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Agile Erzählungen

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Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Organisationsberatung Supervision Coaching beschäftigt sich mit dem Thema Agilität in Organisationen, einem Konzept, das in den vergangenen Jahren zunehmend Furore gemacht hat. In ihrem Editorial schreiben Rainer Bäcker und Heidi Möller dazu:

„Wenn man sich mit dem Thema ,Agilität’ inhaltlich befasst, erscheint es nicht angeraten, es in erster Linie als ein einheitliches theoretisches Konstrukt oder Modell zu betrachten, das man auf seine interne logische Stimmigkeit seiner einzelnen Bestandteile und auf deren empirische Verankerung hin überprüft. Damit würde man Kriterien anlegen, bei denen von vorneherein offensichtlich ist, dass der agile Ansatz dem weder gerecht werden kann noch will. Die eigentliche Bedeutung des agilen Konzepts liegt nicht in seiner theoretischen Stimmigkeit, sondern in seiner praktischen Wirksamkeit. Insofern erscheint es sinnvoll, das uns interessierende Thema Agilität als eine relevante und interessante ,Wirkungseinheit’ (Salber 1969), oder moderner ausgedrückt, als ,Erzählung’ in den Blick zu nehmen und zu versuchen, es in seiner inneren Dynamik, seinem Funktionieren und seiner Entwicklung zu verstehen.

Um die unbestreitbare Erfolgsgeschichte und anhaltende Attraktivität der agilen Erzählung nachzuvollziehen, ist es wichtig, sie nicht als ein allgemeingültiges Phänomen in der modernen Arbeitsorganisation zu sehen, sondern sie als eine unter verschiedenen Ausdrucksformen der ,Singularisierung’ (Reckwitz 2019) der postindustriellen Ökonomie und Arbeitswelt zu verstehen. Damit wird auch deutlich, dass ,New Work’ und der agile Diskurs vor allem die Arbeitsweisen der kulturbestimmenden neuen Akademiker- und Mittelklasse betreffen, während die Arbeitsweisen und -bedingungen der ,neuen Unterklasse’ (Reckwitz 2019), obwohl diese ungefähr ein Drittel der Gesamtgesellschaft ausmacht, in dieser Erzählung kaum vorkommen und darin bestenfalls ein ebenso randständiges Dasein fristen wie in der gesellschaftlichen Realität.

Unter dieser Perspektive erscheint Agilität eher als eine – neben anderen – Ausdrucksform von grundlegenden Veränderungen und Umbrüchen, die unsere aktuelle Gesellschaft und die damit verbundene Arbeitsorganisation prägen, und weniger als ein einfaches Modell einer neuen Arbeitsweise. Die übergreifenden Themen der neuen Mittelklasse in den postindustriellen Gesellschaften entsprechen von daher auch zentralen Motiven des agilen Mindset, wie z. B.:

  • dem Streben nach Selbstverwirklichung und Freiheit einerseits und der Suche nach Sicherheit in der Gemeinschaft/im Schwarm andererseits,
  • der Infragestellung von Autoritäten und gleichzeitig dem Streben nach Orientierung gebenden neuen Idolen und Vorbildern,
  • dem Bedürfnis nach ideellem „Sinn“ in der Arbeit versus die permanente Steigerung von Effizienz und Tempo in der Arbeitsgestaltung,
  • der Gestaltung einer stabilen, „einzigartigen“ Identität einerseits und der Entwicklung von allumfassender Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft andererseits.

Die besondere Wirkkraft der agilen Erzählung scheint zumindest in Teilen darin zu liegen, dass sie das Versprechen beinhaltet, diese, zumindest scheinbaren, Widersprüche zusammenzubringen und miteinander zu versöhnen. Geht es im Kern der agilen Erzählung nicht darum, selbstbestimmtes und ,freies’ Arbeiten für alle mit einer neuen Effizienzdynamik der postindustriellen, kapitalistisch organisierten Ökonomie zu verbinden? Von daher ist und bleibt es interessant, zu verfolgen, wie sich die zentralen Motive der agilen Erzählung bei ihrem ,Realitäts-Check’ in der täglichen praktischen Arbeitsgestaltung weiter ausgestalten und wie sich dabei neue (Erzähl‑) Versionen entwickeln und Lösungen für die immanenten Spannungsfelder ausbilden.“

Zu allen bibliografischen Angaben und abstracts geht es hier…

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