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The Stages of Life

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Hugh Crago ist ein hierzulande eher weniger bekannter australischer Autor und Therapeut, der im englischsprachigen Raum seit vielen Jahren wichtige Beiträge zum systemischen Diskurs geleistet hat. Sein letztes Buch, das 2016 bei Routledge erschienen ist, spannt einen ganz großen Bogen mit dem Versuch einer Synthese von theoretischen und forschungsbezogenen Erkenntnissen über die menschliche emotionale Entwicklung von der Kindheit bis zum hohen Alter, den damit verbundenen Aspekten und Paradoxien der Persönlichkeitsbildung und der Probleme, die im Zuge dieses Entwicklungsprozesses auftreten können. Wolfgang Loth hat das Buch sehr beeindruckt, seine Rezension lesen Sie hier:

Wolfgang Loth (Niederzissen):

Macht es Sinn, damit anzufangen, dass einem die Lektüre eines Fachbuchs nahe gegangen ist? Was soll das heißen, nach so vielen Jahren des Lesens und Schreibens von Rezensionen? Was hat man vorher verpasst vielleicht, dass einem das jetzt erst so geht? Oder war dieser lange Anlauf notwendig, um ein Buch zu verstehen, dass nichts weniger verspricht als einen Blick auf das Leben von Anfang bis Ende, von Geburt bis zum Tod? Der Untertitel ermöglicht zunächst etwas Abstand – Persönlichkeiten, womöglich Charaktere, emotionale Entwicklung, nun gut. Ein Runzeln – zu welchen Schubladen soll das Denken hier eingeladen werden?! Und Lebensstufen? Lineale Treppe?! Nein, nichts davon! Keine Schublade, keine Linealität, stattdessen ein Kosmos voller tief durchdrungener Erkenntnisse über das menschliche Leben – in all seinen Phasen, auf all seinen Bühnen, der englische Begriff „stages“ passt für beides, wie auch für Stufen. Ich schaue, was geht.

Hugh Crago hat über lange Jahre zusammen mit seiner Frau Maureen Crago das Australian and New Zealand Journal of Family Therapy herausgegeben. Bis vor einigen Jahren hat er an der Western Sydney University gelehrt und ist seit seiner Pensionierung weiter in privater Praxis für Einzelne, Paare und Gruppen tätig. Er ist ein überaus belesener und stilistisch herausragender Autor. Seine Bücher lesen sich (auch in seiner englischen Sprache) leicht trotz ihres inhaltlichen Gewichts (1). Es sind eindeutig Fachbücher, doch Fachbücher in der angelsächsischen Tradition, eher Essays, die sich jedoch nicht assoziierend verlaufen, sondern einem Weg folgen, den sie erzählend, erkundend, belegend entwickeln. Hugh Crago kommt mir dabei vor wie jemand, der einen durch ein Gelände führt, das ihn trotz all der Touren, die er selbst schon durch dieses Gelände gegangen ist, immer noch fasziniert. Seine Sympathie für dieses Gelände wird deutlich, seine Zuwendung – und wenn dieses Gelände auch noch das Leben ist, in all seinen Facetten, Schönheiten und Irrungen wie Wirrungen, dann finde ich das schon als etwas Besonderes.

Beim Lesen stoße ich immer wieder auf Stellen, die das Eigenständige im Denken Hugh Cragos erkennen lassen. Das passt nicht immer zum Mainstream und der Autor akzeptiert den Widerspruch, den er wohl gelegentlich erfahren hat. Dass er klar benennt, wenn er für seine Überlegungen noch keine wissenschaftliche Fundierung finden kann, zeugt von Redlichkeit. Ich dachte beim Lesen gelegentlich, dass ich hier ein Beispiel für ein Denken vor mir habe, das nicht korrumpiert ist, weder von Wunschdenken noch von ängstlicher Sorge und erst recht nicht vom Blick auf eigene Vorteile. Mir scheint, ich habe es hier mit einem originären und originellen Denker und Autor zu tun. Dabei sind es weniger die im Buch ausgemalten inhaltlichen Positionen, die etwas Neues vermittelten. Er greift auf den weiten Fundus zurück, der mittlerweile aus den Bereichen Familientheorie, Familientherapie, Biographiearbeit, Entwicklungspsychologie, Kultur- und Neurowissenschaften vorliegt. Es ist dabei kein systemisches Buch im engeren Sinn entstanden. Das wird allein schon daran deutlich, dass im (vorzüglich informativen) Register bei „systems theory“ auf „family, therapy“ verwiesen wird. Wer sich dem Gedanken anschließen kann, die Literatur unserer Profession auf einer Dimension zwischen den Polen „abstrakt, formal“ und „inhaltlich, bildhaft“ einzuordnen, der wird Cragos Buch eindeutig in der Nähe des inhaltlich-bildhaften Pols einordnen. Das Biographische gewinnt bei Hugh Crago zentrale Bedeutung und erhält dabei einen familien- und psychodynamischen Fokus mit engem Bezug zu neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Dabei entstehen immer wieder Skizzen aus den Biographien von KünstlerInnen, AutorInnen, WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und Militärs, mit denen der Autor seine Überlegungen und Schlussfolgerungen illustriert. Bei aller Vorsicht gegenüber dem argumentativen Bias im Gefolge individuell-biographischer Illustration macht das hier doch mehr her als das Auflockern eines Stoffes, der womöglich ansonsten trocken geblieben wäre. Der Unterschied zwischen Anregen zum Nachdenken und etwas beweisen wollen bleibt erhalten. Crago nimmt seine eigene Biographie bzw. die Entwicklungsgeschichte seiner eigenen Familie dabei nicht aus. In einem anderen Buch hat er sich damit ausführlich auseinandergesetzt (Crago 2019).

