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Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern

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Gahleitner et al. (Hrsg.) (2014): Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern

Gahleitner et al. (Hrsg.) (2014): Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern

„Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern“, unter diesem Titel haben Silke Birgitta Gahleitner, Thomas Hensel, Martin Baierl, Martin Kühn & Marc Schmid 2014 bei Vandenhoeck & Ruprecht als Herausgeber ein „Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik“  veröffentlicht. Irmgard Neß hat es rezensiert und urteilt: „Das Buch ist ein sehr informatives praxisorientiertes Werk zu Voraussetzungen und Einsatzmöglichkeiten der Traumapädagogik, gibt Anregungen, macht Mut und ermutigt dazu, sich in der täglichen Arbeit an diesen Bereich heranzutrauen.“ Lesen Sie ihre Buchbesprechung…

Irmgard Neß, Lüdenscheid:

In diesem Buch haben sich eine ganze Reihe von Expert/-innen unterschiedlicher Professionen und Handlungsfelder aus der Praxis in einem äußerst lebhaften Dialog zusammengefunden zu der Frage: »Was die unterschiedlichen biopsychosozialen Hilfesysteme benötigen, um den spezifischen Bedürfnissen von traumatisierten Kindern effektiver begegnen zu können« (S. 11). Die Hoffnung der Herausgeber ist, dass möglichst viele Praktiker für Traumata und deren Auswirkungen sensibilisiert, gleichzeitig aber auch angeregt werden, auf Nachbardisziplinen zu schauen und von diesen zu lernen.

Neben der Vermittlung psychotraumatologischen Wissens für den pädagogischen Alltag werden methodische Überlegungen angestellt und gezielt im Alltag einsetzbare Handlungsmöglichkeiten beschrieben. Es wird die pädagogische Triade der Traumapädagogik: Klient/Mitarbeiter/Institution in den Blick genommen. Wichtig ist nicht nur das Erkennen von Traumatisierungen und deren Auswirkungen, der Umgang mit diesen und dem was traumatisierte Kinder und Jugendliche brauchen (traumapädagogische Intervention mit ihrem dreischrittigen Stufenmodell : Sicherheit herstellen, Trauma- und Problembewältigung unterstützen, Integration in den Lebensalltag – »sicherer Ort«), sondern auch die Mitarbeiter, ihren Schutz und (Selbst-)Fürsorge davor, selbst in den Strudel der Traumatisierung zu gelangen, und nicht zuletzt die Fürsorge und das Ergreifen von Schutzmechanismen von Seiten der Organisation für ihre Mitarbeiter: Zusatzqualifikationen und ein ausreichend ausgestattetes organisatorisches und strukturelles Umfeld.

Durchgängig wird sehr deutlich benannt, dass die praktische Arbeit mit traumatisierten Menschen, die aufgrund ihrer Komplexität und Prozesshaftigkeit schwer zu erfassen ist, jeweils in interprofessioneller enger Kooperation erfolgen soll, und zwar nicht nur im Falle einer Gefährdung. Transparenz über Informationsweitergabe und Inhalte, Gespräche am runden Tisch, Kontakte zwischen pädagogischen und therapeutischen Kollegen, Information an Sorgeberechtigte und Betroffene, gemeinsame Fallbesprechungen sind unumgänglich um das Ziel traumapädagogischen Handelns: »den zerstörten Dialog mit dem Klienten wiederherzustellen, um individuelle soziale und gesell- schaftliche Teilhabe zu ermöglichen und die traumatischen Lebensereignisse besser bewältigen zu können« (S. 22/23), zu erreichen.

Zunächst werden der Begriff der Traumapädagogik, ihre Wurzeln und ihr Ziel, als noch junge Fachrichtung, entstanden als praxisorientierter Ansatz an der Schnittstelle zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie/-Psychotherapie und Jugendhilfe erläutert. Traumapädagogik sieht Traumatisierung als »gekennzeichnet durch die Destruktion des funktionalen Dialogs mit sich selbst, der Umwelt und nicht zuletzt mit dem Leben an sich« (S. 22/23) an.

