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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Systemische Traumapädagogik

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Nachdem Silke Birgitta Gahleitner, Thomas Hensel, Martin Baierl, Martin Kühn & Marc Schmid 2014 bei Vandenhoeck & Ruprecht unter dem Titel „Traumapädagogik in psychosozialen Handlungsfeldern“ ein „Handbuch für Jugendhilfe, Schule und Klinik“ veröffentlicht haben, legen nun Renate Jegodtka und Peter Luitjens im gleichen Verlag ein weiteres Buch zum Thema vor: „Systemische Traumapädagogik – Traumasensible Begleitung und Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern“. Andreas Wahlster hat es für systemagazin gelesen und empfiehlt es nachhaltig, da es „für eine Haltung des unbedingten Respekts gegenüber den Klientinnen und [werbe]. Die Zugewandtheit der Autorinnen ist förmlich zu spüren, ebenso beeindruckend ein von großer Praxiserfahrung untermauertes Methodenrepertoire. Das Buch ist leicht zu lesen, sein Inhalt ist es mitunter nicht. Umso mehr gratuliere ich Renate Jegodtka und Peter Luitjens zu diesem hervorragenden Buch und kann es mit großer Überzeugung empfehlen.“

Andreas Wahlster, Ladenburg

Die Autoren Renate Jegodtka und Peter Luitjens haben es sich zur Aufgabe gemacht, ein Konzept zur traumasensiblen Begleitung und Beratung vorzustellen, das insbesondere PädagogInnen und ErzieherInnen in der Kinder-und Jugendhilfe dazu befähigt, wirksam und achtsam mit diesem jungen Klientel zu arbeiten. Das sei schon vorweg gesagt: Es ist ihnen eindrucksvoll gelungen.

Zu Beginn wird der inhaltliche Aufbau des Buches dargestellt und ermöglicht so der Leserin eine inhaltliche Orientierung, bereits hier wird die langjährige Erfahrung der AutorInnen als Lehrende und Praktikerinnen deutlich.

Ein systemisches Verständnis von traumatischen Prozessen wird vorgestellt, die AutorInnen nehmen dazu folgende Frage als Ausgangspunkt: „Wie wirken (überwältigte und überwältigende) Menschen als konkret handelnde Personen und andere konkrete Personen z.B. PädagogInnen, BeraterInnen, Eltern), deren soziale Umfelder (z.B. Wohngruppe, Schule, Jugendamt), die ökonomischen, gesellschaftlichen Bedingungen usw. aufeinander ein?“

Als theoretische Folie dient dazu das ökosystemische Modell der Systemebenen von Bronfenbrenner. Der Einbezug des Konzeptes der Salutogenese nach Antonovsky erweitert das ausschließliche Aufsetzen der „Traumabrille“ hin zu einer Sicht durch eine „Gleitsichtbrille“, dadurch werden sowohl die „gekränkte Seite“ als auch „die Seite des gesunden Seins“ gesehen.

Ausführlich widmet sich das Buch der Darstellung verschiedener Erklärungsansätze von traumatischen Prozessen und ihrer Genese und den Implikationen psychiatrischer Diagnostik. Die Autorinnen verstehen traumatisches Geschehen gerade nicht als eine individuelle Störung von Krankheitswert, sondern vielmehr als einen „nachhaltigen Eingriff in das  Kohärenzgefühl“. Diese Hypothese wird sehr plausibel begründet und anhand immer wieder eingestreuter Fallvignetten anschaulich dargestellt.

Ihrem theoretischen Rahmen konsequent folgend stellen Jegodtka und Luitjens ausführlich die Phasen des Davor und Danach eines traumatischen Prozesses vor, dem schließt sich eine erhellende differenzierte Darstellung zum „Zusammenspiel des drei-einigen Gehirns“ an.

Dem großen Abschnitt des Buches zu Handlungskonzepten systemischer Traumaarbeit stellen die Autorinnen kontextübergreifende handlungsleitende Ziele voran. Jetzt wird es praktisch und durchaus auch politisch, wenn systemische Traumaarbeit u.a. formuliert, „den zentralen Wirkungen psychosozialer Traumatisierungen entgegen[zu]wirken“ sowie ein weiteres Ziel anstrebt: „Gesundes Sein trotz widriger Arbeitsumstände – Prävention Sekundärer Traumatisierung“.

