Fischer, Hans Rudi (2012): Editorial: Kreativität oder wie Neues in die Welt kommt. In: Familiendynamik 37 (1): S. 1-1
Sternberg, Robert J. (2012): Die Rolle von Kreativität in der Liebe. In: Familiendynamik 37 (1): S. 4-15.
abstract: Kreativität spielt in der Liebe eine unverzichtbare Rolle. Zum Tragen kommt sie z. B. in Liebesgeschichten, die wir als Folge der Wechselwirkung zwischen unserer Persönlichkeit und unseren Erfahrungen erschaffen. Fast vom Augenblick unserer Geburt an erleben wir viele unterschiedliche Liebesgeschichten: die Partnerschaft unserer Eltern, die Elternbeziehung von Freunden, Liebesgeschichten im Fernsehen, in Büchern usw. Wir identifizieren uns mit Geschichten, die zu unserer Individualität passen, und kommen so zu einer Rangfolge von Geschichten, wie wir sie selbst gern erleben würden. Das Gelingen von Partnerschaften hängt auch davon ab, in welchem Maße sich die Geschichten der beiden Partner im Hinblick auf ihre Vorstellung von »wahrer Liebe« vereinbaren lassen. Empirische Studien haben gezeigt, dass einige Geschichten adaptiver sind als andere und dass die Vereinbarkeit von Geschichten-Profilen das Gelingen von Partnerschaften prognostizierbar macht. Wissenschaftlich betrachtet, sind Kreativität und Liebe getrennte Disziplinen. In dem vorliegenden Beitrag erörtere ich, in welch engem Zusammenhang Kreativität und Liebe miteinander stehen, auch wenn dies üblicherweise nicht in den Blick genommen wird.
Holm-Hadulla, Rainer, Frank Hofmann & Michael Sperth (2012): Psychotherapie und Kreativität. In: Familiendynamik 37 (1): S. 16-23.
abstract: Jede gelungene Psychotherapie enthält ein schöpferisches Moment. Schon die Gestaltung der therapeutischen Beziehung ist eine kreative Herausforderung im Sinne der alltäglichen Kreativität. Diese unterscheidet sich von außergewöhnlicher dadurch, dass ihre Ergebnisse nur für das entsprechende Individuum oder kleine Gruppen interessant sind. Auch auf der kognitiven und Verhaltensebene spielt Kreativität eine Rolle, wenn neue Sicht- und Verhaltensweisen entdeckt und realisiert werden. Psychodynamisch und psychoanalytisch stellt die Figuration von unbewussten Wünschen, Fantasien und Konflikten eine schöpferische Aufgabe dar. Schließlich stellt Psychotherapie auf der existenziellen Ebene einen besonderen Weg dar, neue Wirklichkeitskonstruktionen zu erschaffen. Individuelle und soziale Selbstverwirklichung ist eine kreative Aufgabe, zu der man sich entscheiden kann.
Hantel-Quitmann, Wolfgang (2012): Sehnsucht, das kreative Gefühl. In: Familiendynamik 37 (1): S. 24-33.
abstract: Kreativität entsteht, indem sich eine Idee mit einem Gefühl verbindet, das ihr zugleich die Kraft verleiht. Ein sehr starkes und kreatives Gefühl ist die Sehnsucht. Sehnsucht ist der ungestillte Hunger und Durst der Seele, der permanente Stachel in der Selbstgenügsamkeit unseres Daseins. Sie mahnt uns, niemals in banaler Zufriedenheit zu versinken, unsere ganz persönlichen Träume und Wunschträume zu verfolgen, manchmal auch unsere sozialen Utopien. Sie zwingt uns zur Suche nach Vollkommenheit, Perfektion oder gar dem Absoluten. Es scheint, als habe jeder einzelne Mensch seine ganz besonderen Sehnsüchte, die Ausdruck seiner Einzigartigkeit sind. Sehnsucht ist auch die Fähigkeit zu träumen. Denn Träume erlauben uns, sowohl die schwierigen Zeiten des Lebens zu ertragen als auch das Leben auf kreative Weise zu gestalten. Der Weg zum Verständnis der Sehnsüchte führt über die Träume, denn Sehnsüchte sind ganz besondere Lebensträume, sie sind geträumte Problemlösungen oder traumhafte Lösungen für unsere Lebensfragen.
