Die Unverfrorenheit, mit der einem Lebenswendungen manchmal die postmoderne Selbstironie oder wellnessvermurkste Lebensweisheiten vom Teller fegen wenn nicht um die Ohren hauen -, könnte einem konstruktivistische Ideen zum Umgang damit womöglich wie das Pfeifen im Walde erscheinen lassen. Vielleicht hat das ja etwas damit zu tun, dass auch konstruktivistisches Denken seinen Preis hat und nicht davor bewahrt, mit einem Bein mit in die Hölle zu steigen, während das andere im Möglichkeitenland seinen Stand zu halten versucht, wie Bill OHanlon das einmal so schön auf den Punkt brachte. Die Gewissheit eines zweiten Beins wäre dann eine Frage für sich, und womöglich wäre dann die eigene Basis für den Umgang mit dem Ungewissen eine ebenfalls nicht zertifizierbare Größe.
Als ich kürzlich, aus einem gegebenen Anlass, noch einmal Lynn Hoffmans 1996 in deutscher Übersetzung erschienene Aufsatzsammlung über Therapeutische Konversationen durchblätterte und meinen damaligen Lesespuren folgte, stellte sich wieder ein Gespür dafür ein, dass es möglich ist, sich den Dingen zu stellen, ohne die Dinge beherrschen zu können und dennoch etwas tun zu können. Ich habe für die Zitatestages-Rubrik daher einen kleinen Passus ausgewählt. Es handelt sich um eine Passage aus einem Interview, das Richard Simon für den Family Therapy Networker im Jahr 1988 mit Lynn Hoffman führte. Geschenkt, dass die in diesem Passus erlebbare Haltung wenig zu tun hat mit so etwas wie Erfordernissen einer sachzwanggerechten Anpassung an Verteilungsmechanismen, doch in einem ist sie im klaren Vorteil: mehr Transparenz geht nicht.
Das Zitat:
Frage: Könnten Sie ein klinisches Beispiel geben, wie Sie ihre philosophische Haltung des Konstruktivismus in die Praxis umsetzen?
Hoffman: Okay. Ich werde Ihnen von einer Mutter und ihrer jungen erwachsenen Tochter berichten, die vor drei Jahren zu mir kamen, nachdem eine gewaltige Auseinandersetzung sie auseinander gebracht hatte. Die Familie war diese kleine Insel der drei Frauen gewesen – Großmutter, Mutter und Tochter -, aber nachdem die Großmutter gestorben war, wollte die Mutter, daß die Tochter mehr für sie da war. Die Tochter, die schon alleine lebte, blockte ab und sagte: Ich muß mein eigenes Leben leben. So hatten sie diesen großen Streit und sahen sich nicht mehr. Sie suchten schon einmal eine TherapeutIn auf, um einige Dinge zu regeln, aber sie begannen, sich wieder zu streiten.
Nach einigen Sitzungen, in denen es mißlang, sie zu versöhnen, fragte ich mich, ob ich ihren Konflikt wirklich verstanden hatte. So teilte ich den beiden Frauen mit, daß ich glaubte, in die falsche Richtung gegangen zu sein. Mein Versuch, sie zusammen zu bringen, könnte für sie das schlimmste auf der Welt gewesen sein.
Ich sagte ihnen auch, daß ich vielleicht nicht die richtige Therapeutin für sie bin, weil meine eigenen erwachsenen Töchter sich von mir entfremdet hatten. Ich sagte dies aus dem Grund, weil ich vielleicht zu sehr versucht hatte, sie zusammen zu bringen. Ich fühlte mich zunehmend ungehalten über die Mutter, weil sie so wütend war, aber nachdem ich meinen Ärger ausgedrückt hatte, fühlte ich, wie mein eigener Ärger verschwand. Das erste, was die Mutter danach zu mir sagte, war: Warum bezahlen wir Sie dann für die Therapie? Eine Weile später wandte sie sich aus heiterem Himmel ihrer Tochter zu und sagte: Ich möchte, daß Du weißt, daß ich Dich nicht für meine Depressionen seit Omas Tod verantwortlich mache. Danach hatten Mutter und Tochter ihr erstes positives Gespräch nach drei Jahren.
Frage: Ich bin mir nicht sicher, inwiefern dieser Fall konstruktivistisches Denken widerspiegelt.Hoffman: Ich glaube insoweit, daß ich zurücktrat und mich daran erinnerte, welcher Teil meiner eigenen Geschichte mich beeinflußt haben könnte und diese Reflexion mitteilte. Früher hätte ich das Paar als mir„Widerstand Leistende“ bezeichnet und hätte mir wahrscheinlich ein paar Gegenmanöver ausgedacht. Ich hätte nicht auf meine Gefühle geachtet. Besonders hätte ich nicht meine Schwierigkeiten mit meinen Töchtern diskutiert.
Natürlich gab es auf der Ebene der Techniken einiges, das man als konstruktivistisch bezeichnen könnte. Zum Beispiel, wie Mutter und Tochter Wirklichkeit konstruierten, war nicht besonders hilfreich, deshalb bot ich einen anderen Weg an, sie zu konstruieren, so daß sich beide wohl fühlten. Das Problem war immer noch da, aber ich versuchte, seine Bedeutung zu verschieben.
Aber meine Haltung unterschied sich von der aus früherer Zeit. Als ich aufhörte, eine Expertin zu sein, wurde ich auch weniger distanziert und anonym. Ich zeige jetzt eine viel persönlichere Seite von mir, und ich gebe Fehler zu, wenn ich im Unrecht war. So viele Familientherapiemodelle halten an TherapeutInnen fest, die auf der Bergspitze stehen, oder sich hinter einem Spiegel verstecken. Ich fühle mich damit zunehmends unwohler. (Zitat aus: Lynn Hoffman (1996) Wie eine freundliche Herausgeberin: Richard Simon interviewt Lynn Hoffman. In: Therapeutische Konversationen. Von Macht und Einflußnahme zur Zusammenarbeit in der Therapie Die Entwicklung systemischer Praxis, Dortmund verlag modernes lernen; Zitat S.85-86. Das Buch ist Band 13 der Serie systemische studien, eine von Jürgen Hargens bis vor wenigen Jahren auf den Weg gebrachte Sammlung. Das waren noch Zeiten)
Zitat des Tages: Lynn Hoffman
13. Oktober 2009 | Keine Kommentare