Silja Matthiesen, Jahrgang 1968, ist Soziologin und Forschungsleiterin am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf sowie Leiterin der sexualpädagogischen Abteilung von pro familia Hamburg. Darüber hinaus ist sie Mitherausgeberin und Redakteurin der Zeitschrift für Sexualforschung. In ihrer Promotion hat sie sich mit der Veränderung von Beziehungsbiografien und damit einhergehend natürlich auch mit der Veränderung der Sexualität in einer empirischen Untersuchung beschäftigt, die sich auf Interviews von Angehörigen der Geburtsjahrgänge 1942, 1957 und 1972 stützte. Neben standardisierten Interviews verwandte sie auch qualitative Interviews und stellt in ihrem Buch, das 2007 im Pychosozial-Verlag erschienen ist, der Auswertung der Daten sehr lesenswerte soziologische Betrachtungen zur Seite. Ziel ihrer Arbeit ist die Integration sexualwissenschaftlicher und familiensoziologischer Fragestellungen, Betrachtung und Vergleich der Partnerschaftsbiografien dreier Generationen im Längsschnitt und die Erweiterung des auf die Ehe eingeengten Fokus familiensoziologischer Arbeiten. Hans Schindler hat den Band rezensiert:
Hans Schindler, Bremen:
Auf den ersten 130 Seiten stellt die Autorin verschiedene Überlegungen zu den Veränderungen des Lebens in der Spätmoderne zusammen. Eine wichtige Quelle ist ihr dabei der englische Soziologe Anthony Giddens. Es geht um den Verlust von verlässlichen Traditionen und äußeren Referenzpunkten. Folgen sind Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten, auch was das Sexualleben betrifft. Das führt zu einer Pluralisierung von Lebensformen und Lebensverläufen, womit die Sexualität verschränkt ist.
Durchgeführt und ausgewertet wurden 776 standardisierte Interviews mit Männern und Frauen aus den drei Geburtsjahren 1942, 1957 und 1972 aus Hamburg und Leipzig. Außerdem wurden 12 Intensivinterviews mit Menschen aus der Geburtsgruppe 1942 ausgewertet. Aus der großen Vielfalt von Ergebnissen können hier nur einige wenige referiert und am Ende die acht Schlussfolgerungen der Autorin zitiert werden.
Erhoben wurde retrospektiv der unterschiedliche Beziehungsstatus über das gesamte Erwachsenenleben und in vier Kategorien unterteilt: Ehe, nichteheliche Lebensgemeinschaft, Living-apart-together und Single. Mittels Clusteranalysen ergaben sich für die drei Generationen jeweils vier Biografietypen. Im Vergleich über die Generationen zeigt sich eine deutliche Abnahme der ehedominierten hin zu einer Zunahme von „wechselnden Nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften mit Singlephasen“, was auch zu einer deutlichen Zunahme an Sexualpartnern führt. „Immer mehr Menschen leben vor der Ehe, nach der Ehe und anstatt der Ehe längerfristig in nicht konventionellen Beziehungsformen“ (S. 205). Diese Veränderung zeigt sich in Abhängigkeit vom Bildungsstand und in Hamburg stärker als in Leipzig. Auch im Sexualverhalten zeigt sich eine deutliche Pluralisierung. Das bezieht sich jedoch höchst selten auf außergewöhnliche Sexualpraktiken, wie uns die Boulevardpresse gern glauben machen möchte, sondern z. B. auf die Tatsache, dass Masturbation über alle drei Generationen hinweg immer stärker als eigene Sexualität neben oder statt der Partnersexualität angesehen und praktiziert wird.
Die Bedeutung der Treue ändert sich, wenn das Leben statt in Dauerbeziehung eher in einer Serien von unterschiedlichen Beziehungen gelebt wird. Die Autorin fast ihre Untersuchungsergebnisse in insgesamt acht Thesen zusammen:
- Vielfalt entsteht durch die Vielfalt von Bedeutungen.
- Von der Solidarität mit Anderen zur Solidarität mit sich selbst.
- Diskontinuierliche Partnerschaftsbiografien entstehen nicht aufgrund der Pluralisierung sexueller Verhaltensoptionen.
