Rudolf Klein, Merzig:
„Systemisch – was fehlt?“ ist eine scheinbar simpel daherkommende Frage. Sie impliziert Wünsche und dies scheint durchaus in einen Adventskalender zu passen. An Weihnachten darf man schließlich wünschen. Als Kind war das einfach. Mir fehlte immer etwas: Rollschuhe, Tretroller, Fußbälle, Schienbeinschoner. Aber klappt das Wünschen bei diesem Thema auch?
Beim Nachdenken darüber drängte sich mir zunächst eine andere Frage auf. Die Frage nämlich, was in der Systemischen Therapie bereits von Anfang an da war, was angesichts des teils routinierten, teils gehetzten Tagewerks, des geschäftigen Schreibens und Lesens, des Ringens um sozialrechtliche und darüber hinausgehende Anerkennungen klammheimlich aus dem Bewusstsein gerutscht ist und nicht etwa prinzipiell fehlt, sondern auf einem hinteren Regalbrett des inneren Orientierungssystems verstaubt.
Wenn man dort zu stöbern beginnt, stößt man schnell auf zwei (!) „Gottväter“ der systemischen Theorie und Therapie: auf Gregory Bateson und Heinz von Foerster. Und man müsste sich noch nicht einmal durch deren Publikationen wühlen (obwohl sich das immer wieder aufs Neue lohnt). Es genügte bereits, sich an drei weithin bekannte und immer wieder gerne zitierte Sätze zu erinnern.
Gregory Bateson hat den wunderbaren Satz formuliert: Eine „Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht.“ (Ökologie des Geistes, S. 582). Ein Satz, der darauf hinweist, dass ein Unterschied als etwas Abstraktes zu verstehen ist und eine Information nur als Beziehungsphänomen gedacht werden kann.
Heinz von Foerster hatte zwei Empfehlungen auf Lager. Zum einen: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!“ (Über das Konstruieren von Möglichkeiten, S. 49). Oder ganz kurz und einfach formuliert: Manchmal kann mehr mehr sein, manchmal kann mehr weniger sein und manchmal kann weniger mehr sein.
Und er hat einen zweiten wichtigen Gedanken geäußert, den man als Heinz-von-Foerster-Theorem bezeichnet: „Es sind nur die prinzipiell unentscheidbaren Fragen, die wir entscheiden können.“ (Teil der Welt, S. 67 f.) Wir können die Antworten auf solche Fragen nicht kennen und sind dennoch mit ihnen konfrontiert. Der Gedanke macht also sowohl aufmerksam auf das, was wir zu wissen glauben als auch auf das, was wir nicht wissen. Ganz im Sinne Philip Roths: „Was wir nicht wissen, ist erstaunlich. Noch erstaunlicher ist, was wir als Wissen betrachten.“ (Der menschliche Makel, S. 235)
Wenn man diese drei Gedanken beherzigt, kann die systemische Entwicklung niemals vollständig werden. Wünschen hin, wünschen her. Es wird immer etwas fehlen. Wir sind permanent mit unentscheidbaren Fragen konfrontiert, es drängen sich ständig Unterschiede auf, die Unterschiede machen und man weiß nie so ganz genau, ob sich Wahlmöglichkeiten erhöhen.
Außer: Man strengt sich sehr an. Zum Beispiel dadurch, dass irgendwelche Gruppierungen auf die Idee kommen, das „Systemische“ definieren zu wollen, „es“ quasi in ein Fixierbad zu tauchen, um beispielsweise im Kanon der anerkannten Verfahren mitsingen zu dürfen und sich so problemlos in die gegebenen Strukturen des sogenannten „Gesundheitssystems“ einzupassen.
Oder dadurch, dass irgendwelche Vertreter der systemischen Szene proklamieren, das Zitieren mancher Autoren, die Anwendung bestimmter Methoden oder das Vorhandensein spezieller Bücher auf Büchertischen seien mit „der“ Systemischen Therapie nicht vereinbar und auf diese Weise einen „systemisch-konstruktivistischen Fundamentalismus“ zur Blüte verhelfen.
