrt inklusive Zollkontrollen ermöglicht den Bezug des Hotelzimmers in Ivano-Frankivsk um 3.30 Uhr.

1. Tag
Wir beginnen mit zwei Stunden Verspätung – wegen der Anreiseprobleme. Der Vorlesungssaal ist verschlossen. Der Schlüsselinhaber ist für unbekannte Zeit unterwegs. Die Gruppe begnügt sich mit einem zu kleinen Raum. Es erweist sich als positiv, dass die Priester noch fehlen (Wochenende), da nicht alle einen Platz finden würden. Nach zwei Stunden ist der Vorlesungssaal geöffnet – allerdings ist er so kalt, dass man darin nicht arbeiten kann. Es bleibt am heutigen Tag bei dem kleinen Raum. Für den nächsten Tag ist das Erwärmen des Vorlesungssaales vorgesehen. Möglicherweise ist wegen des Wochenendes nicht geheizt. 
Eine Teilnehmerin ist in die BRD ausgewandert. Dafür rückt eine neue Teilnehmerin nach. Sie ist eine frisch promovierte Ärztin, Tochter des Lehrstuhlinhabers, der in der ersten Woche unangemeldet erschien und als Beobachter fungierte. Angenehmer Nebeneffekt: Alle Teilnehmer, die an der Universität angestellt sind, sind nun offiziell für die Veranstaltungen freigestellt. Der organisatorische Hintergrund ist damit zusätzlich abgesichert. Wir werten die Aufnahme der neuen Teilnehmerin durch Wasilij als eine taktisch kluge Entscheidung.
Ein Auszubildender in systemischer Familientherapie erscheint unangemeldet und bittet um den Status eines Beobachters. Dies wird von Wasilij abgelehnt mit d
em Hinweis an uns, dieser Kollege sei ein „Spion“ der analytisch orientierten Psychotherapie.

3. Tag
Wir beginnen mit einer Verspätung von 30 Minuten, weil der für uns vorgesehene neue Raum vormittags zwar für uns reserviert wurde, nun jedoch noch nicht zur Verfügung steht. Die Benutzung des Vorlesungssaales wird nicht mehr ernsthaft in Erwägung gezogen. Nach einer gewissen Verzögerung entpuppt sich der neue Raum als das Schulzimmer auf der kinderpsychiatrischen Station. Der Raum ist größer als der andere Ausweichraum, allerdings zur Hälfte mit Schultischen und integrierten Bänken versehen. Die Heizung ist kaputt und der Raum somit kalt.
Die Gruppe lässt sich von diesen Veränderungen und Vorkommnissen überhaupt nicht beeindrucken. Sie arbeiten konzentriert und offensichtlich mit Spaß.

3. Woche

Anreisetag
Wir sind bei 8 Grad plus in Frankfurt weggeflogen und bei minus 9 Grad gelandet. Dieses Mal sind wir in einem anderen Hotel untergebracht. Ein Hotel von historischer Bedeutung: 1918 wurde hier die westukrainische Republik ausgerufen. Möglicherweise sogar aus dem Hotelzimmer zur Straße hin, in dem wir nun wohnen.

1. Tag:
Heute liegt die Temperatur bei minus 14 Grad. Außer vier Gruppenmitgliedern sind alle anwesend. Eine Teilnehmerin hat vermutlich gerade ihr Kind bekommen. Ein Priester ist wegen der bevorstehenden Fastenzeit unter Arbeitsdruck. Zwei Mitglieder fehlen noch ohne Begründung. Dafür ist ein neues Mitglied, Anatolj, in die Gruppe aufgenommen worden – ein weiterer Psychiater. Die Gruppe besteht nun aus 26 Personen.