- Serialität und Diskontinuität sind die herausragenden Merkmale der Partnerschaftsbiografien im jungen Erwachsenenalter.
- Der Trend geht nicht zur Singlegesellschaft, sondern zum Fluktuationssingle.
- Neue Normalität: Beziehungsqualität wird wichtiger als Dauerhaftigkeit und Stabilität.
- Spätmoderne Partnerschaftsbiografien durchlaufen drei Phasen: Im jungen Erwachsenenalter dominiert das Ideal der seriellen „reinen Beziehung“; im mittleren Erwachsenenalter und mit dem Übergang zur Elternschaft werden vermehrt Ehen (oder eheähnliche private Lebensarrangements) geschlossen; im hohen Erwachsenenalter verändert sich die Binnenlogik von Beziehungen noch einmal, sie orientiert sich erneut am Ideal der „reinen Beziehung“.
- Geschlechtergleichheit ist unter den gegenwärtigen Bedingungen vor allem in der Phase des jungen Erwachsenenalters realisiert.
Über diese Aussagen hinaus finden sich in diesem Buch für all jene, die beraterisch oder therapeutisch mit Familien und Paaren arbeiten, wichtige Anregungen, über ihr Klientel neu nachzudenken.
Eine ausführliche Rezension von Renate Ruhne für die Zeitschrift für Sexualforschung vom Dezember 2009
Silja Matthiesen: Wandel von Liebesbeziehungen und Sexualität. Empirische und theoretische Analysen. Psychosozial-Verlag, Gießen 2007
Buchreihe: Beiträge zur Sexualforschung.
344 Seiten, Broschur, 148 x 210 mm
ISBN-13: 978-3-8980-6578-8
Preis: 32,90 €
Verlagsinformation
Seitdem die Ehe das Monopol verloren hat, Sexualität zu rechtfertigen und Beziehungen und Familien zu definieren, hat sich die soziale Organisation von Ehe, Familie und Elternschaft im Lebenslauf verändert. Wie schlägt sich die hohe Bedeutung, die der Sexualität heute zugesprochen wird, in der individuellen Gestaltung von Partnerschaftsbiografien nieder? Welche Rolle spielt Sexualität für Paare und Familienbeziehungen und wie verändert sich diese Rolle im Laufe der Lebensgeschichte? Die Studie verbindet sexualwissenschaftliche und familiensoziologische Fragestellungen. In ihrem Zentrum steht die Längsschnittbetrachtung von Partnerschaftsbiografien. Mit dem Verfahren der »Optimal-Matching-Analyse« werden 776 Partnerschaftsbiografien 30-, 45- und 60-jähriger Männer und Frauen beschrieben, analysiert und verglichen. Qualitative Interviews mit älteren Paaren (60-Jährige) explorieren den Stellenwert der Sexualität in lebenslangen Beziehungen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Beziehungen und Sexualität in Zeiten von Individualisierung und Globalisierung
