Im Mai 2015 richtete das Wieslocher Institut für Systemische Lösungen (WISL) die Jahrestagung der Systemischen Gesellschaft mit einem Blick über den Tellerrand systemischer Theorie und Praxis hinaus aus. Im aktuellen Heft des Kontext sind die Hauptvorträge von Arist von Schlippe, Thomas Fuchs, Ralf Vogel und Diana Drexler nun nachzulesen. Was die Leserschaft inhaltlich erwartet, lässt sich mit einem Auszug aus dem Editorial gut beantworten:
„Arist von Schlippe unternimmt in seinem Vortrag eine Standortbestimmung systemischer Praxis. Sowohl die Vielfalt der Arbeitsfelder als auch die Komplexität nur schwer durchschaubarer Regeln in der systemischen Landschaft nahm er zum Anlass, auch einen historischen Bezug zur Entstehungsgeschichte systemischer Begriffe herzustellen.
Die Erfahrung von Komplexität in unserem Leben und das Bedürfnis nach Komplexitätsreduktion erzeugt Entscheidungsdruck und gleichzeitig die Fähigkeit anzuerkennen, dass alles auch anders sein könnte. In der Auseinandersetzung um die Frage von Diagnosen, die zur Komplexitätsreduktion beitragen, wird das Bedürfnis nach Vielschichtigkeit erst recht ein menschliches Bedürfnis. In systemischer Praxis erleben Berater und Therapeuten eine erhebliche Paradoxienintensität, die unvermeidbar ist. Diese ohne voreilige Lösungsideen zu beheben könnte als Merkmal und eine bedeutsame Qualität Systemischen Arbeiten sein. Hier nahm Arist von Schlippe auch Bezug auf Kontroversen innerhalb der systemischen Verbände.
Die teils unklaren Prämissen in Bezug auf die Frage, was systemisch sei und was nicht, führen immer wieder zu Diskussionen über methodische Spezialisierungen einzelner Institute. Erstaunlicherweise haben diese Konflikte, dank der Fähigkeit mit Prozessen selbstreflexiv umzugehen, nicht zu Ausgrenzungen einzelner Personen oder Ideen geführt.
Über das Verhältnis von Psyche und Gehirn sprach Thomas Fuchs in seinem Vortrag mit der Überschrift »Wofür brauchen Berater und Psychotherapeutinnen die Neurobiologie?« Sein begründet kritischer Blick auf die dominante Entwicklung der Hirnforschung und deren Auswirkungen auf Psychotherapie ist lesenswert und macht fit für Gegenargumente.
Die Zunahme einer Pathologisierung bestimmter Verhaltens- und Denkmuster geht einher mit der Medikalisierung in Psychiatrie und dem Vormarsch der Hirnforschung im Sinne der Pharmaindustrie. Thomas Fuchs zeigt allerdings auch wertvolle Alternativen für die Erklärungen psychischer Probleme auf, die eher in ihren kontextuellen Bezügen und auf Grund des Bedürfnisses individueller Selbstbestimmtheit entstehen und zu verstehen sind. Seine Vorschläge fordern eine Besinnung auf die geisteswissenschaftlichen Grundlagen der Psychologie. Subjektivität und Intersubjektivität bleiben die wesentlichen Grundlagen in der Frage der Diagnostik.
Ralf Vogel hielt einen Vortrag über existenzielle Themen in Beratung und Therapie, in dem er kritisch beleuchtet, dass diese Themen von den kassenrechtlich geregelten Psychotherapien nicht aufgegriffen werden. Auch er ging in seinem Vortrag auf die Auswirkungen der momentan herrschenden wissenschaftlichen Fundierung von Diagnosen ein.
Wenn existenzielle Themen wie Tod, Trauer, Verlust von sozialen, kulturellen oder finanziellen Möglichkeiten zur Pathologisierung einzelner Menschen führen, wird damit negiert, dass schicksalhafte Erfahrungen unumstößlich bleiben. Psychologie müsste sich somit mehr besinnen, dass ihr Ursprung in der Philosophie liegt und diese sich immer mit existenziellen Themen auseinander gesetzt hat.
Alleinsein, Fremdheit, Sterblichkeit etc. und unser aller Umgang mit diesen Themen werden durch wissenschaftliche Erklärungen entmenschlicht. Sein Plädoyer ist, dass Psychotherapeuten sich im Zusammenhang mit existenziellen Themen die »Urmutter« der Psychologie, die Philosophie, wieder mehr aneignen und sie stärker berücksichtigen sollten.
»Ressourcenorientierung, Chancen und Risiken« waren die Themen von Diana Drexlers Vortrag. Konzepte der Ressourcenorientierung und Resilienz sollten kritisch untersucht werden, gerade in einer Zeit, in der sie aus ganz an- deren Interessen, auch finanziellen und wirtschaftlichen Gründen, inflationär gebraucht werden. So sinnvoll sie in systemischer Hinsicht erscheinen, sind sie doch auch dazu da, bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen zu verschleiern. Sie dienen einer wachsenden maximalen Ausbeutung von Leistungsanforderun- gen bei immer mehr Sparkursen in Institutionen wie in der Psychiatrie. Auch in diesem Vortrag wurde betont, dass in Bezug auf die Umwelten von Klienten eine Ressourcenorientierung gar zynisch klingen kann, wenn diese in Form sozialer, finanzieller, materieller oder gesundheitlicher Sicht nicht vorhanden sind. Menschliches Elend darf also nicht nur auf individuelle Probleme reduziert werden.
Die Psychologisierung von sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichheit und die Ausgrenzung der Schwächsten in unserer Gesellschaft hat eine weitreichende Dimension. Die Frage stellt sich auch hier, inwiefern Psychotherapeuten Einfluss auf diese Art der Entwicklung in unserer Gesellschaft nehmen können. Mit der wissenschaftlichen Anerkennung wächst die Gefahr, dass Psychotherapeuten auf eine gesellschaftspolitisch ferne Insel verbannt werden.“
Das sehr lesenswerte Heft wird abgerundet durch einen Tagungsbericht zu dieser Tagung von Ulrike Kadar und einer Vielzahl von Rezensionen. Das Inhaltsverzeichnis mit allen abstracts finden Sie hier…