2. Tag:
Es wird wärmer: 8 Grad minus. Die vier gestern noch fehlenden Gruppenmitglieder sind heute da. Die frisch gebackene Mutter ist auch anwesend. Sie hat einen Sohn geboren und muss während des Tages zum Stillen nach hause. Morgen beginnt die Fastenzeit. Vermutlich wird dann auch der noch fehlende Priester erscheinen. Am Abend nach dem heutigen Seminar fing es zu regnen an. Das führt zu starkem Glatteis, was die Abfahrt in der Psychiatrie wegen völlig vereisten Autoscheiben erheblich verzögert. Die Fahrt ist ebenfalls langwierig, funktioniert aber ohne Unfälle.

3. Tag:
Noch wärmer: 0 Grad. Allerdings hat es in der Nacht weiter geregnet und gleichzeitig gefroren. Es befinden sich ca. 3 cm Eis auf allen Gehsteigen und Seitenstraßen. Die Bewegungsfähigkeit ist enorm eingeschränkt. Ein Glatteis wie schon lange nicht mehr. Wir kommen ca. 45 Minuten zu spät. Interessanterweise sind (fast) alle Teilnehmer bereits da. Auch der gestern noch vermisste Priester.

5. Tag:
Über Nacht hat es zwischen 5 und 8 cm geschneit. Außerdem müssen wir noch bestellten Kuchen aus einer Bäckerei abholen. Wir fahren dennoch zur normalen Zeit ab und kommen entsprechend spät in der Psychiatrie an. Die Gruppe ist vollständig anwesend. Da am heutigen Tag v.a. Übungen, Rollenspiele und Supervisionsanliegen bearbeitet werden, werden verschiedene Kleingruppen gebildet. Die Gruppe überrascht uns erneut ob ihres Improvisationsvermögens: Fünf Kleingruppen in einem Raum. Die Kleingruppen haben nur feste Schulbänke zur Verfügung, die sie, je nach Gruppengröße, im Raum immer wieder neu verteilen und so mit einer hohen Disziplin arbeiten.
Wir erfahren heute von einer „Beschwerde“ der Köchin, die für uns in der Psychiatrie eigens das Mittagessen zubereitet. Es gab immer eine Vorspeise, einen Hauptgang, einen Nachtisch und anschließend Kaffee. Die Köchin, eine kleine und ziemlich korpulente Frau hat Wasilij mitgeteilt, dass wir unhöflich seien: „Die trinken ja noch nicht einmal Wodka nach dem Essen.“

6. Tag:
Dieses Mal fahren wir „nur“ eine Stunde verspätet von Ivano nach Lemberg. Die Gründe sind unklar. Die Fahrt durch schneebedeckte Landschaften und vorbei an vereisten Sträuchern ist jedoch sehr schön. Die HWS-Symptome nehmen aufgrund mangelhafter Stoßdämpfer im alten Ford merklich zu. Lemberg ist sehr schön. Wir trinken am alten Marktplatz phantastisch guten Espresso.

7. Tag:
Eine Stunde vor Abfahrt mit dem Taxi zum Flughafen beginnt es stark zu schneien. Dies hat zur Folge, dass der Abflug um eine Stunde verzögert wird. Alle Anschlusszüge sind damit unerreichbar. Die von Wasilij ausgehändigten 50 Gryvna (falls das Taxi teurer werden sollte), wird mir an der Zollkontrolle vor der Ausreise von einem (vermutlich korrupten) Zollbeamten ohne Aushändigung irgendeiner Quittung abgenommen. Den Rest von zwei Gryvna und einigen Kopeken darf ich als Souvenir behalten.