Ich habe den Eindruck, dass Hugh Crago hier einen eigenständigen Ansatz vorlegt. Trotz ausgeprägter Bezüge zu Familientherapie, psychoanalytischer Biographiearbeit und zu neurowissenschaftlicher Forschung wird hier nichts einfach nachgebetet. So, wie der Autor den vorliegenden Fundus auswertet und auf dieser Basis das Bild eines Lebenskreises entwirft, die Art, wie er dazu einlädt, die jeweils konstitutionellen und dynamischen Grundlagen zu verstehen, kommt mir dieses Buch als Dokument eines ausgereiften Lebenswerks vor. Mir ging beim Lesen manchmal durch den Kopf, ja, so etwas kann dabei entstehen, wenn sich eine berufliche Wirkungsgeschichte tatsächlich erfüllt. Wenn eine lebenslange Bereitschaft zur Selbsterkenntnis und eine wache und freie Resonanz auf die Menschen um einen herum zu der Fähigkeit verschmelzen, für eine befreiende Orientierung zu sorgen. Dies zeigt sich darin, dass jemand tatsächlich auswählen kann, sich also eine Fülle erarbeitet (und erlebt) hat und beim Auswählen daraus über Kriterien verfügt, die ebenso sorgfältig sind, wie sie generisch wirken. Das führt dann zu Handhabbarkeit ohne beliebiges Anpassen. Die Auswahl, die Hugh Crago in diesem Sinne trifft, erweist sowohl den soziokulturellen als auch den biologischen Grundlagen Reverenz und akzeptiert, dass vieles vorgegeben ist, das nur moderiert werden kann, aber nicht beliebig zurechtgeknetet.

Das Vorgegebene spielt eine wesentliche Rolle in Cragos Argumentation. Das betrifft sowohl die genetische Ausstattung als auch das soziofamiliale Erbe. Dem Autor hat das schon Gegenwind eingebracht. Manche seiner Überlegungen stehen quer zu Wünschen und Ideen, therapeutisch zur tabula rasa vorzustoßen, zur freien Tafel, die dann „wie’s beliebt“ neu gedeckt werden kann. Lösungsorientierung im herkömmlichen Sinn ist nicht Cragos Sache. Er orientiert sich an der Idee, dass sich die genetische Ausstattung und Umweltfaktoren gegenseitig verstärken, wenn nicht gar: in Kraft setzen (S. 126). Das „angeborene“ Temperament (Dünnhäutigkeit vs. Dickfelligkeit) spielt eine ebenso wichtige Rolle wie die erfahrene Förderung (bzw. Nichtförderung) angelegter Kompetenzen, aber auch vorgebahnter Vulnerabilitäten. Ich zögere etwas, doch scheint es mir zu passen, Hugh Crago eine „unnachahmliche“ Art zu attestieren, in der er für jede Lebensphase die entsprechenden Rahmenbedingungen und Dynamik zeichnet und dabei sowohl das Schicksalhafte als auch den Spielraum herausarbeitet, der genutzt werden kann.

