systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

18. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 18. Johannes Herwig-Lempp

Wie divers bin ich eigentlich selbst? 

Vielfalt ist großartig – stimmt’s?! Ich bin unbedingt für Vielfalt, für Diversität. Für Offenheit gegenüber Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit. Andersartigkeit ist fast immer anregend und bereichernd, bringt Farbe und Abwechslung in unser Leben, eröffnet neue Wege, Möglichkeiten und Entwicklungen.

Dies gilt in Bezug auf Menschen, die anders sind – die anders aussehen als ich und die meisten um mich herum, die aus anderen Kulturen kommen („spannend“), mit anderen, Gewohnheiten, Sprachen und Geschichten („interessant“), als ich sie kenne. Die andere Hautfarben, Weltbilder, Identitäten und Meinungen haben. 

Stop! Bei den Meinungen hört der Spaß an Verschiedenheit dann manchmal doch relativ sehr schnell auf – jedenfalls bei mir. Ich halte es nicht so gut aus, wenn Menschen anders denken als ich. Das betrifft selbstverständlich politische Ansichten und Überzeugungen, ganz klar. Aber nicht nur. Manchmal beginnt das bereits beim Geschmack. Ich finde es nicht immer unbedingt schön, wenn jemand andere Lebensmittel, Bücher, Bilder oder andere Menschen mag als ich, andere Vorlieben hat in Bezug auf Musik, Kunst, Kultur. Dann nehme ich sie oder ihn unter Umständen nicht mehr für voll. Oder wenn andere andere Vorstellungen davon haben, was gut und richtig ist, sich in ihren moralischen Ansprüchen von mir unterscheiden. Oder wenn andere etwas gegen Diversität und Vielfalt haben, zum Beispiel gegen andere Sitten und Gebräuche oder gar gegen „andersfarbige“ und „andersartige“ Menschen. Und das scheint nicht nur mir, sondern auch anderen manchmal so zu gehen.

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17. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 17. Jule Thermann

„Ich weiß.“

Als mich der Aufruf zum diesjährigen systemagazin-Adventskalender erreichte, erinnerte ich mich spontan an einen Cartoon, den ich irgendwann in den 90ern – ich ging noch zur Schule – irgendwo gesehen hatte. Wie diese Zeichnung damals wirklich aussah? Ich war mir jahrzehntelang sicher, dass sie einen knappen Dialog zwischen einem weißhäutigen Missionar oder Forscher und einem dunkelhäutigen Ureinwohner darstellte. Meine Erinnerung ist allerdings so verlässlich, wie Wirklichkeit eben sein kann, wenn sie sich über eine sehr lange Zeit narrativ oder gedanklich weiterentwickelt hat. Mir ist durchaus bewusst, dass ich mich beim Erinnern irre, das ist okay. Trotzdem wollte ich wissen, wie der Cartoon „wirklich“ aussieht und suchte im Netz. Gefunden habe ich nur eine Zeichnung (von Brösel), die mir völlig fremd vorkam. Irritation pur. Also tat ich, was man heute tut: Ich fragte die KI. Sie erzeugte mir ein Bild, das meiner Erinnerung deutlich näherkam. Dass sie den Missionar durch einen „Schlipsträger“ ersetzte, gefiel mir schließlich sogar noch besser, weil es den kulturellen Unterschied noch deutlicher markiert.

Jedenfalls geht es in dem Comic ungefähr so zu: Der weiße (in meinen Augen!) Mann! – Schublade, zack! – zeigt auf den dunkelhäutigen, kulturell anders sozialisierten Mann! und sagt knapp:

„Du schwarz.“

(Und hier wird es schon ein bisschen interessant, denn eine solch merkwürdige Satzstellung taucht nämlich gern dann auf, wenn wir glauben, unser Gegenüber könne unsere Sprache nicht verstehen. Dann sprechen wir plötzlich selbst, als hätten wir sie gerade erst gelernt – eine Art gut gemeinte, aber unbeholfen anmutende „Tarzansprache“, weil wir eventuell annehmen, dass weniger Grammatik mehr Verständlichkeit bringt?)

Der dunkelhäutige Mann in meinem rekonstruierten bzw. neu erfundenen Comic reagiert herrlich unbeeindruckt und freundlich mit einem Satzbau in perfektem Deutsch:

„Ich weiß.“

Diesen Antwortsatz fand ich schon damals köstlich. Nur zwei Worte – und eine ganze Welt von Bedeutungen geht auf. Mehrfachbedeutungen sind es ja oft, die den Witz zum Witz machen. 