Oder dadurch, dass pfiffige Anbieter versuchen, flott erlernbares „systemisches Handwerkszeug“ aus jeglichem zeitlichen, räumlichen und ideellen Kontext herauszureißen, es stromlinienförmig, ressourcenorientiert, lösungsfokussiert und wunderfragend aufzubereiten, um es als extrem effizientes und schnell wirksames Erfolgskonzept finanziell lukrativ an die Frau und den Mann zu bringen.
Wenn ich aber schon mal gefragt werde, was meiner Beobachtung nach zu wenig Raum im Diskurs der Systemischen Therapie einnimmt, fallen mir gleich mehrere Dinge ein.
Zuerst fehlt mir allzu oft eine Auseinandersetzung mit sogenannten existenziellen Themen. Mit Themen also, die Menschen unabänderlich im Laufe ihres Lebens mit Widerfährnissen konfrontieren. Herausforderungen, die man meinetwegen unterschiedlich reframen kann und die dennoch unumgänglich sind und bleiben. Problemlagen, (besser: Restriktionslagen), die Menschen herausfordern, mit ihnen leben zu lernen, sie tragen und ertragen zu müssen. Konfrontationen, für die es keine Lösung und schon gar keine Auflösung gibt. Beispiele dafür sind die eigene Endlichkeit, das Sterben Angehöriger, schwere und unheilbare Erkrankungen, Einsamkeit, Angst usw.
Als zweites fehlt mir potentiell irritierendes, unterschiedserzeugendes, respektloses, provozierendes Hinterfragen systemischer Theoriekonstrukte i. S. Dirk Baeckers, der in einer provokativen Überschrift zu einem seiner Texte behauptet: „Es gibt keine sozialen Systeme“. In unserem Zusammenhang könnte man fragen: „‘Gibt‘ es soziale Systeme?“ Und: „‘Gibt‘ es psychische Systeme?“ Oder: „Falls es sie ‚gibt‘, wozu ist es hilfreich, sie als jeweils autonom und getrennt zu konzeptualisieren und wann ist dies eher hinderlich?“ Oder: „Beginnt das Beobachten – einem Urknall gleich – mit einer Unterscheidung?“ Und falls ja: „Wie kann man dann den Impuls fassen, benennen und erklären, der der Erstunterscheidung vorgelagert ist?“
Und als drittes fehlt mir manchmal (zum Glück zunehmend weniger) auf einer pragmatischen Ebene, dass sogenannte „heilige Kühe“ der systemischen Therapie hinterfragt und diskutiert werden: „Wie wertschätzend ist die Wertschätzung?“, „Ist Ressourcenorientierung immer eine Ressource?“, „Wie neutral ist die Neutralität?“, „Was löst die Lösungsorientierung?“
Wenn ich meine Gedanken so schweifen lasse, beschleicht mich der Gedanke, es von Anfang an bereits geahnt zu haben: Rollschuhe, Tretroller, Fußbälle und Schienbeinschoner zu wünschen ist einfacher.
Ich habe die von Foerstersche Maxime, die Anzahl der Wahlmöglichkeiten zu erhöhen in dieser Absolutheit nie gemocht. Ist es wirklich immer hilfreich, die Zahl der Wahlmöglichkeiten noch weiter zu erhöhen – oder ist es nicht auch gut, einfach mal eine Wahl wirklich zu treffen und deren Folgen zu leben. Was habe ich davon, wenn ich mich zwischen zwei Alternativen schon nicht entscheiden kann, noch eine dritte dazu zu nehmen?
Wenn ich sehr festgefahren bin, ist die Idee der erhöhten Wahlmöglichkeiten sicher super. Bin ich aber eh‘ schon zerfahren, unentschieden, psychotisch, autistisch, ADHS-mäßig angehaucht – geht es da wirklich um mehr Möglichkeiten???
Ich habe das Theorem in seiner philosophischen Tiefgründigkeit sicher nicht verstanden, von Foerster auch nie gelesen. So aus dem Zusammenhang gerissen, wie diese Forderung immer wieder gerne zitiert wird, ist sie für mich genauso nervig wie manche Kalendersprüche mit ihren Weisheitsbehauptungen.