Rigotti, Francesca (2012): Die schwere Entbindung der Entbindungsphilosophie. In: Familiendynamik 37 (1): S. 34-41.
abstract: Folgender Essay schließt an Ludger Lütkehaus’ Beitrag Von der schweren Geburt der Geburtsphilosophie (Familiendynamik, 2/2009) an, dessen Kenntnis nicht vorausgesetzt wird. Die Autorin erweitert Lütkehaus’ »Geburtsphilosophie« durch den Begriff der »Entbindungsphilosophie«. Der Rolle der gebärenden Mutter kommt dadurch eine größere Bedeutung zu, da sie mit der Geburt als schöpferischem Prozess neues Leben in die Welt setzt. Die Umbenennung vermeidet eine Abwertung des Weiblichen und unterläuft die allgemeine Auffassung, dass die Geburt neuer Ideen vorwiegend männlicher Natur sei, wohingegen den Frauen lediglich das Entbinden von Kindern zukomme. Wer von beiden, jene ausgestattet mit Verstand oder jene körperlichen Geschöpfe, erscheint uns bedeutender? Sind Ideen nicht etwa groß, unendlich und unsterblich, und Kinder, geschaffen aus Fleisch und Blut, kurzlebig und sterblich?
Stierlin, Helm (2012): Zum Verstummen der Stimmen zur Nazizeit – weiterhin eine Altlast? In: Familiendynamik 37 (1): S. 42-49.
abstract: Als Angehöriger der Generation der Flakhelfer war der Verfasser Zeuge der von den Nazis gegen Juden geschürten Hetzkampagne. Deren Ausmaß und Auswirkungen lassen ihn als systemischen Therapeuten noch heute Fragen stellen, auf die dieser Beitrag Antworten sucht. So die Fragen: Wie konnte der Antisemitismus gerade in Deutschland so extrem und so verheerend zur Wirkung gelangen? Warum verstummten damals kritische Stimmen weitgehend? Wie weit wirkt solch ein Verstummen der Stimmen noch in den Problemen nach, mit denen es systemische Therapeuten heutzutage zu tun haben? Und inwieweit besteht auch in der heutigen rechtsstaatlichen Demokratie die Gefahr, dass es zu einer kollektiven Verscheuklappung und gleichzeitigen kollektiven Emotionalisierung mit möglicherweise schlimmen Folgen kommt?
Nöcker, Karin, Haja Molter, Tom A. Rüsen & Arist von Schlippe (2012): Wie kann ein Gespräch zu einem Spaziergang werden? In: Familiendynamik 37 (1): S. 50-52
Rösner, Carola (2012): Der besondere Fall: Entfremdung vom Vater – hinterfragt. In: Familiendynamik 37 (1): S. 54-57
Molter, Haja (2012): Vom Ende der großen Entwürfe … zum Blühen systemischer Praxis. Eine Retrospektive in Interviews auf das Jahr 1991. In: Familiendynamik 37 (1): S. 58-64
Fischer, Hans Rudi (2012): FilmDynamik: Reise ans Ende des Traumes – auf dem Rücken eines Tigers in Inception hängend. In: Familiendynamik 37 (1): S. 66-73
Ofner, Franz (2012): Psyche – das Forum inneren Dialogs. Zu George Herbert Meads Geist, Identität und Gesellschaft. In: Familiendynamik 37 (1): S. 74-76
Ludewig, Kurt (2012): Rezension – Brandl-Nebehay, Andrea; Hinsch, Joachim: Paartherapie und Identität. Denkansätze für die Praxis. Heidelberg 2010 (Carl Auer). In: Familiendynamik 37 (1): S. 78-79
Schneewind, Klaus A. & Arist von Schlippe (2012): Editorial: Familienpsychologie und systemische Familientherapie – zwei »ungleiche Schwestern«. In: Familiendynamik 37 (2): S. 81-81
Ziegenhain, Ute & Anne Katrin Künster (2012): Frühe elterliche Bindungsförderung in der interdisziplinären Zusammenarbeit. In: Familiendynamik 37 (2): S. 84-93.
