Lange war im Feld der systemischen Therapie das Familiensetting bzw. die Arbeit mit der ganzen Familie dominant – und Markenzeichen des systemischen Ansatzes. Das hat sich in den vergangenen Jahren verändert – in vielen Kontexten (von den aufsuchenden Familienhilfen abgesehen) hat die Arbeit im Einzelsetting einen viel größeren Stellenwert erhalten. Die Arbeit mit der Familie ist aufwendiger und komplexer, im Zuge der Anerkennung von Systemischer Therapie im Rahmen der sozialrechtlich gesicherten psychotherapeutischen Versorgung wird das Familientherapie-Setting nur noch in Ausnahmefällen praktiziert werden, so meine Prognose. Vor diesem Hintergrund ist es begrüßenswert, dass es mit dem vorliegenden Band von Konrad Peter Grossmann ein aktuelles und einladendes Buch zum Thema gibt, das die Relevanz der Arbeit mit der Familie noch einmal nachhaltig vor Augen führt. Ulrike Hollik hat es gelesen und empfiehlt die Lektüre:
Ulrike Hollick, Weimar:
Wenn Kinder größer werden – der Titel spricht einerseits direkt auf die Be-deutung an, die ältere Kinder und Jugendliche in der Familientherapie haben, zum anderen löst er wohl viele Assoziationen aus, die mit eben diesem Größer- werden in engem Zusammenhang stehen, nämlich die Herausforderungen, mit denen größer werdende Kinder und Jugendliche und ihre Familien konfrontiert sind und die Entwicklungsaufgaben, die sie zu bewältigen haben.
Grossmann ermutigt dazu, in der Praxis der Familientherapeuten vermehrt wieder die Vorteile der Arbeit mit der ganzen Familie zu nutzen und vor allem Kinder und Jugendliche ab circa zehn Jahren mit in das Setting einzubeziehen.
Dazu beschreibt er im ersten Teil differenziert die unterschiedlichen Aspekte von kontext-, entwicklungs- und bewältigungsfokussiertem Fallverstehen und integriert diese zu einem »verschränkten Fallverständnis«. Dabei behält er ei- nen ressourcenorientierten Blick auf Familie und würdigt »ihren Mut, ihre Ent- schlossenheit, ihre Fähigkeiten, ihre Vorstellungen von einem guten Leben und ihre Zuneigung zueinander, die Lösungen ermöglichen.«
Die Rolle des Therapeuten sieht er in einem »bescheidenen Expertentum«, das zwar Theorien und Erklärungsmöglichkeiten zur Verfügung hat, diese je- doch als Hypothesen immer wieder in Frage zu stellen bereit ist. Eine große Bedeutung kommt den Narrativen zu. Grossmann beschreibt, inwiefern sie eine heilsame Wirkung haben können.
Im zweiten Teil des Buches wird anhand der Unterteilung einer Familientherapie in verschiedene Phasen wie Anfangsphase, Mittelteil, Evaluation und Abschluss, die Umsetzung in die Praxis veranschaulicht. Es wird eine Fülle von möglichen Interventionen vorgestellt und in Fallbeispielen erläutert. Dabei wird jedoch deutlich, dass die dargestellte Struktur zwar als Handlungsleitlinie dienen kann, jedoch immer Spielraum offen bleibt, um sich an den jeweiligen Bedürfnissen der Familie und des Therapeuten zu orientieren. Grossmann beschreibt, dass aus seiner Erfahrung die therapeutischen Interventionen meist unspezifisch, dass heißt in unterschiedlichsten Situationen für die unterschiedlichsten Familien genutzt werden können. Die wichtigste Wirkvariable im therapeutischen Prozess ist seiner Meinung nach die therapeutische Beziehung, dass die Familie sich empathisch und wertschätzend begleitet fühlt, die Therapie als »Sicheren Ort« erlebt und in diesem Rahmen darin unterstützt werden kann, in einem positiven gegenseitigen Austausch gemeinsame und individuelle Ziele zu entwickeln und auch zu erreichen.
