„Die Funktion der Psychotherapie ist situiert im Kontext einer funktional differenzierten Gesellschaft, die jede Einheitsprätention, jedes Bestehen auf eineindeutigen Identitätsbestimmungen prekär macht. Im Blick auf psychische Systeme fallen dabei (Leidensdruck erzeugende) Unschärfeprobleme an, auf die sich dann die Psychotherapie bezieht, indem sie nichtcodierte und nichtcodierbare Probleme nicht codifiziert, sondern gelten lässt durch Strategien, die zu viablen Identitätskonzepten führen, innerhalb deren es möglich wird, mit Unschärfen zu leben. (
) Der Punkt ist, dass wir in der Kontingenzdrift der Moderne gewissermaßen »hechelnd« auf der Suche sind nach Identität, nach einer relativ zeitfesten Identität, die zugleich hochindividualisiert ist. Aber die Psyche kann dies alles nicht liefern. Dann bietet es sich evolutionär an, Verwalter der vagen Dinge zu finden, die aber eben nicht davon ausgehen, dass die Vagheit auflösbar ist in eine Klassifikation, in präzise Befunde, sondern vielmehr davon, dass ein bisschen kurios ausgedrückt das Leben immer vage »ist« und jede Festigkeit oder Präzision deswegen artifiziell. Darin läge ja auch der Unterschied zur Medizin, zu chirurgischen und/oder pharmazeutischen Strategien, die es mit codierten Problemen zu tun haben. Allerdings, und ich finde das heiter, wird heute den Medizinern angesonnen, auch nichtcodierte Probleme zu behandeln, die Patienten »ganzheitlich« aufzufassen und sich also auch seelischer Probleme anzunehmen. Das ist so etwas wie eine evolutionäre Umkehrung, da ja die Medizin lange Zeit die Psychotherapie okkupieren wollte. (In: Peter Fuchs:„Die Verwaltung der vagen Dinge, Gespräche zur Zukunft der Psychotherapie“. Carl-Auer-Verlag, Heidelberg 2011, S. 34).
Zitat des Tages: Peter Fuchs
28. März 2011 | Keine Kommentare