abstract: Im Kontext Früher Hilfen und Kinderschutz stellen elterliche Erziehungs- und Beziehungskompetenzen einen wichtigen Ansatzpunkt zur Prävention dar. Faktoren, die empirisch nachgewiesen zu einer Förderung elterlicher Kompetenzen beitragen, werden ebenso wie mehrere bereits evaluierte Förderprogramme für Eltern vorgestellt. Bei der Implementierung wirksamer Programme in die Praxis stellt sich die Herausforderung, wie interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen kann. Insbesondere das Gesundheitswesen sowie Kinder- und Jugendhilfe sollten kooperieren, um junge Familien rechtzeitig erreichen und ihnen passgenau präventive Unterstützung anbieten zu können. Hier werden Schwierigkeiten benannt sowie Ansätze dargestellt, wie sie überwunden werden können. Abschließend wird diskutiert, warum eine landes- und bundespolitische Steuerung von Netzwerken Früher Hilfen notwendig ist.
Cowan, Philip, Carolyn Pape Cowan, Marsha Kline Pruett, Kyle Pruett & Peter Gillette (2012): Väterliches Engagement bei der Betreuung ihrer Kinder stärken – ein familiensystemischer Ansatz. In: Familiendynamik 37 (2): S. 94-103.
abstract: Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf zwei abgeschlossene klinische Studien sowie eine noch andauernde klinische Studie (jeweils auf der Basis eines randomisierten Designs) im Rahmen des Projekts SFI (Supporting Father Involvement). Es handelt sich dabei um ein Gruppeninterventionsprogramm für Eltern mit geringem Einkommen. Dieses wurde entwickelt, um Väter stärker positiv in das Leben ihrer Kinder einzubeziehen. Die Studien beinhalten vergleichende Tests zur Wirksamkeit von Väter- und Paargruppen, die jeweils von demselben Team, einer männlichen und einer weiblichen psychosozialen Fachkraft, geleitet wurden. Dabei wird die Effektivität dieser Gruppen mit den Befunden üblicher Beratungsdienste verglichen. Das Curriculum der Intervention hat zum Ziel, das väterliche Engagement zu verbessern und familiäre Beziehungen so zu stärken, dass dies ein größeres Wohlergehen für die Kinder mit sich bringt. Es basiert auf einem empirisch fundierten und fünf Bereiche von Risiko- und Schutzfaktoren umfassenden Familiensystemmodell, das auf das Funktionsniveau des Einzelnen und der Paarbeziehung abhebt.
Schneewind, Klaus A. (2012): Familienpsychologie – Brückenschläge zwischen Forschung und Anwendung. In: Familiendynamik 37 (2): S. 104-112.
abstract: Ausgehend von neueren demoskopischen Befunden zum Zustand und Verständnis von »Familie« in Deutschland, wird ein psychologischer Familienbegriff vorgeschlagen, der Familien als intime Beziehungssysteme begreift. Diese kommen in unterschiedlichen Familienkarrieren zum Ausdruck. Sodann werden anhand eines systemischen Modells Gegenstand und Aufgaben der Familienpsychologie als einer wissenschaftlichen Disziplin erläutert. Dabei zeigen sich Möglichkeiten, wie die familienpsychologischen Schwerpunkte einer grundlagen- sowie anwendungsorientierten Forschung und eine familienorientierte Anwendungspraxis sich wechselseitig befruchten können. Einige gelungene Beispiele hierfür werden mit Bezug auf vier Beziehungsformen der Familienpsychologie, nämlich Paarbeziehungen, Eltern-Kind-Beziehungen, Geschwisterbeziehungen und mehrgenerationale Beziehungen, vorgestellt. Abschließend wird auf die fehlende Verankerung der Familienpsychologie im deutschen Wissenschaftssystem hingewiesen.
Spengler, Andreas & Heiner Engel (2012): Eine Gorillafamilie im Umbruch – unkonventionelle Familienintervention. In: Familiendynamik 37 (2): S. 114-122.