4. Woche

Anreisetag
Auf der Fahrt von Lemberg nach Ivano-Frankivsk werden wir darüber informiert, dass der Chef des Lehrstuhls, dessen Tochter Mitglied in der Gruppe ist, uns für Spione hält und davon ausgeht, diese Ausbildung mache die Auszubildenden zu Zombies. Allerdings scheint er dies nur den Kollegen der Abteilung vorzuwerfen. Seine Tochter bleibt dennoch weiterhin Ausbildungsteilnehmerin. Neben psychiatrischen Diagnosen wird von Wasilij und Igor noch eine zerebrale Schädigung des Chefs als Erklärungsursache in Erwägung gezogen.
Igor, bislang einer der langsamsten, reaktionsverzögertsten, vorsichtigsten und unsichersten Fahrer unseres bisherigen Lebens, erweist sich heute  als wahrer Henker am Steuer. Das einzige, was ihm geblieben zu sein schien, ist die langsame Reaktion.

1. Tag   
Das Gebäude der Psychiatrie ist frisch gestrichen. Am Fahnenmast hängt eine deutsche Flagge – zu Ehren der deutschen Gäste. Damit sind wir gemeint. Das Seminar findet heute im großen Vorlesungssaal statt, der auch zu Beginn der Ausbildung als Ausbildungsraum gedient hat. Auch dieser ist komplett renoviert. Das Dach ist repariert, der Boden ausgebessert und lackiert, Fenster erneuert, die Wände gestrichen, neue Heizkörper hängen an der Wand. Es ist hell, freundlich und aufgrund des Wetters angenehm temperiert. Allerdings dünstet der Fußbodenlack in einer Art aus, dass man Leberschädigungen und Hirnschwund befürchten muss.  
Ein unbekannter Kollege erscheint und bittet um eine Position als Gasthörer. Nach eingehender Diskussion wird dies aus Rücksicht auf die Gruppendynamik von Wasilij abgelehnt. Da der Kollege in einer systemisch orientierten Arbeitsgruppe in Lemberg eingebunden ist, bietet ihm Wasilij eine Kooperation außerhalb der Ausbildungsgruppe an.

2. Tag
Zwei der fehlenden KollegInnen erscheinen heute. Die drei anderen KollegInnen lassen sich entschuldigen, da sie aus finanziellen Gründen die Reise von ihren jeweiligen Heimatstädten nach Ivano-Frankivsk und den Aufenthalt z.Zt. nicht finanzieren können.

4. Tag
Wir beginnen mit dem Seminar erst um 12.00 Uhr, da der Übersetzer, Oleg, in seinem Hauptberuf als Professor für Germanistik (Schwerpunkt: Metaphern) noch Diplomprüfungen abnehmen muss.
Außerdem müssen wir unser Visum um einen Tag verlängern lassen. Aus Sicht von Wasilij stellt das aber kein Problem dar. „Alles ist okay!!“ (Wahlspruch und Kampfruf – oder Beschwörungsformel (?) von Wasilij).
Es erweist sich als komplizierter als gedacht. Gestern, am Nationalfeiertag, hat Wasilij zumindest die schriftliche Vorbereitung für die Verlängerung des Visums vorgenommen. Der Caritasdirektor hat diesen Antrag aber noch nicht unterschrieben. Seine Sekretärin ist auch noch nicht zum Dienst erschienen. Der Direktor war gestern in Lemberg und kam spät nach hause. Ohne seine Unterschrift sinken die Chancen, kurzfristig eine Verlängerung des Visums zu bekommen. Wir verbringen die Wartezeit mit einem Frühstück (wir: Pfannkuchen mit Quarkfüllung und Kaffee; Wassilij und Igor: Pfannkuchen mit Pilzfüllung, Würstchen, Suppe, Schweinefleisch und Tee).
Endlich liegt die Unterschrift des Direktors vor und wir fahren zum Ausländeramt. Dort wird hinter verschlossenen Türen irgendetwas verhandelt. Wir benötigen „nur noch“ zwei Passbilder, dann ist „alles okay“. Dies geschieht im Raum gegenüber der Antragsstelle. Den Raum teilen sich vier P
ersonen, von denen einer arbeitet (die Passbilder macht) und die anderen sehr interessiert zuschauen. Dann stellt sich heraus, dass Wasilij morgen erneut mit den Passbildern und irgendwelchen Bescheinigungen des Caritasverbandes beim Amt erscheinen muss, damit der Rest (hoffentlich) erledigt werden kann. Aber: „Alles ist okay!“.
Nachdem dieser Vorgang insgesamt zweieinhalb Stunden gedauert hat, versuchen wir den Fahrer Igor zu finden, der die Zeit brauchte, um seine Vorderreifen vulkanisieren zu lassen. Leider ist er zu spät, da die Straßen nach einem sehr langen Wochenende (Nationalfeiertag) total verstopft sind. Während der Wartezeit bekommen wir per Handy die Information, dass der Übersetzer Oleg dienstverpflichtet wurde und zwei Stunden länger bleiben muss. Glücklicherweise kommt ein deutsch sprechender Mitarbeiter der Malteser, Igor, vorbei und erklärt sich zur zweistündigen Übersetzung bereit: „Alles ist okay!!“