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16. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 16. Arist von Schlippe

Ein kleiner Beitrag zur Beobachtung zweiter Ordnung zum Advent

Es gibt in diesen Zeiten vieles, was zu Besorgnis Anlass gibt. Ich möchte aus den vielen Ereignissen, zu denen man etwas sagen (vielleicht auch schreien) müsste, zwei herausgreifen: die Feiern vom 3.10. zum diesjährigen Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung und zu einem Zeitungsartikel der vergangenen Wochen, zu dem hier der Titel genügen soll: „Brüssel stellt Fahrplan zur Aufrüstung vor“. 

Beide sind für mich Anlass, zu fragen, wie eigentlich jenseits von „Kriegstüchtigkeit“ eine Kommunikationsstrategie aussehen müsste, die von dem Bewusstsein ausgeht, dass Kriege Formen von Kommunikation und Ergebnis von Kommunikation sind. Wer das nicht im Blick hat, macht sich blind dafür, wie er (oder leider auch sie) mit seiner Art zu kommunizieren die Gefahr mit heraufbeschwört, vor der gewarnt wird. Seit dem Angriff auf die Ukraine scheint die westliche Welt einer kollektiven Kriegslogik zu folgen, wie sie etwa Luc Ciompi oder Fritz Glasl beschreiben (s. die von Tom Levold und mir herausgegebene Familiendynamik 4/2024). Einseitig wird die Notwendigkeit eigener Rüstung betont, ohne diese Schritte gleichzeitig durch intensive Kommunikation zu begleiten, die das Risiko von Missverständnissen und damit der Kriegsgefahr begrenzt. Schon vorsichtige Zeichen von Verständigungsbereitschaft werden als Schwäche ausgelegt. Europa wird als Festung verstanden, die sich nun eng gegen Russland zusammenschließen müsse – dabei gehört auch dieses Land zu Europa. Was hätte es geschadet, wenn bei den Feiern zum 3. Oktober von verantwortlicher Stelle deutlich gesagt worden wäre, wie dankbar wir Deutschen dem russischen Volk sind (oder meinetwegen sein sollten), dass uns vor 35 Jahren auch von dieser Seite aus die Wiedervereinigung ermöglicht wurde, wie groß unser Interesse ist, in eine gute Beziehung zu den Menschen in Russland zurückzukommen, und dass wir bereit sind, alles dafür zu tun, dies langfristig wieder zu ermöglichen? Stattdessen wird ein Europa beschworen, das sich gegen Russland zusammenschließen müsse und das damit alle Menschen dieses Landes explizit ausschließt, auch die nachdenklichen, kritischen und so die Feinde mit erzeugt, gegen man sich abgrenzt. Eine Friedenslogik würde neben vielleicht notwendigen Aufrüstungsschritten immer wieder unmissverständliche kommunikative Signale senden, die es der anderen Seite erschweren, diese Schritte als Bedrohung wahrzunehmen. Von Haim Omer habe ich gelernt, dass dies eine wesentliche Qualität von Konfliktkommunikation ist: auf eine Weise zu sprechen, die die Vielstimmigkeit auf „der anderen Seite“ vergrößert. 

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15. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 15. Matthias Ochs

The „Holy Law“ of Systemic Antagonism, „Borderliner*innen“ und Polyphonie – und was das (möglicherweise) mit Ricarda Lang und Heidi Reichinneck zu tun hat…

Durch das immer noch ganz wunderbare Buch von Fritz Simon „Die andere Seite der Gesundheit“ von 1995, eines der wenigen differenzierteren Vorschläge einer dezidiert systemischen Krankheitstheorie, habe ich das Gesetz des „systemischen Antagonismus“ des französischen Komplexitätswissenschaftlers Edgar Morin kennengelernt. Dieses „Gesetz“ konzeptualisiert das Prinzip des Balancierens gegenläufiger Tendenzen, das für „hyperkomplexe Maschinen“ (wie Morin (1974, S. 152) lebende, komplexe Systeme nennt) charakteristisch erscheint: „Um ihre Integrität als Ganzheit, ihre Morphostase und Homöostase, zu gewährleisten, müssen derartige Systeme intern über Komponenten verfügen, die widersprüchliche Wirkungen ausüben. Das Netzwerk der Interaktionen als Ganzheit sorgt durch vielfältige Rückkopplungen für das Erreichen und Bewahren eines Eigenwerts bzw. die Entwicklung und Erhaltung einer Eigenstruktur (Attraktor)“ (Simon, 1995, S. 73). Ich verstehe dieses „Gesetz des systemischen Antagonismus“ so, dass Widersprüche, Antagonismen und Gegensätze in lebenden, komplexen Systemen notwendig sind, damit Prozesse selbstorganisierter Kontinuität und Veränderung realisiert werden können – sie sind, wenn man so will, „der Sprit“ für Selbstorganisation. Aus systemischer Sicht müssten Widersprüche, Antagonismen und Gegensätze eigentlich affirmiert werden; hierin liegt möglicherweise auch ein Grund, weshalb Systemiker*innen Ambivalenzen so lieben, diese so gerne explorieren, und immer wieder zu diesen „einladen“.