abstract: Ein Psychotherapeut und ein Zoologe berichten über die Entwicklung einer Gorillafamilie im Zoo Hannover, die nach dem plötzlichen Tode des damaligen Alpha-Mannes in den Jahren 2002 bis 2003 in eine schwere Krise geriet. Der Versuch, einen jungen Gorillamann zu integrieren, drohte zu scheitern. In einer externen Fallsupervision erarbeiteten zoologische Leitung und Tierpfleger 2003 ein erweitertes Verständnis der Beziehungsdynamik zwischen den Tieren und Menschen. Die Pfleger veränderten ihren Umgang mit den Gorillas, und es kam zu einer durchgreifenden Stabilisierung innerhalb der Familie. Schon 2004 nahm der Gorillamann seine Rolle als Alpha-Mann ein, und es kam das erste Gorillakind zur Welt. 2011 lebten in der Familie sechs gesunde Kinder. Rückschläge und Krisen waren zu verarbeiten. Die Perspektive wurde auf die Einflüsse der Besucher erweitert. Die Supervision verwandte systemtherapeutische Sichtweisen und Methoden. Sie erwies sich als praktikabel und effektiv in einem Einsatzbereich, in dem Supervision bisher ein Fremdwort ist. Der Beitrag gibt Einblicke in die Mensch-Tier-Beziehung und die Verhaltensbiologie bei Gorillas.
Füchsle-Voigt, Traudl (2012): Zwei Jahrzehnte interdisziplinäre Zusammenarbeit im Familienkonflikt. Bestandsaufnahme und Rückblick auf das »Cochemer Modell«. In: Familiendynamik 37 (2): S. 124-129.
abstract: Vorgestellt wird ein innovatives interdisziplinäres Handlungsmodell in Trennungs- und Scheidungskonflikten, um die elterliche Verantwortung zu stärken und kindliche Bedürfnisse zu wahren. Dieses wurde in der Fachwelt als »Cochemer Modell« bekannt. Begründet wurde es in den frühen 1990er Jahren durch die beteiligten Scheidungsprofessionen, die im Arbeitskreis Trennung und Scheidung in Cochem an der Mosel vereinigt sind. Zunächst werden Entstehung und Entwicklung des Modells skizziert. Im Weiteren werden die Inhalte und Methoden präsentiert sowie seine Leistungen kritisch gewürdigt. Erfolge des »Cochemer Modells« liegen vor allem in seiner Breitenwirkung, aber auch darin, dass es zur Reform des Familienverfahrensrechts im Jahr 2009 und zu einem veränderten Verständnis des Trennungs- und Scheidungsgeschehens beigetragen hat.
Perrez, Meinrad (2012): Die Familie als Gegenstand der Klinischen Psychologie. In: Familiendynamik 37 (2): S. 130-142.
abstract: Der folgende Text geht der Frage nach, unter welchen Aspekten die Familie ein Gegenstand der Klinischen Psychologie ist. Diese Frage wird auf dem Hintergrund der Systematik »klassischer« Aufgabengebiete der Klinischen Psychologie beantwortet, die sich bis anhin vor allem mit individuellen Störungen beschäftigt hat: Klassifikation und Diagnostik, Ätiologie, Prävention und Therapie interpersoneller Störungen (in) der Familie. Die einzelnen Domänen einer Klinischen Psychologie interpersoneller Störungen werden erläutert und spezifische Probleme herausgegriffen. Zu den Problemen gehört u. a., dass die Familie bisher in der Psychologie und der Klinischen Psychologie nicht ausreichend interdisziplinär betrachtet und untersucht worden ist. Ebenso wird festgestellt, dass besonders die Klassifikation interpersoneller Störungen (in) der Familie wie auch deren Ätiologie in der bisherigen klinisch-psychologischen Forschung zu wenig Aufmerksamkeit erhalten haben.
Schneewind, Klaus A., Arist von Schlippe & Florence Kaslow (2012): »Es braucht vor allem Selbstbewusstsein der Familienpsychologie«. Klaus A. Schneewind und Arist v. Schlippe im Gespräch mit Florence Kaslow. In: Familiendynamik 37 (2): S. 144-146
Fischer, Hans Rudi (2012): Zurück-Geschaut – Die Verflüssigung des Denkens. Vom Aufsetzen einer neuen Denkbrille: Ludwig Wittgenstein (2011): Philosophische Untersuchungen. In: Familiendynamik 37 (2): S. 148-152
Pestalozzi-Briedel, Annette (2012): Rezension – Ulrike Borst & Andrea Lanfranchi (Hrsg.) (2011): Liebe und Gewalt in nahen Beziehungen. Therapeutischer Umgang mit einem Dilemma. Heidelberg (Carl Auer). In: Familiendynamik 37 (2): S. 154-155
Borst, Ulrike (2012): Editorial: Geheimnisse. In: Familiendynamik 37 (3): S. 157-157
Bruchhaus Steinert, Helke (2012): Affäre, Geheimnis und Vertrauensverlust – Anlässe für Paartherapie. In: Familiendynamik 37 (3): S. 160-167.