Caspar David Friedrich: „Die Lebensstufen“ (1835) – Bild: Wikipedia

Mir wird deutlich, dass ich in dieser Besprechung fast ausschließlich meine eigenen Eindrücke wiedergegeben habe, keine Zusammenfassung von einzelnen Kapiteln, keine Zitate aus dem Text. Vielleicht ist das ein Manko, doch habe ich keine Ahnung, wie ich ein solches Buch anders besprechen könnte. Es ist zwar gegliedert in die einzelnen Lebensphasen, strukturiert durch jeweils zentrale biologische, soziale und gesellschaftliche Themen, doch in seiner Komposition wirkt es wie ein organisches Ganzes. Es ist sicher kein Zufall, dass Hugh Crago immer wieder auf Musik zu sprechen kommt, auf Kunstwerke, auf künstlerischen Ausdruck. Und so erweist sich auch der Titel des Buches als ein Zitat, eine Reverenz an Caspar David Friedrichs Bild „Die Lebensstufen“ (von Crago original zitiert, S. 158). Das geschieht im Kapitel Legacies: midlife to late adulthood („Vermächtnisse: Von der Lebensmitte zum höheren Erwachsenenalter“). In C. D. Friedrichs Bild – ebenso wie in Cragos eigener Darstellung der Stadien und Bühnen des Lebens – wird der Gedanke vertraut, wie das alles ineinandergreift, wie in der Geburt nicht nur der Weg zum Leben, sondern auch schon der zum Tod enthalten ist, und in beiden die (wie auch immer geartete) Transzendenz. Und dazwischen wartet eine immense Fülle von Gelegenheiten, sich für die Unwägbarkeiten, die Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie für den Sinn eines Lebens miteinander zu öffnen. Und wach zu sein für den gesellschaftlichen Kontext, in dem der Lebenstext sich entfaltet. Dass und wie es Hugh Crago gelingt, diese Spannweite ohne Pathos und Sentimentalität, stattdessen mit praktischer Weisheit, Humor und Interesse zu beschreiben, hat mich berührt und bereichert. Ich empfehle die Lektüre und würde mir wünschen, dass dieses Buch übersetzt wird.

Literatur:

Crago H (2014) Entranced by Story. Brain, Tale and Teller, from Infancy to Old Age. Routledge, New York, London
Crago H (2019) All We Need To Know. A Family In Time. Ginninderra Press, Port Adelaide
Crago H, Gardner P (2012) A Safe Place for Change. Skills and Capacities for Counselling and Therapy. IP Communications, East Hawthorne

Anmerkungen:

1) Siehe z. B. Crago 2014 (Rezension 2015 in Z.f. systemische Therapie und Beratung 33(3):135-136), Crago & Gardner 2012 (Rezension 2012 in Systhema 26(2):189-190, online: https://www.systemagazin.de/buecher/neuvorstellungen/ 2012/09/crago_gardner_A-Safe-Place-for-Change.php).

(mit freundlicher Genehmigung aus systeme 34/2, S. 216-219, 2020)

Hugh Crago (2017): The Stages of Life. Personalities and patterns in human emotional development. New York/London: Routledge

200 Seiten
ISBN: 9781138923898
Preis: 24,99 £

Verlagsinformation:

Is personality “in the genes”?

Do our infant experiences matter, even though we can’t remember them?

Why do patterns repeat within the lives of individuals and families?

The Stages of Life provides answers to these and other intriguing questions, and  presents a refreshingly readable introduction to human development from birth to death. The book synthesises those theories and research findings that are most helpful in explaining the paradoxes and complexities of human personality and human problems.

The book provides a thought-provoking discussion of several important topics, including:

  • how personality evolves in response to both genetic and social influences
  • how individuals differ and what this means for them
  • how some problems tend to develop at particular stages of the life course, from early childhood through to midlife and old age. 

Throughout the book, Hugh Crago relates both ‘nature’ and ‘nurture’ to the challenges individuals must face from early childhood through to old age. He draws attention to often-ignored clinical findings about ‘cross generational repetition’ in families, and shows how recent developments in epigenetics may supply an explanation for such mysterious phenomena.

Written without jargon, and full of new and provocative ideas, the book will be of great interest to students of counselling and psychotherapy, and it is also has much to offer the general reader. With its engaging examples from history, literature and the author’s own life, readers will find that The Stages of Life illuminates puzzles in their own lives and opens a road to self-acceptance.

Inhaltsverzeichnis:

Preface
1. The end and the beginning
2.  ‘And not in utter nakedness’: temperament and attachment in infancy
3. aven lies about us in our infancy’: the preschool years 
4.  Widening horizons: pre-school to puberty 
5. Discovering self and sex: adolescence
6. ‘The tide is high’: young adulthood
7.  ‘The maker and the made’: marriage and parenthood
8.  ‘The middle of the journey of our lives’
9. Legacies: mid-life to late adulthood
10. ‘The clouds that gather round the setting sun’;
Further reading; Index

Über den Autor

Hugh Crago war von 1972-79 Dozent für Kommunikation und Literatur an der Riverina C.A.E. (jetzt Charles Sturt University); 1991-93 Lehrbeauftragter an der School of Education, Griffith University (Gold Coast); 1994-96 Dozent für Beratung an der School of Health, University of New England; 1997 zum Senior Lecturer befördert; 1998-2000 Direktor für akademische Programme am Jansen Newman Institute, Sydney; 2005-heute Senior Lecturer für Beratung an der School of Social Sciences, UWS. Hugh ist seit 1997 Mitherausgeber des Australian and New Zealand Journal of Family Therapy.

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