Gleichzeitig sind Systemiker*innen eben auch „nur“ Menschen und neigen als solche zur Konfliktvermeidung. Diese Konfliktvermeidung lässt sich lernpsychologisch bekanntlich sehr leicht mit dem Mechanismus der negativen Verstärkung erklären: Konfliktvermeidung führt zur „Belohnung“ des Wegfallens unangenehmer Gefühle (wie etwa Anspannung, das Erleben von Disharmonie, die unerfreuliche Erinnerung an frühere negative Konflikterfahrungen), und dadurch verstärkt sich das Vermeidungsverhalten quasi von selbst – der berühmte Teufelskreis. So kann etwa in diesem Sinne behavioral auch die einschlägige interpsychische Impulsivität im Kontext der Borderline-Persönlichkeitsstörung verstanden werden, die dazu dient, als intrapsychisch sehr schmerzhaft Erlebtes nicht zu spüren, was kurzfristig auch klappt (wie bei Schere, Stein, Papier: interpsychische Impulsivität schlägt intrapsychischen Schmerz) – aber langfristig… 

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14. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 14. Danielle Arn-Stieger

Advent ist eine dunkle Zeit, eine Zeit, in der wir warten und hoffen auf das Licht, das uns Zuversicht und Wärme gibt. Unsere Welt ist auch in einer dunklen Zeit, in der es nicht leicht ist, die Gegensätze auszuhalten, die viele unserer Werte in Frage stellen.

Als der Aufruf für Beiträge zum Adventskalender kam, musste ich an meine Sitzungen mit Salwa (Name geändert) denken, eine palästinensische Akademikerin, die ich seit zwei Jahren als Therapeutin begleite – zuerst in Österreich persönlich und – nach ihrer Rückkehr ins Westjordanland zu ihrer Familie – nun online. Es sind Sitzungen, die mich ob der Ausweglosigkeit in der Region oft hilflos machen. Manchmal frag ich mich, was ich als systemische Therapeutin wirklich beitragen kann. In einer Sitzung teilte ich den Gedanken mit ihr, dass sie soeben viele kleine konkrete Handlungen beschrieb, wie sie und ihr Umfeld sich nicht unterkriegen lassen, einen Unterschied zu machen, in einer Welt der Hoffnungslosigkeit auf andere zuzugehen und so Begegnung und Verbindung zu ermöglichen und zu neuen Perspektiven einzuladen. Und ich erzählte ihr von einem Dokument, das einige internationale systemisch-narrative Kolleg:innen gemeinsam erstellt haben und das mir viel bedeutet. Es enthält Beiträge, wie jede:r einzelne es höchst persönlich schafft, aus der Hoffnungslosigkeit auszusteigen.  Salwas Antwort möchte ich für den Adventkalender mit euch teilen – sie machen deutlich, dass das Hinschauen auf das, was gelingt, was trotz Hoffnungslosigkeit als „sparkling Moment“ berührt, Halt geben kann, wenn wir die Schwere gemeinsam aushalten, aber nicht aufhören, mit all unseren Sinnen auch zu erspüren, zu hören, zu sehen, zu ertasten, wo sich zeigt, was zutiefst menschlich ist: In der Begegnung mit dem anderen Menschen Verbindung und Resonanz zuzulassen.

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13. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 13. Margret Omlin

In letzter Zeit denke ich oft an Vamik D. Volkan. Sein Konzept der Grossgruppenidentität zeigt, wie man Fronten baut: Bewirtschaften ausgewählter Ruhmesblätter und Traumata, legitimieren von Anführern, Einsatz von Symbolen und Projektionen: Wir und die. Eingrenzen und ausgrenzen. Gut und Böse. Plus alles nahtlos weitergeben – quasi kultivieren. Simpel-brachiales Handwerk, und alle spielen mit.