Dabei plädiert Grossmann für eine Orientierung am jüngsten Mitglied der Familie, sodass auch dieses z. B. in der Wortwahl berücksichtigt wird. Auch wenn bei Erwachsenen, Jugendlichen und älteren Kindern der Schwerpunkt auf dem sprachlichen Ausdruck liegt, werden Möglichkeiten beschrieben, z. B. durch Schreiben, Malen und Rollenspiele auch einen Zugang zu ermöglichen, der nicht nur den jüngeren Kindern entgegenkommen wird.
Besonders beeindruckend sind für mich die Verwendung von Metaphern und Bildern, die Grossmann therapeutisch zu nutzen weiß, und die sich auch in seinem Schreibstil widerspiegeln. So vergleicht er die Position des Familientherapeuten z. B. mit einem Standort am Ufer, von dem aus der Fluss in Ruhe betrachtet werden kann, und die Familie ist eingeladen, auch einen solchen Blickwinkel einzunehmen. So kann Familientherapie dann sein wie das Umschreiben und Weiterkomponieren eines »sad song« hin zu einem besseren Ende.
(mit freundlicher Genehmigung aus Kontext 2/2019)
Konrad Peter Grossmann (2018): Wenn Kinder größer werden. Familientherapie mit älteren Kindern und Jugendlichen. Heidelberg (Carl-Auer)
239 Seiten, Kartoniert
Preis: 29,95 €
ISBN: 978-3-8497-0241-0
Verlagsinformation:
In einer Familientherapie geht es zumeist um mehrere Anliegen gleichzeitig: Eines davon betrifft eine gegebene Problemstellung beim Kind bzw. Jugendlichen, ein zweites die damit verbundene Verunsicherung der Eltern, ein drittes die häufig belastete Interaktion von Familienmitgliedern untereinander und/oder mit der Umwelt.
Konrad Peter Grossmann erkundet diese drei Anliegen zunächst auf einer allgemeinen Ebene und entwickelt daraus drei unterschiedliche Formen des Fallverständnisses. Sie nehmen nacheinander die Entwicklung des Kindes, den Kontext und die Bewältigung der Probleme in den Fokus.
Der Praxisteil des Buches folgt dem Ablauf eines Therapieprozesses: In der Anfangsphase werden die Grundlagen für die therapeutische Beziehung und die Interaktion zwischen den Familienmitgliedern gelegt, die Motivation für Veränderungen wird erkundet und gestärkt. Für den Mittelteil der Familientherapie skizziert der Autor eine Choreografie verschiedener Interventionen. Hier greift die Arbeit auf die zuvor beschriebenen Perspektiven Kontext, Entwicklung und Bewältigung zurück. Den Schluss bilden Vorschläge zur Handhabung von Rückfällen und Stagnationserfahrungen sowie zur Gestaltung der Abschlussphase einer Familientherapie.
Das Buch macht deutlich, dass der Schlüssel für Gestaltungmöglichkeiten in allen Phasen in der therapeutischen Gesprächsführung liegt. In den Text eingebettet ist deshalb neben Fallvignetten auch das Transskript einer familientherapeutischen Sitzung.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort (Tom Levold):
»Braucht es unbedingt noch ein Familientherapie-Buch?«, dachte ich, als ich das Manuskript dieses Buches in die Hand bekam. Nach der Lektüre bin ich überzeugt, dass dieser Band gerade zum gegenwärtigen Zeitpunkt einen wichtigen Platz im systemtherapeutischen Diskurs einnehmen kann, in dem die Arbeit im Familiensetting nicht mehr im Vordergrund steht.
Das war einmal anders. Der systemische Ansatz ist ja Anfang der 1980er Jahre nicht aus dem Nichts entstanden, sondern aus einer breiten familientherapeutischen Bewegung hervorgegangen. Lange wurde in den ersten Jahren darum gerungen, ob Familientherapie als eigenständiges Psychotherapieverfahren gelten sollte oder ob es sich nur um ein spezifisches Setting handelt. Mittlerweile ist diese Auseinandersetzung – zumindest im deutschsprachigen systemischen Feld – zugunsten des Setting-Argumentes geklärt.