Mit Blick auf die pädagogische Triade der Traumapädagogik werden Qualitätsmerkmale für die Ausgestaltung von Angeboten bezogen auf die traumaspezifischen Bedarfe von Klienten, die Mitarbeiter (traumaspezifisches Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Haltung gegenüber den Adressaten, Sicherheit und Selbstschutzmechanismen) und die Organisation (Struktur- und Prozessmerkmale) in verschiedenen Arbeitsfeldern erläutert.

Der dritte Buchteil führt zunächst verschiedene Arbeitsfelder und Zielgruppen der Traumapädagogik: Schule, Kinder- und Jugendhilfe, Pflegefamilien, intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung, Familienhilfe und Hilfe für Eltern traumatisierter Jungen und Mädchen, »in eine übergreifende Methodik der traumapädagogischen Diagnostik und Intervention zusammen« (S. 13). Als ein Modell hierzu wird das »diagnostische Fallverstehen« vorgestellt, das »die verschiedenen Aspekte aus der Biografie und Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen sinnverstehend« (S. 13) zusammenträgt. Auf dieser Basis kann dann zielgerichtet interveniert werden. Ebenso wird die transgenerationale Weitergabe von traumatischen Erfahrungen, sowohl die selbsterlittenen als auch die nicht verarbeiteten Erfahrungen vorheriger Generationen, verdeutlicht. Da die Gefahr einer Traumatisierung oder einer Re-Traumatisierung groß ist, ist der Einbezug der Eltern in die Arbeit unerlässlich.

Danach werden die Versorgung potenziell traumatisierter Kinder und Jugendlicher in verschiedenen medizinischen, therapeutischen und forensischen Behandlungseinrichtungen, sowie Aspekte der Kooperation von ambulanter Traumapsychiatrie und -pädagogik dargestellt.

(mit freundlicher Genehmigung aus Kontext 46(1), 2015)

info

 

 Silke Birgitta Gahleitner, Thomas Hensel, Martin Baierl, Martin Kühn &Marc Schmid (Hrsg.): Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern. Ein Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

1. Auflage 2014
296 Seiten mit 11 Abb. und 6 Tab. kartoniert
ISBN 978-3-525-40240-5

Preis: 17,99 €

Verlagsinformation:

Was haben eine aufgeweckte 17-jährige Jugendliche, die im Hilfeplangespräch beim Eintritt ihres Vaters für die nächsten neunzig Minuten erstarrt und verstummt, eine 90-jährige Frau im Altersheim, die beim russischen Akzent des neuen, ihr liebevoll zugewandten Pflegers in Panik gerät, und der sechsjährige Schüler, der bei der Berührung der Lehrerin am Arm zur Erinnerung an seine Hausaufgaben zu schreien und um sich schlagen beginnt, gemeinsam? Bei allen Dreien könnten es traumatische Erfahrungen und fragmentierte Wiedererinnerungen aus der Kindheit sein, die dazu führen, dass sie plötzlich mit heftigen Emotionen und Anspannungszuständen reagieren.
Erkenntnisse der Psychotraumatologie haben in den letzten Jahren Einzug in die Pädagogik gehalten, Konzepte der Sozialen Arbeit und der Pädagogik haben eine psychosoziale Traumatologie hervorgebracht. Psychosoziale Fachkräfte stoßen im Alltag im Umgang mit traumatisierten Mädchen und Jungen jedoch immer wieder an die Grenzen ihrer fachlichen Möglichkeiten. Traumapädagogik versteht sich hier als eine neue Fachrichtung, um psychosoziale Fachkräfte in ihrer Arbeit zu unterstützen und traumatisierten Kindern und Jugendlichen wieder eine adäquate Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen. Das Buch versteht sich als Handbuch für die Praxis in ambulanten und stationären Betreuungssettings, in der Schule, im Kindergarten oder in anderen psychosozialen Hilfesystemen. Es vereint traumapädagogische Grundlagen und informiert differenziert über ganz verschiedene Zielgruppen und sehr unterschiedliche Handlungsfelder.