(Foto: Tom Levold)

«Mä muäs halt redä midänand», sagt unser Freund Christoph manchmal. Reden und zuhören. Nachfragen und verstehen. Wunderbar einfach und anarchistisch, weil dann Unerwartetes passieren kann.

(Den Begriff «ergebnisoffen» lassen wir weg – gehört zum Bullshit-Bingo.)

Ihnen allen gute Tage im Advent,
Margret Omlin

12. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 12. Rudolf Klein & Barbara Schmidt-Keller

Vom Einschluss des Ausgeschlossenen

Das systemagazin wurde fast unbemerkt 20 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank für unendlich viele Anregungen, Literaturhinweise, Rezensionen, kritische Kommentierungen und aufdeckend-transparente Berichterstattungen! 

Tom schrieb in der Einladung zum diesjährigen Adventskalender, Allparteilichkeit, Neutralität, Multiperspektivität, Differenzierung, Vielschichtigkeit, Ambivalenz und das Anerkennen und Aushalten von Widersprüchlichem seien Begriffe, die das ‚Spezifisch-Systemische‘ kennzeichnen. Man liest diese Begriffe allenthalben in (fast) jedem systemischen Text, in systemischen Konzepten von Instituten und Weiterbildungsgängen. Gerade aber das systemagazin hat immer auch Mut zur Positionierung und zum Konflikt gezeigt und sich auf wohltuende Art eben gerade nicht ausschließlich ‚allparteilich‘ und ‚neutral‘ versteckt.

Das ist insofern erwähnenswert, weil sogenanntes ‚Schwarz-Weiß-Denken‘ und damit entschiedene Positionierungen im systemischen Feld verpönt werden und des Teufels zu sein scheinen. Entsprechend hörte ich kürzlich in einem Podcast die sinngemäße Aussage, eine Entweder-Oder-Frage sei „unsystemisch“. Lässt sich das widerspruchsfrei behaupten?

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11. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Aventskalender 2025 – 11. Sabine Klar

Es braucht eine klare Entscheidung …

Systemische Psychotherapeut:innen beschäftigen sich im Allgemeinen nicht damit, eigene Konzepte zu bestätigen und sich damit zu profilieren – sie interessieren sich primär für das Erleben Ihrer Klient:innen und um das, was denen in ihren jeweiligen Problemlagen helfen könnte. Deshalb werden Studierende in einer systemischen Ausbildung üblicherweise dazu angeregt, sich der eigenen Gedanken, Gefühle und Vorannahmen bewusst zu werden, sie als subjektiv und vorläufig zu erkennen, um sie im Klient:inneninteresse verwenden bzw. beiseitelassen zu können. In diesem Lernprozess wird weniger darauf geachtet, ob jemand etwas richtig oder falsch sieht bzw. macht – es geht um ein neugieriges Suchen und um ein (immer wieder auch spielerisches) Experimentieren mit Lösungsideen. Der Ausbildungskontext vermittelt dabei die Gewissheit, mit allen Stärken, Schwächen und unterschiedlichen Sicht- bzw. Erlebnisweisen dazugehören und mitreden zu dürfen. 

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9. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 09. Stefan Beher

Vom Double-Bind zur Doppelmoral: Bateson und die DGSF im Zeitalter der Anti-Ambivalenz

Ambivalenz ist überall. Fast keine Frage führt nicht ins Zwiespältige. Man muss bloß lang genug über sie nachdenken. Doch gerade darin liegt ihre Tücke: Ambivalenz wird schnell selbst ambivalent. Sie erschwert Entscheidungen, irritiert unseren Handlungssinn und sät Zweifel, wo Entschlossenheit hilfreicher wäre. Manche Formen von Widersprüchlichkeit gelten sogar als pathologisch. Man denke nur an die berühmte double-bind theory, der zufolge bestimmte kommunikative Uneindeutigkeiten angeblich direkt in die Schizophrenie führen. Oder lag es doch mehr an der mangelhaften Ambiguitätsentschlüsselungskompetenz der in dieser Weise psychotisch Gefährdeten? Gregory Bateson, auf den diese Theorie wesentlich zurückgeht, war ansonsten immerhin ein Freund der Ambivalenz. „The problem is to learn to perceive ambiguity, to accept paradox, and to refrain from premature closure“, schrieb er etwa in seinen „Steps to an Ecology of Mind“ (1972). Am Raufverhalten von Affen untersuchte er jene Signale der Tiere, die ihrem Gegenüber in solch doppelbödigen Situationen verdeutlichten, es mit einem Spiel zu tun zu haben und nicht mit „blutigem Ernst“. 