5. Tag
Wasilij kommt später zum Seminar, da er die Angelegenheit mit unserem Visum erledigen muss. Gegen 11.30 Uhr erscheint er im Seminar und erklärt, dass alles geregelt sei. Allerdings mussten die Pässe noch im Amt bleiben. Sie können erst am nächsten Tag (Abreisetag nach Lemberg) abgeholt werden. Aber: „Alles ist okay!“
Da Wasilij morgen um 14.00 Uhr Promotionsprüfungen hat, vereinbaren wir, dass er einen Fahrer besorgt, der uns nach Lemberg fährt. Die Abfahrt wird auf 11.30 Uhr festgelegt.
Das Seminar endet in guter Stimmung und das Organisationsteam um Wasilij, Victor, Ira und Igor lädt uns zu einem Wochenendhaus eines Freundes am Fuße der Karpaten ein – zu einem Abschlussessen, wie es heißt. Dort erwartet uns eine wunderschöne Landschaft mit einem abgelegenen neuen Holzhaus und einem Weiher, durch den ein Bach fließt und in dem man angeln kann. Es werden insgesamt 5 Hechte gefangen (einer von mir!!), von denen einer sofort zu einer Suppe verarbeitet wird. Anschließend gibt es gegrillte Fleischspieße mit Blumenkohlsalat und danach die gegrillten übrigen Hechte mit einem Kartoffel-Pilz-Püree – und reichlich Wodka. Es ist ein sehr schöner Abend, an dem ein Trinkspruch den anderen jagt: „Auf die Frauen“, “ „Auf die Liebe“, „Auf den Frieden“, “Auf die Gesundheit“, „Auf die deutsch-ukrainische Freundschaft“, „Auf die orangene Revolution“, „Auf das Leben“, „Auf die Kinder“, „Auf die Zukunft“…, gefolgt von einem Glas Wodka, wobei Wodka-Gläser in der Ukraine fast hiesigen Wassergläsern entsprechen. Für die anwesenden Frauen gibt es statt Wodka süßen Wein. Wir kehren erst weit nach Mitternacht eher mehr als weniger betrunken in unser Hotel zurück.

6. Tag
Wasilij will heute die Sache mit den Visa endgültig klären. Die Abfahrt soll um 11.30 Uhr erfolgen. Die Spannung steigt. Das Visum wird problemlos verlängert: „Alles ist okay!“
Allerdings verzögert sich die Abfahrt, da der Fahrer vom Malteser-Chef für eine andere „dringendere“ Fahrt eingesetzt wurde. Früheste Abfahrt: 12.30 Uhr. Der Fahrer erscheint pünktlich, bittet jedoch um eine zehnminütige Pause. Die Abfahrt erfolgt letztlich kurz vor 13.00 Uhr. Die Fahrt verläuft unproblematisch. Unterwegs sehen wir zwei fliegende Störche und ein Nest auf einer Kapelle mit mindestens drei jungen Störchen.