Sieht man von speziellen Anwendungsgebieten in der Jugendhilfe ab (etwa der aufsuchenden Familientherapie), scheint die Arbeit mit dem Familiensetting im Feld der systemischen Therapie aber eher an Boden zu verlieren. Hier konzentrieren sich die Anstrengungen seit Langem auf die kassenrechtliche Zulassung der systemischen Therapie als »Psychologische Psychotherapie«, die im Erfolgsfalle dann eben wie alle anderen sozialrechtlich anerkannten Verfahren nur individuelle »Störungen mit Krankheitswert« behandeln könnte – die Arbeit mit Familien würde dann allenfalls unter die »Einbeziehung von Angehörigen« fallen. In Österreich, wo die systemische Therapie schon lange als solches Verfahren anerkannt ist, kenne ich systemische Psychotherapeuten, die in ihrer Praxis aus pragmatischen Gründen noch nie Familiengespräche geführt haben – zu aufwendig, zu schlecht bezahlt, schwierig zu organisieren. Eine solche Entwicklung ist auch in Deutschland bei einer sozialrechtlichen Anerkennung der systemischen Psychotherapie nicht unwahrscheinlich. Als Gastdozent vieler systemischer Institute mache ich in meinen Workshops zudem die Erfahrung, dass nicht nur die Namen vieler bedeutsamer Pioniere der Familientherapie, sondern auch deren Konzepte vielen Weiterbildungsteilnehmern kaum noch oder gar nicht mehr geläufig sind.
Das alleine sind gute Gründe, die Herausforderung einer umfassenden Darstellung der Familientherapie auf dem Stand des gegenwärtigen theoretischen und klinischen Wissens anzunehmen. Mit Konrad Peter Grossmann hat dieses Vorhaben einen Autor gefunden, der sich nicht nur durch seine langjährige, alle systemischen Settings umfassende Erfahrung und sein umfangreiches theoretisches Wissen auszeichnet, sondern darüber hinaus in der Lage ist, der Leserschaft seine Kenntnisse auf eine einladende und sehr lesbare Weise zu präsentieren.
Dieses Buch bietet nicht nur für Anfänger oder Professionelle, die mit der historischen Entwicklung der Familientherapie nicht vertraut sind, einen ausgezeichneten – und darüber hinaus gründlichen Überblick über diagnostische Einordnungen, therapeutische Interventionen und interaktionelle Zusammenhänge bei Familienproblemen; als erfahrener Praktiker habe auch ich sowohl in seinen Überlegungen zur Familiendynamik als auch zur praktischen Vorgehensweise immer wieder interessante Akzente und neue Aspekte entdecken können. Ausgehend von seiner eigenen familientherapeutischen Praxis steht für Konrad Peter Grossmann in erster Linie die Arbeit mit Jugendlichen bzw. älteren Kindern im Fokus – das wichtigste therapeutische Medium ist hier das Gespräch mit allen Beteiligten –, in Abgrenzung z. B. zur Arbeit mit jüngeren Kindern und ihren Familien, bei denen nichtverbale und spielerische Elemente einen größeren Platz einnehmen.
In der familientherapeutischen Praxis gibt es viele praktische und methodische Dinge zu bedenken (Kontext- und Auftragsklärung, Motivation, Kontraktentwicklung, Setting, Interventionen usw.), auf die Grossmann sehr ausführlich eingeht, ohne dass sein Buch dadurch in die Gefahr gerät, zu einer bloßen Methodensammlung zu werden. Alle Reflexionen zur Behandlungstechnik und zur therapeutischen Haltung sind in eine klinische Praxeologie eingebettet, die auch Therapeuten, die mit der Arbeit mit Mehrpersonensystemen nicht sehr vertraut sind oder sogar davor zurückschrecken, gut unterstützen können.