Heute, mehr als 50 Jahre später, geht man in Teilen der systemischen Szene aus Angst vor Ambivalenz den umgekehrten Weg. In der DGSF etwa hält man „Systemik“ neuerdings für politisch. Dort kennt man – allem Konstruktivismus zum Trotz – nicht nur die eindeutig richtigen politischen Positionen. Man möchte sie auch, weitgehend ohne Bewusstsein für die potenzielle Schädlichkeit der damit verbundenen funktionalen Ent-Differenzierung, in das therapeutische Feld importieren.  Wohlklingende Stichworte, „Anti-Rassismus“ etwa oder „Anti-Diskriminierung“, gegen die zunächst kein vernünftiger Mensch Einwände erheben würde, werden zur Rechtfertigung in Anspruch genommen. Doch bei näherem Hinsehen entdeckt man die nächsten Ambivalenzkiller: Hinter den intuitiv plausiblen Etiketten verbergen sich umstrittene und höchst unterkomplexe Weltbilder – etwa politisierte Ableger der „Critical Race Theory“, die in den USA bereits das linke Lager gespalten und ungewollt politische Reaktanz bis hin zu Trumps Wiederaufstieg befeuert haben. Solche Ideologien teilen die Welt in klare Lager: Schwarze und Weiße, Opfer und Täter, Progressive und Rechtsradikale. Universalistische Standards gelten ihnen als rassistisch; gleichzeitig werden – im Namen des „Antirassismus“ – identitätsbasierte Sonderrechte eingefordert. Die Etablierung einer gruppenbezogenen Doppelmoral ist dabei kein Betriebsunfall, sondern konstitutiv für diese Weltsicht. Einer ihrer prominentesten Vertreter, der Aktivist Ibram X. Kendi, formuliert dies unverblümt: „The only remedy to racist discrimination is antiracist discrimination.“ Ob derartige konfliktnahen und polarisierenden Konzepte – die schon im politischen Raum vor allem Zwietracht und Abwehr erzeugen – nun ausgerechnet in die Praxis therapeutischer Professionen überführt werden sollten, darf man wohl bezweifeln. 

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8. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 08 Sandra Burgstaller

Im Zwischenraum der Möglichkeiten

In der systemischen Psychotherapie lernen wir, scheinbare Gegensätze bestehen zu lassen. Viele Klient*innen kommen genau deshalb in die Praxis: Sie suchen keine Schubladen, sondern echte Begegnung – und diese kann nur im Dazwischen entstehen. Im „Sowohl–als–Auch“ statt im „Entweder–Oder“, durch Wahrnehmen statt Werten, Fragen statt Urteilen, Hypothesenbilden statt Diagnostizieren und Kontextualisieren statt Pathologisieren.

Neulich sagte ein Klient zu mir, er schätze die Therapie besonders, weil er sich mit all seinen vielfältigen und manchmal widersprüchlich wirkenden Seiten zeigen dürfe. „Dinge können groß und gleichzeitig klein sein,“ formulierte er es so treffend. Solche Momente zeigen für mich das Potenzial systemischen Denkens: Perspektiven verengen sich nicht, sondern eröffnen neue Möglichkeiten.

Wenn wir uns unsere begrenzte Lebenszeit bewusst machen, gelingt es häufig, flexibler und offener auf unser Leben zu blicken. Deshalb erkunde ich mit Klient*innen gerne, was ihr „Sterbebett-Ich“ zu ihrem Anliegen sagen würde oder woran sie sich am Lebensende erinnern möchten. „Natürlich würde ich mir erlauben, mal verärgert, mal fröhlich, mal kritisch und dann wieder zurückhaltend zu sein,“ meinte derselbe Klient weiter. Er erlebte es als befreiend, sich seine inneren Nuancen zuzugestehen.

