
Mehr kann ich wohl nicht tun
„Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!”
Richtig – so lautet die berühmte und mich stets verstörende Schlusszeile des wohl bekanntesten Gedichts eines Generationen prägenden Dichterfürsten namens Hermann Hesse (1877-1962). Wer sagt mir, dass mein Herz wirklich gesundet, wenn ich Abschied nehme? Wahrscheinlich ist meine Irritation aber vor allem in meiner Abneigung gegen imperative Ratschläge mit Ausrufezeichen begründet.
Warum fällt mir nun aber gerade das „Jahrhundert-Gedicht” Stufen bei dem diesjährigen Aufruf von Tom Levold ein?
Das hat mit einem meiner „Lieblingslehrer““” seit nun fast 50 Jahren zu tun: Friedemann Schulz von Thun – ja, genau, der mit den Vier Seiten einer Nachricht – hat sich unlängst getraut, ein Buch mit dem verlockenden Titel „Erfülltes Leben – Ein kleines Modell für eine große Idee“ zu veröffentlichen.
Und in diesem Buch, das ich für diesen Text aus dem Regal nehme, findet sich folgende Passage: „Sehnst du dich nach Mobilität, Wandel, Aufbruch und Abenteuer? Es gibt ein berühmtes Gedicht von Hermann Hesse, eine kraftvolle und bezaubernde Hymne auf diese Sehnsucht. Je mehr ich dieses Gedicht an mich habe herankommen lassen, umso mehr regte sich eine innere Gegenrede in mir. Da wollte die Gegenschwester zu Wort komme, deren Sehnsucht in der Verwurzelung liegt. Unter ihrem Einfluss habe ich – mutig – ein Gegengedicht im selben Stil verfasst.“ (S. 30 ff.)
Er betitelt es mit Stammsitz und würdigt damit die andere Seite der von Hesse gehypten Wandel-Medaille: Nur durch Beständigkeit und kluges Walten / kannst du Bewährtes lang erhalten.
Ich empfehle das Nachlesen im Original ausdrücklich.
Diesen Impuls von Schulz von Thun, die gute Hesse-Idee mit einem „Ausgleich-Gedicht“ zu ergänzen und damit zu komplettieren, fand ich nicht nur mutig und schelmisch sowie originell umgesetzt, sondern auch weise und für diesen Text geeignet.
Was heute zunehmend abhanden zu kommen scheint, ist der „Ausgleich der Weltsichten“, das Vermittelnde der Grundwerte und Haltungen. Vielleicht hat es mit der zunehmenden existenziellen Verunsicherung zu tun. Und die wiederum mit den drei große K: Klima, Kriege, Clowns als Staatschefs. Viele sagen vielleicht: Ich fühle mich überfordert, wenn ich nun auch immer noch „die andere Seite“ mitdenken soll. Da halte ich mich lieber an „mein Denk-Lager“, so spare ich meine Kraft fürs Überleben und „Vorankommen“.
Neulich las ich einen schönen Begriff für dieses Phänomen des unnachgiebig erlebten „Wandelzwangs“: Veränderungserschöpfung. Der Soziologe Steffen Mau hat ihn wohl zuerst verwandt: Die Welt dreht sich zu schnell, da komm ich nicht mehr mit, mir wird das alles zu viel. Ich wünsche mir, dass es wieder „überschaubar“, einfacher wird. Deshalb halte ich mich lieber an die, die mir einfache Lösungen anbieten. Hör mir auf mit „komplex“!
Da ist etwas ins Rutschen gekommen und das Ende ist nicht absehbar. Wir, die wir uns als „Systemikerinnen und Systemiker“ verstehen, haben und behalten heute den Job, für das „komplexe Denken“ zu werben. Wir können es beispielhaft und somit als attraktiv nachvollziehbar vorleben. Wir können immer wieder die Haltung des Sowohl als auch als hilfreiche Lebenshaltung erläutern und vermitteln. Ohne Würdigung der jeweiligen Werte-Gegenschwester droht das Abrutschen in die negative und polarisiernde Übertreibung.
Für mich ist mein alter Professor Schulz von Thun der Meister des Sowohl als auch.
Neulich hörte ich, „der sei ja gar kein echter Systemiker“. Ich entgegnete spontan: „Wenn nicht das Denken und Praktizieren des Sowohl als auch eine systemische Grundhaltung ist, dann weiß ich auch nicht.““”
Ich versuche weiterhin, sie zu bewahren und weiterzutragen. Ich denke: Mehr kann ich wohl nicht tun.