abstract: Affären sind in einer Liebesbeziehung mit starken Emotionen verbunden und werden als schwerer Verrat empfunden. Die Daten zur Häufigkeit sexueller Untreue sind widersprüchlich. Affären werden häufig als Geheimnis gehütet, teils weil die Folgen der Enthüllung gefürchtet werden, teils weil dadurch ein besonderer Reiz erzeugt wird. Der Verdacht, dass der Partner sexuell untreu ist, belastet die Beziehung erheblich. Um Gewissheit zu erlangen, werden bohrende Fragen gestellt, SMS und E-Mails kontrolliert, während der Partner, der eine Affäre hat, diese verleugnet und lügt. Partner kommen in dauerhaften monogamen Beziehungen nicht umhin, sich dem Dilemma von Bindungswunsch und Begehren zu stellen, um eine lebendige Intimität zu erhalten. Für die Paartherapie wird ein Phasenmodell für den Verarbeitungsprozess nach einer Affäre vorgestellt. Wichtige Aspekte paartherapeutischer Interventionen werden beschrieben und anhand eines Fallbeispiels verdeutlicht.
Funcke, Dorett (2012): »Ich will wissen, wer er ist«. Geheimnisse und Nichtwissen im Leben von Spendersamenkindern. In: Familiendynamik 37 (3): S. 168-177.
abstract: In dem Beitrag geht es um das soziale Phänomen der sogenannten »Spendersamenkinder«. Es handelt sich dabei um Kinder, die aufgrund der Unfruchtbarkeit eines Elternteils mithilfe einer anonymen Fremdsamenspende gezeugt worden sind. Diese Kinder, heute (junge) Erwachsene, stehen vor der Aufgabe, das Thema, einen Teil ihrer biologischen Herkunft nicht zu kennen, in ihre Biografie zu integrieren. Ich unterscheide bei der Analyse eines Falles zwischen zwei verschiedenen Wissensformen, dem Geheimnis und dem Nichtwissen. Das Fallbeispiel illustriert, wie eine uneindeutige Herkunft Reflexionsprozesse auslöst und Lebensentscheidungen, wie z. B. die Berufs- oder Partnerwahl, beeinflusst. Es wird deutlich: Einen Teil seiner leiblichen Wurzeln nicht zu kennen legt den »Spendersamenkindern« ein Lebensthema auf.
Spiegel, Miriam Victory (2012): Black Boxes und Doublebinds. Geheimhaltung und Weitergabe von Erinnerung in Holocaust-Familien. In: Familiendynamik 37 (3): S. 178-187.
abstract: Die jüngsten Überlebenden des Holocaust, die man auch »Child Survivors« (überlebende Kinder der Shoah) nennt, erlitten große Verluste und tiefe emotionale Verletzungen und Traumata in ihrer Kindheit. Trotz ihrer ausgeprägten Resilienz, die sich in ihren Lebensverläufen nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt, waren viele von ihnen nicht sehr feinfühlige und fürsorgliche Eltern. Ihre Kinder – die oft als »Zweite Generation« bezeichnet werden – haben verschiedene Strategien entwickelt, um dennoch zu ihren Eltern eine enge Bindung aufzubauen. Sowohl bei diesen Eltern wie auch bei deren Kindern ist die Tendenz zu beobachten, dass sie sich gegenseitig vor Schmerz und weiterer Verfolgung schützen wollen, indem sie Wissen voreinander geheim halten. Solche Familiengeheimnisse tragen jedoch oft zur Distanz zwischen den Familienmitgliedern bei. Informationen zum historischen Hintergrund der Kriegs- und Nachkriegserfahrungen der überlebenden Kinder der Shoah wie ein Fallbeispiel veranschaulichen deren Situation.