5. Woche

Anreisetag
Wasilij und Igor holen uns am Flughafen ab. Igor wird durch extrem schlechte Straßenverhältnisse (der Winter hat seine Spuren in Form riesiger Schlaglöcher hinterlassen) davon abgehalten, uns mit einer unnachahmlichen Mischung aus halsbrecherischer Fahrweise und langsamer Reaktion von Lemberg nach Ivano-Frankivsk zu befördern. Man kann ja auch mal Glück haben.
Wasilij teilt uns mit, dass der Übersetzer Oleg kurzfristig nach Kiew abgeordnet wurde und daher eine Studentin von ihm die Übersetzung übernehmen wird. 

1. Tag
Der Hörsaal, angekündigt als seit langer Zeit fest organisierter Raum für die fünf Tage, ist besetzt. Wir müssen erneut in das Schulzimmer der Kinderpsychiatrie ausweichen. Das kennen wir ja bereits. Morgen soll alles anders werden. Elena, die Übersetzerin tut ihr bestes. Allerdings überträgt sich ihre Unsicherheit etwas auf uns, was den Anfang nicht gerade einfach macht. Da müssen wir durch. Ersatz gibt es nicht.

3. Tag
Der Seminartag verläuft ohne besondere Vorkommnisse. Eine „Kiewer Torte“, die eine Teilnehmerin (Natalja) mitbringt, schmeckt ausgezeichnet. Dadurch wird zwar die Nachmittagspause zu lang – wir teilen die Torte mit allen – es lohnt jedoch. 

5. Tag
Heute ist Sonntag. Das Seminar neigt sich dem Ende zu. Dennoch eine sehr positive Überraschung. Die Toilettenspülung in der Psychiatrie funktioniert heute zum ersten Mal für diese Woche. Das Wasser läuft hörbar in den Spülkasten und er lässt sich betätigen. Wir freuen uns und sind auf die sechste Woche gespannt.

6. Tag
Heute geht es zurück nach Lemberg. Wasilij und Igor fahren uns. Wir starten pünktlich. Unterwegs besichtigen wir Halics (garantiert falsch geschrieben), zwischen 1100 und 1200 Sitz eines Königs, mindestens aber eines Fürsten. Eine schöne kleine Stadt mit einer interessanten Festung, die sich gerade im Wiederaufbau befindet. Barbara macht schöne Fotos. Danach wieder in Richtung Lemberg. Igor fährt wie ein Irrer. Wir versuchen uns strikt an der Überlegung zu orientieren, dass Igor sicher genau so wenig vorzeitig ums Leben kommen möchte wie wir und er zwischen den Seminaren auch Auto fährt – ohne erkennbaren körperlichen Schaden. Irgendwie scheint er Situationen völlig anders einzuschätzen als wir.
Einmal überqueren ca. 30 Gänse die Straße. Die Gänsegruppe ist von weitem gut zu erkennen. Igor fährt ungerührt mit gleicher Geschwindigkeit auf die Gänsegruppe zu.  Etwa 10 Meter vor den Gänsen tritt er plötzlich mit aller Entschiedenheit auf die Bremse und rutscht in die Gänsegruppe. Die Tiere springen, fliegen, rennen, schnattern. Federn flirren auseinander. Der Anblick erinnert an eine Kissenschlacht. Igor wartet einen kurzen Moment ungerührt. Die Tiere – alle leben noch – verlassen beleidigt die Straße. Igor drückt  aufs Gas und weiter geht’s.
Die Begegnung Igors mit dem Fahrradfahrer, der in der Abenddämmerung mit einem uralten, unbeleuchteten Fahrrad auf der linken Straßenseite unterwegs ist und mit letztem Schwung kopfüber den lebensrettenden Straßengraben erreicht, muss nicht detailliert erzählt werden. 
In Lemberg angekommen machen wir eine kleine Stadtbesichtigung, trinken wieder einmal hervorragenden Espresso und merken langsam, dass uns das Seminar viel Kraft gekostet hat.

