Steve Haines ist ein englischer Chiropraktiker und unterrichtet Craniosakral-Therapie auf der ganzen Welt. Sein Schwerpunkt ist die Behandlung von Schmerzen und Traumata. Im Carl-Auer-Verlag sind nun drei originelle Bücher von ihm über Angst, Schmerz und Trauma erschienen, die wissenschaftliche Informationen in Comic-Form aufbereiten und sich insofern auch an ein großes, nicht fachlich vorgebildetes Publikum richten. Lothar Eder hat den Comic „Trauma ist ziemlich strange“ für systemagazin gelesen und empfiehlt die Lektüre nachdrücklich.
Lothar Eder, Mannheim:
Traumata sind wirklich so eine Sache. Es gibt Stimmen, die meinen, es würde in der Psychotherapie viel zu schnell von „Traumatisierung“ gesprochen. Selbst manche Psychotherapie-Gutachter können mit entsprechenden Anträgen nichts anfangen und weisen sie entsprechend zurück. Dem entgegen steht die Meinung, Traumatisierungen würden viel zu häufig nicht erkannt. Oft genug wird die Rolle einer Traumatisierung für ein seelisch belastendes Geschehen für Therapeuten und Betroffene erst im Laufe einer längeren Therapie erkennbar. Sowohl Peter Levine als auch (im deutschsprachigen Raum) Joachim Bauer belegen zudem sehr eindrücklich, dass zahlreiche und schwerwiegende somatische Erkrankungen wie z.B. chronisch entzündliche Prozesse oder Immunkrankheiten v.a. auf sog. Entwicklungstraumata zurückzuführen sind. Traumata sind also nicht nur „besonders“, sie erfordern eine bestimmte Perspektive und entsprechende Kenntnisse bei Behandlern – denn man sieht nach Goethe nur was man kennt. Zur Vermehrung von derlei Kenntnissen trägt das hier besprochene Werk bei.
Auf die Bedeutung der Entwicklungstraumata, auch kumulative Traumata genannt, geht der Autor ausdrücklich ein und darin liegt ein wesentliches Verdienst dieses Bilderbuches (graphic novel). Dazu später mehr. Was aber ist ein Entwicklungs- bzw kumulatives Trauma? Es handelt sich um eine wesentliche Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung, wenn zentrale Bedürfnisse nach Halt, Schutz, Sicherheit und Zuwendung (emotionale Resonanz, Containment) über längere Phasen hinweg nicht erfüllt werden und somit zu einer dauerhaften Stressreaktion beim Kind führen. Diese chronische (sympathikotone, auf Kampf oder Flucht ausgerichtete) Spannung kann das Kind nicht selbst herunterregulieren, dies führt zu Dissoziation und Erstarrungsreaktionen – Körper und Selbst sind in der Wahrnehmung nicht mehr präsent. Derlei Traumata können entstehen z.B. bei Kindern einer depressiven Mutter, von alkoholabhängigen Eltern, bei frühem Verlust einer Nahperson (v.a. der Mutter), Unterbrechung der Symbiose durch Krankenhausaufenthalte, letztlich bei allen Faktoren, welche die Bindungsbedürfnisse des Kindes verletzen (dazu gehört auch frühe Fremdunterbringung, z.B. Fremdbetreuung in einer Kita).
Die Bedeutung von Entwicklungstraumata neben den „klassischen“ Schocktraumata (durch Krieg, massive Gewalt, Vergewaltigung, sexuellen Mißbrauch, Flucht und Vertreibung etc.) herauszustellen gehört wie gesagt zu den großen Verdiensten dieses Bilderbuches. Der Autor fasst dies kurz und prägnant in dem Satz zusammen „ Jegliche Definition einer PTBS muss kumulierte Überforderung berücksichtigen, die sich über einen längeren Zeitraum ansammeln kann. Anhaltendes, frühes Leid kann verheerende Folgen haben“. Dieser Satz sollte in jedem Ausbildungscurriculum für Psychotherapie stehen, er sollte einfließen in den ICD (Kategorie F43.1) und er sollte jedem(r) Psychotherapiegutachter(in) ans Herz gelegt werden.
Das besondere an dem Büchlein ist, dass man sich nicht durch komplizierte Texte kämpfen muss, sondern vielmehr die wesentlichen Zusammenhänge in mit Texten unterlegten Bildern erklärt bekommt. Dem Autor und seiner Grafikerin Sophie Standing gelingt es eindrücklich, zentrale Aspekte von Traumata kurz und anschaulich darzustellen. Anhand typischer Beispiele, gut nachvollziehbar und mit einer gelegentlichen Prise Humor wird typisches posttraumatisches Erleben wie z.B. körperliche Dissoziation und Starre erklärt. Hier gibt es auch nützliche Verweise auf grundlegende hirnphysiologische Zusammenhänge, z.B. die Rolle von Stammhirn und limbischem System. Die neurophysiologischen und -chemischen Zusammenhänge der assoziierten Stressreaktionen (HPA-Achse, Kortisol etc.) werden leider nur als Fußnote erwähnt. Gerade hier könnte ein Bilderbuch seine Stärken einbringen, denn selbst für Mediziner in der Praxis, wenn sie nicht gerade auf derlei Prozesse spezialisiert sind, sind diese Zusammenhänge oft nicht transparent. Vielleicht wäre dies eine Anregung, falls eine überarbeitete Neuauflage Thema werden sollte – ein Bild sagt ja (oft) mehr als tausend Worte.