Grabbe, Michael (2012): Was ich nicht weiß, macht mich heiß! Zum Durchlüften von Geheimnissen und Tabus in systemischer Therapie und Beratung. In: Familiendynamik 37 (3): S. 188-194.
abstract: Offenheit wird in unserer aktuellen Gesellschaft allgemein, in Beziehungen und entsprechend auch in der therapeutischen grundsätzlich positiv bewertet. Geheimnisse können belasten und Energien binden – auch über Generationen hinweg. Andererseits ist eine vollständige Offenheit nicht immer angezeigt. Geheimnisse und Tabus schützen oft zentrale Werte eines Systems und sind zur Identitätsbildung wichtig. Statt Geheimnisse schonungslos zu öffnen oder konsequent verborgen zu lassen, wird hier ein »Durchlüften« vorgeschlagen. Dabei geht es darum, ein Gespür für einen passenden Umgang zu entwickeln und eine Polarisierung zu verlassen. Praktische Beispiele sollen diesen balancierten Umgang mit Tabus und Geheimnissen transparent machen.
Shi, Jingyu & Jochen Schweitzer (2012): Wie chinesische und deutsche Therapeuten anders »systemisch denken«. Ein Vergleich ihrer Lieblingshypothesen und Lieblingsinterventionen. In: Familiendynamik 37 (3): S. 196-205.
abstract: Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit einem Kulturvergleich des Fallverständnisses deutscher (n = 76) und chinesischer systemischer Familientherapeuten (n = 82). Alle Teilnehmer formulierten schriftlich zu einem fiktiven Fallbeispiel (Walter, 2000) ihre therapeutischen Hypothesen sowie Interventionspläne. Deren inhaltsanalytischer Vergleich zeigt zwei über die Kulturen hinweg gleiche »Lieblingshypothesen« sowie drei gemeinsame »Lieblingsinterventionsstrategien«. Bei der Hypothesenbildung unterscheiden sie sich darin, dass Hypothesen 1) über individuelle Bedürfnisse/Erwartungen an die familiäre Beziehung lediglich von den deutschen, 2) zu den Herkunftsfamilien der Eltern nur von chinesischen Teilnehmern und 3) zur Eltern-Kind-Beziehung häufiger von deutschen als chinesischen Teilnehmern formuliert werden. Bei den Interventionsstrategien werden Paarbeziehungsklärung und Stärkung der Vater-Sohn-Beziehung nur von deutschen Teilnehmern erwogen. Das Bewusstsein solcher kulturell bedingten, unterschiedlichen Hypothesenbildung und Interventionsstrategien kann ein besseres Verständnis zwischen deutschen Lehrtherapeuten und chinesischen Weiterbildungsteilnehmern schaffen und dazu genutzt werden, Veränderungen und Verstörung im System anzuregen.
Eickhorst, Andreas & Jörn Borke (2012): Subjektives Wohlbefinden von Vätern als Fokus in der Familienberatung. In: Familiendynamik 37 (3): S. 206-211.
abstract: Der Beitrag wirbt für das Thema Wohlbefinden von Vätern als eigenen thematischen Schwerpunkt in der psychologischen Beratungsarbeit mit Familien, insbesondere im Rahmen von Eltern-Säuglings-Beratungen. Dadurch könnte die oft unbeabsichtigte, ungleichgewichtig mütterzentrierte Sichtweise in diesem zunehmend relevanten Feld erweitert werden. Der Beitrag basiert auf dem theoretischen Konzept des subjektiven Wohlbefindens und diskutiert dessen Möglichkeiten. Neben einer Übersicht zu diesbezüglichen Befunden soll mithilfe eines Fallbeispiels aus einer Beratungssituation die Integration der vorgestellten Ansätze und Befunde in die (nicht nur) systemische Praxis aufgezeigt werden.
Lüscher, Kurt (2012): Familie heute: Mannigfaltige Praxis und Ambivalenz. In: Familiendynamik 37 (3): S. 212-223.
abstract: In der sozialwissenschaftlichen Familienforschung zeichnet sich eine pragmatische Wende ab. Dabei rücken das Verständnis der anthropologischen Vorgaben und die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen ihrer alltäglichen Gestaltung ins Zentrum. Dementsprechend interessieren die öffentlichen und privaten Spannungsfelder, in denen Menschen heute Familie »leben« wollen und können, mithin die Erfahrung von Ambivalenzen. Diese zu erkennen und in einer sozial kreativen Weise zu gestalten kann als übergreifende Aufgabe gesehen werden. Das Konzept der Ambivalenz bietet sich dementsprechend auch als ein Bezugspunkt für die familientherapeutische Arbeit an.