6. Woche

Anreisetag
Die letzte Ausbildungswoche bricht an. Die Fahrt nach Ivano-Frankivsk verläuft wie immer. Igor fährt aber vorsichtig, jedoch extrem unsicher. Auf der Fahrt erfahren wir, dass der Dolmetscher Oleg nicht engagiert werden konnte. Stattdessen soll uns die Dolmetscherin vom letzten Aufenthalt, Elena, übersetzen. Angeblich habe sich die Ehefrau von Oleg durchgesetzt. Diese monierte, dass Oleg zeitgleich einen Auftrag in Österreich annehmen könne – mit dem Vorteil, dass die ganze Familie dort Urlaub machen kann.
Die Hitze in Ivano-Frankivsk ist fürchterlich. Die Temperatur in unserem Zimmer unter dem Dach erinnert stark an die schlimmsten Nächte in Korsika. Die Moskitos auch. Nur verfügten wir in Korsika über Moskitonetze. Hier sind wir leichte Beute. Unbeeindruckt von der Hitze scheinen die ukrainischen Autofahrer und Discobesucher sich an neue Lautstärkenrekorde heranzuwagen. Die Bässe der Autos, die Musik- und Auspuffanlagen vollbringen wahre Wunder – bis ca. 3.00 Uhr in der Nacht.

2. Tag
Ein Abschlussfest am Ende dieser Woche ist zwar oft kommuniziert worden, keineswegs aber organisiert. Zunächst sieht es danach aus, dass es im Caritas-Gebäude stattfinden soll. Heute fährt Wasilij zur Caritas und bittet einen Pater, die Gruppe am Samstag zu segnen. Plötzlich könnte der Seminarsaal die bessere Lokali
tät sein. Warum, ist unklar. Nun soll es nach Ende des Seminars eine kleine Feier geben. Diese wird mit nicht-alkoholischen Getränken bestritten, da mindestens zwei bekennende trockene Alkoholiker in der Gruppe sind. Außerdem soll es süße Speisen geben (Kuchen, Kekse usw.). Allerdings weiß der Chefarzt der Klinik noch nichts davon. Wasilij will alles klären: „Ist kein Problem. Alles ist okay.“  

3. Tag
Heute wird endgültig festgelegt, dass morgen nach dem Seminar die Abschlussfeier stattfinden wird. Dazu soll das Seminar bereits um 17.30 Uhr enden.
Am Abend trifft der Referent aus Deutschland eigens für die Zertifikatübergabe ein. Wasilij hat auch den Chefarzt eingeladen. Oxanna wird in ihrer Doppelrolle als Bezirkspsychiaterin und Kursteilnehmerin gemeinsam mit einem Vertreter der Stadt der Feier einen offiziellen Charakter verleihen.

4. Tag
Für den Abend ist die Abschlussfeier mit Zertifikatübergabe geplant. Wasilij und das Organisationsteam verbringen fast die gesamte Mittagspause damit, Kuchen und Süßigkeiten zu kaufen.
Nach Abschluss des Seminartages kann die Abschlussfeier beginnen. Allerdings sind die Zertifikate von uns noch nicht unterschrieben. Das ist aber insofern kein Problem, weil sich herausstellt, dass der Bischof samt seinem Nachfolger irgendwohin gefahren ist und ebenfalls noch nicht unterschrieben hat. Das Zertifikat kann somit nicht übergeben werden. Die Gruppe trifft sich möglicherweise zu diesem Zweck noch einmal. Oder Wasilij versendet die Zertifikate per Post: „Alles ist okay!“
Oxanna kann nun doch nicht kommen – ebenso wie vier Teilnehmer. Sie sind auf verschiedenen Hochzeiten eingeladen. Diese häufen sich, weil dies der letzte Samstag vor einer zweiwöchigen Fastenzeit ist und während der Fastenzeit nicht geheiratet wird. Der Priester, der die Gruppe segnen wollte (oder sollte) erscheint ebenfalls nicht. Die Stimmung ist dennoch (oder gerade deshalb?) gut.  Es werden mehrere rührende und durchaus glaubhafte Dankesreden gehalten.