Nur wenn wir Spannungen und Widersprüchen Raum geben, statt sie vorschnell zu analysieren, zu bewerten oder zu bekämpfen, können wir einen Umgang mit ihnen finden. Tiefgreifende Erkenntnisse und Lösungen entstehen dort, wo wir uns auf das einlassen, was in und um uns auftaucht. Natürlich macht es uns verletzlich, uns bisher abgewerteten inneren Anteilen zuzuwenden. Dafür braucht es Mut und vor allem ein sicheres Setting. 

Und zugleich erleichtert es das Leben manchmal, sich auf das Eindeutige zu beziehen. Erst kürzlich fragte mein kleiner Sohn: „Wer stirbt, ist tot, oder?“ So schlicht und klar dieser Satz klingen mag, erinnert er mich daran, dass selbst im großen Spiel der Mehrdeutigkeiten manches unmissverständlich bleibt – und gerade dadurch Orientierung und Halt schenken kann.

7. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 07 Katrin Bärhold

Zwischenräumen

Im Land des schnellen Urteils
wo Kanten scharf wie Messer sind
da flüstert etwas Leises:
Geh langsamer mein Kind!

Die Wirklichkeit trägt Schichten
keine steht allein
sie weben ein die Fäden 
komplexes Farbgebein

Am-bi-valen-zen sehen sich
neben uns im Licht
es wär nicht auszuhalten
denk nach, bevor‘s zerbricht

Erwächst ein Raum dazwischen
mit Möglichkeiten noch
sie schwingen zwischen Polen
schwarzweiß, vielleicht, neindoch

Warum seid ihr gekommen
ihr widersprüchlichen Gäste
wenn Wahrheit einen Zwilling hat
ist Leben mit Reden das Beste

Der Faden zwischen den Gegensätzen
beginnt nicht mehr zu zerreißen
ein sanft leuchtendes Pendeln
das Räume kann verweisen
auf ungeahnte Wege
die jenseits von Entweder stehen
wo Zweifel ihre Schwere
in leises Fragen drehen

Und mitten in den Schichten
regt sich ein warmes Erkennen
dass wir im Zwischenhalten
uns selbst am klarsten nennen

Ich arbeite seit fast 2 Jahren mit meinem Therapiehund Hagrid, einem Elo, der auch inzwischen gut ausgebildet ist. Nun wollte ich ein schönes Bild mit ihm machen, um es auf meiner Website zu veröffentlichen. Ein Bild was uns beide zeigt, wie wir in die Kamera schauen- einträchtig nebeneinander mit Blick nach vorn. Arbeitend….. Da prallten zwei Wirklichkeiten aufeinander, zwei differenzierte, ambivalente Welten. Ein Jungrüde, der knapp 2 Jahre alt ist, mit Flausen im Kopf und eine gesetzte, erfahrene 60 jährige Therapeutin. Pfff. Ich habe das Bild nicht zustande bekommen, ich konnte den inneren Prozess in mir beobachten. Ich musste Aushalten, Verlangsamen, Verstehen, Hinterfragen, mein Weltbild ummodulieren, Warten, Loslassen. Wir haben uns kaputtgelacht. Ist doch was!

6. Dezember 2025
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2025 – 06 Kurt Ludewig

Fundamentalismus oder….?

Fundamentalisten schränken ihr Denken auf ein Thema ein und handeln dementsprechend einseitig. Deshalb werden sie in manchen Kreisen geächtet, in anderen aber auch gerade deshalb geschätzt. Wie leicht man in eine fundamentalistische Haltung hinein strudeln kann, lässt sich an den ersten Veröffentlichungen zur systemischen Therapie ablesen. In den 1980er Jahren meinten einige von uns erkannt zu haben, dass die ganze Psychotherapie auf falschen Fundamenten aufgebaut worden war. Es galt also, das Bisherige “radikal” zu erschüttern und durch ein fundamental neues Denken zu ersetzen, nämlich den radikalen Konstruktivismus und eine darauf bezogene Systemtheorie. Die fundamentale Unterscheidung hieß: systemisch versus unsystemisch. Aus jetziger Perspektive mutet es etwas seltsam an, dass wir uns einerseits gegen das Wahre, das An-Sich, wandten und doch von der Wahrheit unserer theoretischen Entdeckungen total überzeugt waren. Die Unterscheidung richtig/falsch galt als obsolet und  doch galt es als unausgesprochen falsch, wenn man unsystemisch dachte. Für die Nicht-Systemischen waren wir bloß Revoluzzer. Klaus Grawe hätte uns als Konfessionelle im Gegensatz zu den Professionellen eingeordnet.

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