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Systemtheorie – keine Liebe auf den ersten Blick

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Als ich 1973 mein Studium der Sozialwissenschaften in Bochum begann, war die große Zeit der Studentenbewegung schon vorbei. 1968 hatte ich, mit 15, noch eher ambivalent erlebt, meine Radikalisierung als schülerbewegter Leider-zu-spät-Kommer fand Ende 1969 statt, als sich alles, was links war, schon in Revisionisten, Anti-Revisionisten und Spontis aufzuteilen begann, wobei ich mich letzteren am ehesten zurechnen konnte. Allen gemein war aber die Kritik nicht nur des Staates und der bürgerlichen Klasse, sondern vor allem die sogenannte Kritik bürgerlicher Wissenschaften. Marx, Engels und Lenin hatte ich schon mit 16 gelesen, auch die prominenten Titel der SDS-Protagonisten, ansonsten war man doch eher auf die Lektüre von (aus heutiger Sicht oft peinlich zweit- und drittklassiger) Sekundärliteratur angewiesen, der man zweifelsfrei entnehmen konnte, dass bürgerliche Wissenschaftler die Entwicklungsgesetze des dialektischen Materialismus entweder noch nicht kannten oder nicht verstanden hatten.
Die Arbeiten bürgerlicher Wissenschaftler selbst zu lesen, erwies sich nach dieser Feststellung als völlig überflüssig und daher als reine Zeitverschwendung. Ein gewisser Verdacht kam mir allerdings hin und wieder, dass es sich vielleicht doch nicht, wie zunächst vermutet, um ein Intelligenzproblem handelte, da offenbar auch gescheite Wissenschaftler selbst nach mehrmaligem Kontakt mit revolutionärer Literatur von ihren bürgerlichen Thesen nicht abzurücken bereit waren. Dieser Verdacht war schon vorher durch die durchaus angenehme Begegnung mit dem Vater einer Schulfreundin genährt worden, der als Manager eines großen Konzerns direkt in den Diensten des Kapitals stand und auch einen sehr intelligenten Eindruck machte, was mich offen gestanden ein bisschen verwirrt hatte.
Auch wenn die Lektüre bürgerlicher Theorien gewissermaßen verboten war und man sich auf ihre Darstellung und Kritik in den einschlägigen revolutionären Texten verlassen musste, tauchten bei mir zunehmend Zweifel an solchen Darstellungen auf – genährt durch die Tatsache, dass sich offenkundig und enttäuschenderweise unter der revolutionären Linken auch viele Menschen tummelten, die intellektuell mit ihren Gegnern kaum mithalten konnten. Der Schock, dass Intelligenz genauso wenig an die Revolution geknüpft war wie Dummheit an die Verhinderung derselben, war jedoch insofern heilsam, als ich begann, nun doch auch neben der Kritik bürgerlicher Soziologie die Schriften zur Kenntnis zu nehmen, die solcherart der Kritik unterzogen wurden. Der Schock, dass es hier spannende und interessante Dinge zu lesen gab, die leider oft viel interessanter waren als das, ihre Kritiker fabrizierten, traf mich noch stärker. Immerhin fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass ich vor allem eines bislang nicht verstanden hatte: dass es in der Welt wie in der Wissenschaft und der Theorie immer komplexer zugeht als man vielleicht wahrhaben möchte und dass die Zurkenntnisnahme differerierender Positionen überhaupt erst einen Zugang zu den zugrundeliegenden Problemen eröffnet.
Diese Einsicht bahnte den Entschluss, die Kritik bürgerlicher Wissenschaften selbst am Original vorzunehmen. Die Entscheidung fiel auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns, der damals in Bochum äußerst unbeliebt war und zudem als Antipode von Habermas als Apologet der herrschenden Verhältnisse galt. In meiner ziemlich dicken Diplomarbeit, die ich mühsam Seite um Seite auf einer alten und leicht klemmenden Olympia-Reiseschreibmaschine tippte, beschäftigte ich mich also mit der„Systemtheorie als Theorie sozialer Kontrolle“. Um den reaktionären Charakter der Luhmannschen Theorie entlarven zu können, musste ich mich tiefer und tiefer in sie hineinarbeiten – eine Arbeit, die mir nicht nur im Laufe der Zeit ein ästhetisches Vergnügen bereitete, sondern auch immer mehr (heimliche) Bewunderung für die Originalität Luhmanns und seine Unbeeindrucktheit von jeder Kritik abnötigte.
Mit seiner Theorie war ich also schon ziemlich vertraut, lange bevor ich mich selbst als Systemiker gesehen habe. Vor allem wäre mir nicht im Traum eingefallen, dass ich später einmal als Therapeut tätig sein würde – und noch viel weniger, dass Luhmann für Therapeuten einmal eine epistemologische Referenzfigur sein würde. Die Auseinandersetzung mit Luhmann hat meiner Lust an Komplexität zum Durchbruch verholfen und mich aus der Eindimensionalität der damaligen Revolutionssemantik herausgelöst. Sein Verständnis von„Theoriearchitektur“, die mit bestimmten Setzungen operiert, deren Tragfähigkeit dann im Verlaufe der Theoriearbeit getestet werden muss und die gegebenenfalls dann umgebaut werden müssen, öffnete mir aber auch die Augen für die Kontingenzen jeder Theorie, eben auch der Luhmannschen, so dass ich bis heute, obwohl sehr stark mit der Systemtheorie identifiziert, nicht der Versuchung ihrer Heiligsprechung oder ihrer Begründer erlegen bin.

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