Die ausführlichen Fallbeispiele sind plausibel und gut erzählt, sie dienen nicht nur als Illustrationen, sondern gewinnen durch die Art ihrer Darstellung einen eigenen Wert. Was Konrad Peter Grossmann als Vertreter des narrativen Ansatzes über Therapeuten generell schreibt, gilt auch für ihn als Autor: »Welche Variablen und welche Zusammenhänge zwischen [Theorien und Erfahrung] sie im Kontext ihres Fallverstehens fokussieren, welche sie als bedeutsam gewichten, welche sie marginalisieren oder unbeachtet lassen, ist immer durch ihren Standort als Erzähler mitbedingt und -selektiert. So betrachtet sind klinische Theorien immer Ausdruck eines therapeutischen Story-Making, Ausdruck theoretischer und epistemologischer (Vor-) Annahmen, Ausdruck des Erfahrungswissens und Ausdruck von Entscheidungen, die Therapeuten als Erzähler treffen.«
Daraus resultiert, dass leidvolle Erfahrungen in Familien aus ganz unterschiedlichen Perspektiven empathisch beschrieben werden können, die jeweils unterschiedliche Akzente im Fallverständnis setzen. Die Kapitel über kontextfokussiertes, entwicklungsfokussiertes oder bewältigungsfokussiertes Fallverstehen stellen keine Alternativen dar, zwischen denen man sich zu entscheiden hätte, sondern bahnen vielmehr einem »verschränkten Fallverständnis« den Weg, das die verschiedenen Beschreibungsebenen miteinander in Beziehung setzt.
Ein solches Fallverständnis ist eine der vielen Stärken dieses Buches, die auf jeder Seite spürbar ist. Grossmanns Fähigkeit als Erzähler, die Geduld, Einfühlungsvermögen und Genauigkeit mit großer Stilsicherheit vereint, kommt der Lektüre dieses komplexen und detailreichen Bandes sehr zugute.
Für sich selbst nimmt der Autor die Position eines »bescheidenen Experten« ein: »Bescheidenes Expertentum geht davon aus, dass sich therapeutisches Handeln nicht allein aus einer konstruktivistischen/ konstruktionistischen Erkenntnistheorie ableiten lässt. Familientherapie bedarf einer klinischen Theorie, die ein missing link zwischen Epistemologie und therapeutischem Tun überbrückt«.
Familientherapie, wie ich sie Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre kennengelernt habe, beruhte überwiegend auf Konzepten, die man heute als »Kybernetik erster Ordnung« beschreiben würde. Die Interventionspraktiken, die damit verbunden waren, waren nicht selten mit einer Expertenposition verknüpft, bei der die Therapeuten die »schmutzigen Spiele« problematischer Familien aufdecken, stören und unterbrechen wollten. Die Entwicklung der 1980er Jahre mit der konstruktivistischen Wende zur »Kybernetik zweiter Ordnung« hat ein neues Licht auf die Interaktion zwischen Therapeuten und Familien geworfen, das auch die Arbeit von Grossmann erhellt.
Gleichwohl sind die Erfahrungen jener Zeit in diesem Band im doppelten Sinne des Wortes gut aufgehoben: Sie bleiben bewahrt, ohne entwertet zu werden, auch wenn sie für die heutige Praxis und das heutige Therapieverständnis keine Gültigkeit mehr in Anspruch nehmen können.
Auch wenn die systemische Therapie sich seit Langem als eigenständiges Therapieverfahren in allen möglichen Settings und Kontexten bewährt hat, würde ich mir wünschen, dass systemisch interessierte Therapeuten in unterschiedlichsten Arbeitszusammenhängen wieder mehr Anstrengungen unternehmen, mit der ganzen Familie zu arbeiten. Das ist oft mühsam und nicht immer in den Organisationsalltag von klinischen oder sozialen Einrichtungen unterzubringen, was den familientherapeutischen Enthusiasmus der frühen Jahre sicherlich gebremst hat. Dieses Buch kann einen Beitrag dazu leisten, dass die familientherapeutische Perspektive, die ja den Ursprung des systemischen Feldes verkörpert, in diesem wieder stärkere Berücksichtigung erfährt.
Über den Autor:
Konrad Peter Grossmann, Dr. phil., Studium der Psychologie; 2005 Habilitation an der Universität Klagenfurt; psychotherapeutische Tätigkeit in freier Praxis und im Rahmen der Ambulanten Systemischen Therapie (AST), Wien (Einzel-, Paar- und Familientherapie); Lehrtätigkeit an der Lehranstalt für systemische Familientherapie, an der Universität Klagenfurt und der Fachhochschule für Soziale Arbeit, Linz.Veröffentlichungen u. a.: Langsame Paartherapie (2012), Psychotherapie mit Männern (2016).