Weyand, Gabriele (2012): FilmDynamik – Balance und Chaos: Der Gott des Gemetzels. In: Familiendynamik 37 (3): S. 224-226
Chlopczyk, Jacques (2012): Tagungsbericht: »Wie kommt Neues in die Welt?«. In: Familiendynamik 37 (3): S. 228-231
Ramadani, Marco (2012): Rezension: Stefan Hammel (2011): Handbuch der therapeutischen Utilisation. Das Problem als Sprungbrett zur Lösung – therapeutische Utilisation. Stuttgart (Klett-Cotta). In: Familiendynamik 37 (3): S. 232-233
Holzapfel, Ute (2012): Rezension: Luc Ciompi & Elke Endert (2011): Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht). In: Familiendynamik 37 (3): S. 233-234
Kriz, Jürgen (2012): Rezension: Martin Rufer: Erfasse komplex, handle einfach. Systemische Psychotherapie als Praxis der Selbstorganisation – ein Lernbuch. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht). In: Familiendynamik 37 (3): S. 234-237
Sydow, Kirsten von (2012): Leserbrief zu Meinrad Perrez „Die Familie als Gegenstand der Klinischen Psychologie“. In: Familiendynamik 37 (3): S. 238-238
Perrez, Meinrad (2012): Erwiderung auf Kerstin von Sydow. In: Familiendynamik 37 (3): S. 238-238
Fischer, Hans Rudi & Arist von Schlippe (2012): Editorial: Nicht lesen bitte! Paradoxien und Dilemmata. In: Familiendynamik 37 (4): S. 241-241
Fischer, Hans Rudi (2012): Paradoxien als Quelle von Kreativität. Von Double Binds und Double Minds. In: Familiendynamik 37 (4): S. 244-257.
abstract: »Wasch mich, aber mach mich nicht nass«, könnte die Struktur eines therapeutischen Auftrages sein. Jeder kennt solche Wendungen, die etwas verlangen, was faktisch – oder logisch – ausgeschlossen ist. Warum ist das so, und welche Wirkung entfalten solche Botschaften auf den Empfänger? Was ist ein Therapeutikum gegen Paradoxe? Die Phänomene, die wir mit Paradoxon oder verwandten Begriffen wie Antinomie, Widerspruch und Dilemma zu begreifen suchen, haben ihre Wurzeln in der Logik unserer Sprache. Die Möglichkeit, von paradoxen Phänomenen verwirrt, ver-rückt, seltsam berührt oder fasziniert zu werden, betrifft nicht nur Logiker, sondern uns alle, für die Inder-Welt-Sein eben auch In-der-Sprache-Sein bedeutet. Paradoxien sind ohne die »Denkgesetze«, in denen Menschen Sinn erschaffen, nicht denkbar. Der Beitrag führt in die Psycho-Logik der Paradoxien ein, um sich dem Betriebsgeheimnis von Kreativität zuzuwenden. Batesons Double-Bind-Konzept und Koestlers Theorie der Bisoziation werden herangezogen, um kreative und produktive Aspekte paradoxen Denkens herauszuarbeiten. Ohne Paradoxien, ohne Widersprüche und Dilemmata in unserem Leben gäbe es keine Veränderung, so eine der zentralen Thesen des Artikels. Kommt die Geburt des Neuen aus dem Geiste der Paradoxie? Paradoxien sind auch und v. a. Ressource eines Denkens, das sich selbst und die eigenen Landkarten des Denkens flexibel und offen für Veränderung hält.
Schmidt-Lellek, Christoph J. (2012): Therapeutenmacht und Patientenautonomie. Paradoxien und Polaritäten in der therapeutischen Beziehung. In: Familiendynamik 37 (4): S. 258-266.
abstract: Die Macht des Therapeuten soll auf eine Autonomieentwicklung des Patienten abzielen. Aber Autonomie des Patienten ist nicht nur ein Ziel, sondern zugleich auch Voraussetzung des Geschehens. So findet die Macht des Therapeuten mit seiner professionellen Autonomie in dem autonomen Subjekt des Gegenübers ihre Grenze. Für die therapeutische Beziehung sind vielfältige Paradoxien und Polaritäten in diesem Spannungsfeld konstitutiv, deren Missachtung zu Machtmissbrauch führen kann. Ausgangspunkt ist eine Erläuterung des Autonomie-Begriffs; dazu wird das Konzept der »zwei Stufen des Wünschens« von Harry Frankfurt herangezogen.