Dafür werden andere Punkte sehr gut herausgestellt. Das Bild des „Vagus-Superstars“ als Idealtypus für Resilienz und seelische Stärke ist wunderbar einprägsam. Vor allem die subjektiven Erlebensphänomene, die auf Traumata folgen, sind ausführlich und eingängig dargestellt. Ein wesentlicher Punkt des Buches ist die Botschaft, dass Trauma heilbar ist. Wir haben das Potential, auch mit schwerwiegenden und tiefgreifenden seelischen Verletzungen umzugehen, wenn wir sie uns bewußt machen und damit umzugehen lernen. Der Weg dahin, das machen Haines und seine Grafikerin eindrücklich klar, geht über den Körper und das Körpererleben. Zentral ist hier, wie so oft, der Begriff der „Selbstregulation“. Haines geht an dieser Stelle nicht nur auf den Resilienzgedanken ein, er stellt auch ein konkretes, an Steven Porges Polyvagaltheorie orientiertes Übungsmodell („Orientieren – Bewegen – Erden“) vor.
Das Büchlein ist eine erhebliche Bereicherung und eine gute Ergänzung zu den Arbeiten beispielsweise von Peter Levine, Laurence Heller oder Franz Ruppert. Es ist nicht nur für Fachleute geeignet, sondern auch für Betroffene, um einen besseren Einblick in die psychophysiologischen und seelischen Aspekte von Traumata zu gewinnen.
Insofern ist es eine unbedingte Empfehlung.
Steve Haines (2019): Trauma ist ziemlich strange. Illustriert von Sophie Standing. Heidelberg (Carl-Auer)
32 S., kartoniert
ISBN 978-3-8497-0278-6
Preis: 14,95 €
Verlagsinformation:
Was ist ein Trauma? Wie verändert es die Funktionsweise unseres Gehirns? Und wie können wir es bewältigen, es überwinden und wieder ganz werden? Wenn uns etwas Traumatisches passiert, dissoziieren wir und unser Körper schaltet seine normalen Prozesse ab. Diese Graphic Novel erklärt die seltsame Natur des Traumas und wie es das Gehirn durcheinanderbringt und den Körper beeinflusst. Mit klugen Bildern und Metaphern, grundlegenden wissenschaftlichen Fakten und einer gesunden Portion Humor erläutert Steve Haines, wie zur Heilung eines Traumas nicht nur die Psyche, sondern insbesondere auch der Körper mit einbezogen wird. Er zeigt Methoden und Übungen, mit denen Spannungen abgebaut und tiefe muskuläre Stressmuster gelöst werden können.
Über die AutorInnen:
Steve Haines, seit über 25 Jahren im Gesundheitswesen und als Körpertherapeut tätig; Sein wissenschaftliches Verständnis von Trauma, Schmerz und Angststörungen haben seine Herangehensweise an die Heilung maßgeblich verändert und den Körper ins Zentrum gerückt. Ausbildungen in Yoga, Shiatsu, Biodynamische Cranio-Sacral-Therapie und Trauma Releasing Exercises (TRE). Staatlich geprüfter Chiropraktiker in Großbritannien. Leitet Seminare zu TRE und Cranio-Sacral-Therapie auf der ganzen Welt. Therapeutische Anwendung von Körperbewusstsein, sanfte Berührung und die Erläuterung der physiologischen Vorgänge in Gerhirn und Körper. Lebt und arbeitet in London und Genf.
Sophie Standing (Ill.)
Sophie Standing ist Illustratorin und Designerin. Ihr Stil ist reich an Farben, Strukturen und metaphorischen Konzepten.
Ich kann mich der Meinung nur anschließen. Zunächst war ich davon ausgegangen, dass dieses „Bilderbuch“ eine „Einabendlektüre“ wird. Doch in einem Bild steckt oft so viel drin, dass der Denkprozess, den das Buch anregt, länger dauern kann und durchaus auch mal das Weglegen des Buches erfordert. Was mich besonders fasziniert hat, war eine durchweg lösungsorientierte Sichtweise, die das Gefühl fördert, dem Thema nicht hilflos gegenüber zu stehen. Das Buch nimmt dem Thema gleichzeitig den Schrecken und betont seine Bedeutung. Die Herangehensweise über den Körper fördert zudem meines Erachtens das Erleben von Kontrolle. Man hat sozusagen einen „greifbaren“ (im wahrsten Sinne des Wortes) Ansatz.
Weiterhin bewundere ich, wie es dem Autor gelingt, in so kurzen und sparsamen Textpassagen doch das Wesentliche auf verständliche Art rüberzubringen. Ich kann das Buch nur jedem empfehlen, der mit dem Thema zu tun hat.