5. Tag
Heute ist der letzte Seminartag von insgesamt 30. Es herrschen ambivalente Gefühle. Einerseits eine gewisse Erleichterung, dass es nun ein Ende hat. Wir haben doch viel Energie gelassen und viel gearbeitet. Andererseits eine gewisse Wehmut, v.a. der Gruppe gegenüber. Wir sind gespannt, wie es laufen wird.
Die Gruppe ist vollzählig anwesend. Der Tag verläuft ruhig. Die Verabschiedung ist humorvoll und nicht zu überschwänglich. Wir werden reich beschenkt, was mit Sicherheit Transportprobleme aufwerfen wird. Wir verabschieden uns von allen. Jetzt ist es vorbei.
Nach Ende des Seminars besuchen wir einen Künstler in seinem Atelier. Ein Besuch, der schon oft angekündigt worden war, bislang aber nicht realisiert werden konnte. Auf dem Weg dorthin sehen wir Straßen mit beeindruckend schönen, aber heruntergekommenen Häusern, die eine Ahnung über das Vorkriegsleben in Ivano-Frankivsk zulassen.
Das Atelier war so, wie man sich ein Atelier vorstellt: Chaotisch, vollgepackt mit irgendwelchen Dingen und Bilder über Bilder. Diese sind sehr unterschiedlich. Teils gegenständlich, teils abstrakt, teils an Ikonen erinnernd. Wir kaufen nach einiger Überlegung ein Bild und freuen uns, nun auch Kunst aus der Ukraine in unserem Haus zu haben.

6. Tag
Es regnet in Strömen. Wir frühstücken in einem kleinen Lokal, das nach Wasilij Angaben den Charme der ehemaligen Sowjetunion versprüht. Es gibt starken Kaffee und Vareniki (vermutlich auch falsch geschrieben: eine Art Ravioli mit einer Quark-Kartoffelfüllung, zerlassener Butter und Speck).

7. Tag
Wir fahren pünktlich vom Hotel zum Flughafen. Dort erwartet uns Wasilij und verabschiedet uns. Das Projekt ist für uns zu Ende. Wir checken pünktlich ein, wir sitzen pünktlich in der Maschine, das Flugzeug hebt pünktlich ab, wir landen pünktlich und wir erwischen sogar den Zug, der uns pünktlich mit drei Umstiegen um 15.06 Uhr nach Hause bringt.
 
Nachlese:
So viel Zeit ist vergangen, so viele Menschen haben wir kennen gelernt, so viele Eindrücke in einem für uns fremden Land bekommen und so viel Unerklärliches, Unfassbares, Unergründliches erfahren. Soviel Ärgerliches, Lustiges, Liebevolles erlebt. Dennoch hat immer nur einer recht behalten: Wasilij. Denn: „Alles ist okay!“
Zwei Jahre nach Abschluss des Kurses – wir hatten bereits mit Wasilij darüber nachgedacht, einen Aufbaukurs anzubieten, bekamen wir die traurige Nachricht, dass Wasilij im Alter von 43 Jahren plötzlich verstorben war. Mit seinem Tod endete das Projekt, an das wir heute noch gerne denken. Und gerne riefe ich ihm noch zu: „Alles ist okay.“ Ich bin sicher, dass er beim Lesen dieser Zeilen auf seine ganz persönliche und schöne Art lachen würde.
Wasilij, Ira, Victor, Igor, Oleg, Elena, Oxanna und alle anderen werden uns in Erinnerung bleiben. Eine Fotografie der Ausbildungsgruppe hat einen Ehrenplatz in unserer Praxis.

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