Inhalt:

Silke Birgitta Gahleitner / Thomas Hensel / Martin Baierl / Martin Kühn / Marc Schmid: Zur Einführung

Grundlagen des neuen Traumaparadigmas

Martin Kühn: Traumapädagogik – von einer Graswurzelbewegung zur Fachdisziplin

Thomas Hensel: Die Psychotraumatologie des Kindes- und Jugendalters

Die pädagogische Triade der Traumapädagogik

Detlev Wiesinger / Wolfgang Huck / Marc Schmid / Ulrike Reddemann: Struktur- und Prozessmerkmale traumapädagogischer Arbeit in der stationären Jugendhilfe

Martin Baierl / Cornelia Götz-Kühne / Thomas Hensel / Birgit Lang / Jochen Strauss: Traumaspezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Martin Baierl: Traumaspezifische Bedarfe von Kindern und Jugendlichen

Arbeitsfelder und Zielgruppen der Traumapädagogik 1: Pädagogik und Soziale Arbeit

Gerald Möhrlein / Eva-Maria Hoffart: Traumapädagogische Konzepte in der Schule

Stefan Blülle / Silke Birgitta Gahleitner: Traumasensibilität in der Kinder- und Jugendhilfe

Marc Schmid / Tania Pérez / Martin Schröder / Yvonne Gassmann: Möglichkeiten der traumasensiblen/-pädagogischen Unterstützung von Pflegefamilien

Martin Baierl: Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) von traumatisierten Kindern und Jugendlichen

Wilma Weiß: Traumasensible Familienhilfe: Ein Beitrag zur Psychosozialen Traumatologie

Martin Baierl: Hilfen für Eltern traumatisierter Jungen und Mädchen

Arbeitsfelder und Zielgruppen der Traumapädagogik 2: Therapeutischer und medizinischer Bereich

Andreas Krüger: Medizinische Versorgung

Marc Schmid / Katharina Purtscher-Penz / Kerstin Stellermann-Strehlow: Traumasensibilität und traumapädagogische Konzepte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie

Célia Steinlin-Danielsson / Marc Schmid: Traumasensibilität und traumapädagogische Haltung in der forensischen Psychiatrie

Silvia Höfer: Vernetzung von ambulanter Traumapsychotherapie und Traumapädagogik 210

Arbeitsfelder und Zielgruppen der Traumapädagogik 3: Menschen mit speziellen Bedarfen

Martin Kühn / Julia Bialek: Traumatisierte Kinder und Jugendliche mit geistigen Behinderungen: Zum Auftrag der Pädagogik

Martin Baierl: Traumapädagogik für Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrung

Traumapädagogische Praxis und Forschung

Silke Birgitta Gahleitner / Ingeborg Andreae de Hair / Dorothea Weinberg / Wilma Weiß: Traumapädagogische Diagnostik und Intervention

Silke Birgitta Gahleitner / Marc Schmid: Traumapädagogische Forschung und Qualitätssicherung

Über die Herausgeber

Dr. phil. Silke Birgitta Gahleitner ist Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin und Univ.-Professorin für Integrative Therapie und Psychosoziale Interventionen an der Donau-Universität Krems.

Thomas Hensel, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Gesprächspsychotherapeut und Ausbilder in personzentrierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie sowie Trainer für EMDR mit Kindern und Jugendlichen (EMDR Europa), ist in eigener Praxis in Offenburg (Baden) tätig.

Martin Baierl, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, verfügt über langjährige Erfahrung in der pädagogischen wie therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Er arbeitet selbstständig als Ausbilder, Berater und Supervisor für Institutionen, die psychisch auffällige Kinder oder Jugendliche betreuen.

Martin Kühn, Diplom-Behindertenpädagoge, systemischer Familientherapeut, Traumapädagoge, ist Bereichsleiter im SOS-Kinderdorf Worpswede und Leiter und Ausbilder des Traumapädagogischen Instituts Norddeutschland (train).

Dr. Marc Schmid, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor, Systemischer Familientherapeut, ist leitender Psychologe und Zentrumsleiter Liaison und Qualitätssicherung (EQUALS) der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.

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2 Kommentare

  1. … kleiner Hinweis: das Buch kostet 29,99 nicht 17,99 🙁
    beste Grüße
    Roland Kubitza

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