2.1 Wandel der Biografie
2.1.1 Die Biografie als reflexives Projekt der Spätmoderne
2.1.2 Wahl- oder Bastelbiografie? Reichweite und Grenzen individualisierungstheoretischer Konzepte
2.1.3 Biografie und Geschlecht– Überwindung der halbierten Moderne oder doppelte Vergesellschaftung?
2.1.4 Von der Normalbiografie zum biografischen Beziehungspluralismus?
2.2 Wandel der Sexualität
2.2.1 Sexualität als soziale Konstruktion: Zur Theorie sexueller Skripte
2.2.2 Von der Fortpflanzung zur Lust – sexuelle Liberalisierung
2.2.3 Sexuelle Selbstbestimmung und »Equal Rights«
2.2.4 Die neosexuelle Revolution
2.2.5 Entdramatisierung und Relativierung der Heterosexualität
2.3 Wandel der Intimität
2.3.1 Bedeutungen der Sexualität für Beziehungen – eine sozialhistorische Einführung
2.3.2 Eine zeitgeschichtliche Betrachtung des Ideals der romantischen Liebe
2.3.3 Von der Ehe zur »reinen Beziehung«
2.3.4 Von der Familie zum Paar
2.3.5 Von der Ehekultur zur Scheidungskultur
2.4 Wandel der privaten Lebensformen
2.4.1 Das Ende der Normalfamilie oder die Rückkehr der Normalität der Vielfalt?
2.4.2 Die Pluralisierung der privaten Lebensformen – empirische Ergebnisse
2.4.3 Elternschaft unter Individualisierungsbedingungen
2.4.4 Theoretische Erklärungsansätze
3 Daten und Methodik
3.1 Methodologische Vorbemerkung – die Integration quantitativer und qualitativer Daten
3.1.1 Phasenablauf der Untersuchung
3.2 Die quantitative Interviewstudie
3.2.1 Durchführung der Studie
3.2.2 Der Verweigererfehler
3.2.3 Besonderheiten der Erhebung
3.3 Das Verfahren der Optimal-Matching-Analysis
3.4 Die qualitativen Paarinterviews
3.4.1 Durchführung der Paarinterviews
3.4.2 Kurzvorstellung der Interviewpartner/innen
3.4.3 Auswertung der qualitativen Daten
4 Partnerschaftsbiografien im sozialen Wandel – eine empirische Längsschnittanalyse
4.1 Drei Generationen im Porträt
4.1.1 Überblick
4.1.2 Die vorliberale Generation – Kontinuität und Umbruch
4.1.3 Die Generation der sexuellen Revolution– Kettenbiografien und nichtkonventionelle Lebensformen
4.1.4 Die Generation der »Gender Equalization« – Seriellität und hohe Beziehungsfluktuation
4.2 Veränderungen des Beziehungsverhaltens – Partnerschaftsbiografien im Generationenvergleich
4.2.1 Überblick
4.2.2 Partnerschaftsbiografien im jungen Erwachsenenalter
4.2.3 Partnerschaftsbiografien im mittleren Erwachsenenalter
4.3 Exkurs I: Der Beginn dauerhafter Beziehungen Anfang der 60er Jahre
4.3.1 Moderne Märchenerzählungen
4.3.2 Die Internalisierung des Normallebensverlaufs
4.3.3 Die Bedeutung der Sexualität für das Zustandekommen kontinuierlich-ehelicher Partnerschaftsbiografien
5 Sexualität und Beziehungen in der Spätmoderne
5.1 Zur sozialen Organisation der Sexualität in drei Generationen
5.1.1 Erste sexuelle Erfahrungen
5.1.2 Hält Sexualität Beziehungen zusammen?
5.1.3 Pluralisierung des Sexualverhaltens
5.1.4 Offene Beziehungen, neue Treue oder serielle Monogamie?
5.2 Exkurs II: Veränderungen der Paarsexualität im Lebensverlauf
5.2.1 Sexualität hat eine untergeordnete Bedeutung (2 Paare)
»Das finde ich entsetzlich«
5.2.2 Das sexuelle Bündnis im Kern der Beziehung (4 Paare)
»Er wärmt mir von Anfang an immer erst das Bett an«
5.2.3 Krise und Neuanfang (2 Paare)
»Seitdem ist unsere Beziehung voller sexueller Freude«
6 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
6.1 Zur Einordnung der Ergebnisse
6.2 Die Ergebnisse in acht Thesen
Über die Autorin
Dr. phil. Silja Matthiesen, Forschungsleiterin Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universität Hamburg. Sie leitet die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) geförderte Interviewstudie „Sexuelle und soziale Beziehungen von Studentinnen und Studenten“. Sie ist Mitherausgeberin und Redakteurin der Zeitschrift für Sexualforschung. Gerade erschien von ihr das Buch „Jugendsexualität im Internetzeitalter“ (2013), das den Umgang von Jugendlichen mit den sexuellen Möglichkeiten und Angeboten des Internets erforscht. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind das Sexualverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Jugendschwangerschaften, sexualwissenschaftliche Geschlechterforschung und Familiensoziologie. Darüber hinaus leitet sie die sexualpädagogische Abteilung der pro familia Hamburg.