Groth, Torsten & Arist von Schlippe (2012): Die Form der Unternehmerfamilie – Paradoxiebewältigung zwischen Entscheidung und Bindung. In: Familiendynamik 37 (4): S. 268-280.
abstract: Die Unternehmerfamilie ist ein besonderer Typ Familie, der bisher recht wenig erforscht ist. Als besonderes Kennzeichen sticht hervor, dass die Mitglieder einer Unternehmerfamilie gemeinschaftlich Gesellschafter, also Eigentümer eines Unternehmens sind. Dieser Umstand stellt paradoxe Anforderungen an die Kommunikation, denn er nötigt der Familie Entscheidungszwänge auf, welche es wiederum erheblich erschweren, die Bindung unter den Mitgliedern aufrechtzuerhalten. Die folgenden Überlegungen sind im Zuge eines laufenden Forschungsprojekts entstanden, das die Paradoxiebewältigung in den Mittelpunkt stellt, und münden in einen Vorschlag zu einer (Form-)Theorie der Unternehmerfamilie.
Guntern, Gottlieb (2012): Kreativität und die Zukunft der Systemtherapie. In: Familiendynamik 37 (4): S. 282-290.
abstract: Die Therapie persönlicher und interpersoneller Probleme hat lange an einem Syndrom gelitten, das Bertrand Russell folgendermaßen charakterisiert hat: Statt zu denken, beginnen manche Menschen wie Pawlowsche Hunde zu speicheln, sobald sie den Glockenton der Autorität vernehmen. Diese Reaktionsweise scheint nun immer mehr abzunehmen. Wissenschaftliches Denken ersetzt allmählich die im operanten Konditionieren erworbenen Reflexe. Die auf der Allgemeinen Systemtheorie fußende Systemtherapie kann einen wesentlichen Beitrag zu einer zukunftsträchtigen Evolution der Therapie persönlicher und zwischenmenschlicher Probleme liefern, sofern sie sich vom traditionellen Meister-Epigonen-Kult verabschiedet, Grundbegriffe präzise definiert, absurde Spekulationen durch Hypothesen ersetzt, die via Beobachtung und Experimente prinzipiell falsifizierbar sind, reduktionistische Pseudo-Erklärungen durch systemische Erklärungen und einen monodisziplinären Approach durch einen transdisziplinären systemwissenschaftlichen Approach ersetzt, der die komplexen Strukturen, Funktionen und Prozesse von Humansystemen adäquat beschreibt und erklärt.
Negt, Oskar (2012): Der politische Mensch – Demokratie als Lebensform. In: Familiendynamik 37 (4): S. 292-299.
abstract: Weil Menschen nicht als politische Lebewesen geboren werden, aber immer in politisch bestimmten Kontexten bzw. Systemen leben, ist die Entwicklung des politischen Urteilsvermögens eine Voraussetzung jeder humanen Gesellschaft. Davon ausgehend, sieht der Autor die gegenwärtige Krise als kulturelle Erosionskrise, in der alte Werte nicht mehr gelten, neue noch gesucht werden. Auf die Bindungsproblematik fokussierend, werden drei Krisenherde beschrieben, für die eine Demokratie alternative Lösungen entwickeln muss, will sie lebendig bleiben: die Polarisierung der Gesellschaft, das Problem der Flexibilisierung des Individuums und das Problem der Abkoppelung. In den gegenwärtigen globalen Finanz- und Devisenmärkten sieht der Autor ein geschlossenes System, das sich hermetisch abschottet und seine eigenen Regeln schafft. Weil Lernprozesse in solchen Systemen Fehlanzeige sind, erhebt sich die Frage, inwieweit eine demokratisch verfasste Gesellschaft solche Systeme auf Dauer unkontrolliert sich selbst überlassen kann, ohne dass die Demokratie selbst Schaden nimmt. Das Schicksal demokratischer Gesellschaftsordnungen hängt davon ab, in welchem Maße die Menschen dafür Verantwortung übernehmen, dass das Gemeinwesen nicht beschädigt wird. Der Autor ruft den LeserInnen mit dem kategorischen Imperativ in Erinnerung, dass die Würde des Menschen die zentrale Kategorie ist. Daher sollte alles darauf gerichtet werden, diese Würde im Leben wie im Sterben zu ermöglichen.