Hallo Herr Wernicke,
mir scheint, dass Sie das Zitat nur in eine Richtung interpretieren – allerdings deuten Sie die andere Richtung bereits an. Mehr Wahlmöglichkeiten bedeutet, in eingeschränkten und unterkommplexen Problemlagen, dass zusätzliche Wahlmöglichkeiten nützlich sein können (aber nicht müssen). Dann wäre mehr mehr. In überkompexen Problemlagen wäre es hingegen nützlich, wenn die zusätzliche Wahl darin bestünde, Möglichkeiten wegzulassen. Dann wäre weniger mehr. Das schreibe ich ja auch.
Ob aber mehr mehr oder weniger mehr oder sogar mehr weniger ist, lässt sich nicht von Außen bestimmen. Insofern handelt es sich dabei um eine zunächst nichtentscheidbare Frage.
Ich halte diese Zitate von Heinz von Foerster für äußerst relevant für systemisches Arbeiten, zumal damit auch eine existenzielle Dimension in die Arbeit auftaucht: Eine Wahl zu treffen und die Folgen zu tragen, obwohl die Folgen der eigenen Wahl nicht gewusst werden können. Hier bekommen wir es dann manchmal im Nachhinein mit anderen Paradoxien zu tun: mit falschen Richtigkeiten und richtigen Falschheiten.
Schöne Weihnachten
R. Klein
Da muss ich mal drüber nachdenken…
Melde mich evtl. nochmal.
Ein (Advents)kalenderspruch zum Nachdenken
Danke für die Antwort
Jürgen Wernicke
systemisch – was fehlt?
Vielleicht ist die Frage doch „einfacher“ zu be-ANTWORT-en, als einen geschmacklichen Eindruck nach „mehr“ zu hinterlassen, nach lesen des Artikels. 😉
Was(?) fehlt? – Fehlt WAS und/oder WER? Die Frage bestimmt das Ergebnis.
Meine These: „systemischer“ fehlt.
Systemischer meint „unideologischer“, (hinter)fragender, zweifelnder, offener, neugieriger zu leben. Maßloses Suchen nach Fehlendem (Objekte und Personen) intensivieren sich als ablaufende konditionierte Reiz-Reaktions-Muster je stärker und intensiver die Konfrontation mit existenziellen Themen. (ET)WAS allein macht nur mangelhaft „satt“, wenn ein „WER“ fehlt dem man es mitteilen kann. Kein „WER“ kann stillen, wenn einem anderen (ET)WAS fehlt.
Hinzu kommt auf beiden Ebenen sich wiederholender Erfahrungen in der Gegenwart von fehlendem „rechten Maß“ findens im Umgang mit Dingen und von fehlenden „rechten Ton“ findens für eine anschlussfähige (komplementäre oder auch symetrische) Kommunikation.
„Herkunft“ und „Zukunft“ als prinzipiell unverfügbar, unbeherrschbar und außerhalb meines Einflusses stehende Konstrukte erzwingen eine Entscheidung des Unentscheidbaren und erzeugen (mehr oder weniger) zeitnah die (un)mittelbare Rückmeldung fehlenden „Maßes“ auf Sach- und Beziehungsebene.
Was ändert sich, wenn „fehlen“ als „nichtwahrnehmen“ (blinder Flecke), als „sehen, das man nicht sieht“ einzige Konstante bleibt und akzeptiert wird? Lässt sich „Liebe zum Nichtwissen“ fördern? Wenn ja, wie? Werden wir „maßvoller“, wenn wir „systemischer“ denken, reden und handeln lernen?
Die Frage: „Wie haben wir (über/ge)lebt und erwarten wir im Leben?“ bleibt unentscheidbar bis sie (von Individuen und Gruppen) entschieden wird.
Im Sinn von Philp Roth möchte ergänzen: „Am Erstaunlichsten ist die überraschende (Selbst-)Erkenntnis „lebender Systeme“, dass und was sie (noch) (er)leben (werden)!“
Mit dem Perspektivwechsel vom rückwärts entdeckten Fehlenden, hin zur Entscheidung dessen was erwartet (erwünscht) wird, ändert sich auch die Frage (und somit auch das Ergebnis). Aus der Wahrnehmung des Fehlenden (Vergangenen) wird die Wahrnehmung des Möglichen (Künftigen) und daraus die Gegenwärtigkeit der entscheidenden Frage des Unentscheidbaren, der Frage nach dem rechten „Maß“.
Advent war, ist und bleibt „das/der Kommende“ worüber hier und jetzt (mehr oder weniger angemessen) entschieden wird.