Ein nicht unwesentlicher Aspekt der systemisch-konstruktivistischen Kritik an psychoanalytischen Ansätzen galt schon immer der Deutung im therapeutischen Gespräch. Mit einer Deutung wird das Handeln einer anderen Person in dem Sinne deutet, dass dieser Gründe und Motive für ihr Handeln zugerechnet werden, die die gemeinte Person selbst nicht geltend gemacht hat – oder sogar abstreitet. Wird die Deutung in der Psychoanalyse mit einem Wahrheitsanspruch oder mit überlegenem Experten-Zugriff auf die„eigentliche“ Wirklichkeit ausgestattet, wie es durchaus bei einigen psychoanalytischen Autorinnen und Autoren den Anschein hat, liegt es auf der Hand, damit nicht übereinstimmende andere Wahrnehmungen, Selbsterleben der Klienten etc. als Widerstand gegen die Aufdeckung der eigenen wahren Motive zu verstehen. Mit einer solchen Perspektive kann sich dann der Therapeut gegen die interaktive Zumutung unterschiedlicher Wahrnehmungen immunisieren.„Einer Person Beweggründe zuzuschreiben, die von ihr nicht geteilt werden, bedeutet aber nicht nur, die Ebene der Intersubjektivität zu verlassen und die Person als Objekt zu behandeln, sondern heißt darüber hinaus, in Anspruch zu nehmen, die Beweggründe der Person besser zu kennen als diese selbst“. Nun sind Deutungen aber ja nicht nur eine therapeutische Technik, sondern ein Alltagsphänomen, das immer dann zu finden ist, wenn Verhalten von Menschen von anderen Menschen erklärt bzw. diesen Motive zugeschrieben werden, die sie selbst nicht in Anschlag bringen. In einem sehr lesenswerten Artikel hat Ulrich Streeck (Foto: www.streeck.net), Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie und für psychosomatische Medizin und Psychoanalytiker in Göttingen, der von 1985 bis 2011 Ärztlicher Direktor der Klinik Tiefenbrunn war, sich dem Thema Deutungen im sozialen Alltag und in Psychotherapie auseinandergesetzt:„Dass Deutungen im Sinne der Fremdzuschreibung von nicht geteilten Beweggründen im sozialen Alltag häufig als Angriffe und Übergriffe behandelt werden, kann auch Deutungen, die in therapeutischen Kontexten eingesetzt werden, in einem neuen Licht erscheinen lassen. Mutmaßungen über und Zuschreibungen von Motiven, die von der Person, an die sie adressiert sind, nicht ohne Weiteres geteilt werden, sind keine Erfindungen der Psychoanalyse; sie gehören zur Alltagskommunikation. Wie jeder kommunikative Austausch gründet auch das Gespräch, in dem die psychoanalytische Behandlung besteht (
), in alltagssprachlicher Verständigung. Weil wir uns im Alltag wechselseitig Zurechnungsfähigkeit zubilligen müssen, wenn wir uns verständigen wollen, geraten Deutungen hier so leicht zu Attacken: der gemeinten Person wird ihre Zurechnungsfähigkeit momentan bestritten. Das macht verständlich, warum es besonderer Vorkehrungen bedarf, damit Psychoanalytiker in Behandlungen von Deutungen Gebrauch machen können, ohne Gefahr zu laufen, dass der Patient die therapeutischen Interventionen als illegitime Übergriffe von sich weist oder nicht weniger bedenklich sich ihnen als autoritativen Sinnzuschreibungen des Analytikers schweigend unterwirft“ Nun sind Deutungen als Interaktionsangebote nicht nur in der Form von Behauptungen o.ä. vorfindbar, sondern stecken natürlich auch implizit in vielen Fragen oder indirekten Formulierungen. Auch systemische Therapeuten sind vor Deutungen nicht gefeit, da ihre Wirklichkeitskonstruktionen und Annahmen über das Beschaffensein von Problemen und Lösungen in ihre Fragen, Kommentare etc. eingehen. Der Umgang mit Deutungen als kommunikativem Format erfordert in dieser Hinsicht immer ein Einverständnis darüber, wie in der Therapie über eigene Annahmen, Vorstellungen, Phantasien etc. kommuniziert werden kann, ohne dass das als Übergriff erlebt wird:„Manchmal stellen unerfahrene Therapeuten Mutmaßungen über vermeintlich unbewusstes Erleben eines Patienten an, noch ehe sie mit dem Patienten eine Übereinkunft darüber erzielt haben, wie der therapeutische Dialog geführt werden soll, wie der Psychoanalytiker am therapeutischen Gespräch teilzunehmen beabsichtigt und welche Rolle dabei Äußerungen spielen sollen, die dem Patienten selbst vermeintlich nicht zugängliche Gründe seines Handelns benennen. Noch in einer der ersten Stunden des Zusammentreffens und noch bevor der Patient ausreichend darauf vorbereitet ist, wie das therapeutische Gespräch abgewickelt werden soll, deuten sie dessen Verhalten auf dem Patienten vermeintlich nicht zugängliche Beweggründe hin, und an dem Umgang mit dieser Deutung soll sich dann erweisen, ob und wie der Patient in der Lage ist, von Deutungen Gebrauch zu machen. Reagiert der Patient aversiv, wird das unter Umständen statt als Beleg für die Unangemessenheit und Aggressivität der interpretierenden Äußerung des Therapeuten zu diesem Zeitpunkt als Hinweis auf die vermeintlich eingeschränkten selbstreflexiven Fähigkeiten des Patienten behandelt“
Der Aufsatz von Ulrich Streeck ist in der Zeitschrift„Psychotherapie & Sozialwissenschaft“ 1/2011 erschienen und in der Systemischen Bibliothek des systemagazin mit freundlicher Erlaubnis des Autors und des Psychosozial-Verlages, in dem die Zeitschrift erscheint, nachzulesen.
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Über Deutungen in Alltagsgesprächen
21. Oktober 2012 | Keine Kommentare