Der praktische Erfahrungsschatz der AutorInnen wird nun fast zum Händegreifen konkret erlebbar, wenn z.B. „traumasensibles Yoga“ als körperorientierte Erweiterung des Handlungsrepertoires erläutert wird, besonders beeindruckend hier der selbstheilende Aspekt der Einflussnahme sowie die Etablierung von „Empowerment durch die Möglichkeit der Wahl“. Weiter werden anhand des Konzeptes der „Teilpersönlichkeiten“ Methoden der Teilearbeit gezeigt. Fortgesetzt wird diese Darstellung mit sehr anschaulichen Beispielen systemischer Traumaarbeit in verschiedenen Kontexten der Jugendhilfe. Deutlich arbeiten die Autorinnen am Beispiel von Gewalt zwischen Eltern heraus, wie sich traumatischer Stress in Familien etablieren kann und mehrgenerational „weitergegeben“ wird. Konkrete systemische Vorgehensweisen im Umgang mit Gewalt in Familien werden vorgestellt, z.B. explizite Nichtneutralität gegenüber der Gewalt, hingegen Neugier und Interesse für die begünstigenden Faktoren zur Entstehung von Gewalt. Sehr beeindruckend auch die Arbeit mit dem „Ich-bin-wichtig-Buch“, es dient Klientinnen in der traumapädagogischen Arbeit, ein Verstehen über das eigene Verhalten in Vergangenheit und Gegenwart zu entwickeln. Verstehbarkeit ist wiederum eine der drei bedeutsamen Dimensionen des Kohärenzgefühls.

Selbst als fachkundiger Leser mag man über das abschließende Kapitel erstaunt sein, es trägt die Überschrift: „Systemische Traumaarbeit – Berufsrisiko Sekundäre Traumatisierung“. Spätestens beim Lesen wird die Relevanz des Kapitels deutlich. Es werden die Risiken für psychosoziale Fachkräfte in der Arbeit mit traumatisierten Menschen vorgestellt, die Autorinnen erläutern Konzepte Sekundärer Traumatisierung und formulieren schließlich Vorschläge und Anforderungen für Organisationen und Fachkräfte, wie „den zentralen Wirkungen psychosozialer Traumatisierungen entgegen[gewirkt]“ werden kann.

Dieses Buch überzeugt in vielfacher Hinsicht. Es stellt ein differenziertes plausibles systemisches Konzept zum Verständnis und zur Kontextualisierung von traumatischen Prozessen vor, enthält eine Fülle von praktischen Vorgehensweisen und vertritt einen sensiblen Umgang mit traumatisierten Menschen, der nicht so sehr auf Veränderung fokussiert, sondern vielmehr auf (Wieder-)Selbstbemächtigung und Selbstwirksamkeit setzt.

Die Idee zu diesem Buch wird von den Autorinnen im Vorwort erzählt, es eröffnet zugleich Einblick in ihre persönliche Motivation. Ein Auszug:

„ Aufgewachsen im Nachkriegs(west)deutschland waren für uns die Folgen von Trauma und soziopolitischer Gewalt sowohl im sozialen Umfeld zu sehen, zu hören und zu spüren als auch Bestandteil der familienbiografischen Erfahrung. Sie prägten unsere Sicht auf die Welt. Bleibende Eindrücke haben später erste studienbegleitende berufliche Erfahrungen zu Beginn der 1970er Jahre hinterlassen: die stationäre Unterbringung von Jugendlichen in einem Heim, das von den Auswirkungen der Heimkampagne noch gänzlich unberührt war – große Gruppen, wenig und schlecht ausgebildetes Personal, Erziehung mit rigiden und auch gewalttätigen Erziehungsmethoden“.

Es ist also auch ein politisches Buch, es wirbt für eine Haltung des unbedingten Respekts gegenüber den Klientinnen und ihren Geschichten. Die Zugewandtheit der Autorinnen ist förmlich zu spüren, ebenso beeindruckend ein von großer Praxiserfahrung untermauertes Methodenrepertoire Das Buch ist leicht zu lesen, sein Inhalt ist es mitunter nicht. Umso mehr gratuliere ich Renate Jegodtka und Peter Luitjens zu diesem hervorragenden Buch und kann es mit großer Überzeugung empfehlen.

Zur website der AutorInnen

Inhaltsverzeichnis, Geleitworte von Karl-Heinz Pleyer, Wilma Weiß, R. Sriram und das Vorwort der AutorInnen

 

 

Renate Jegodtka & Peter Luitjens (2016): Systemische Traumapädagogik – Traumasensible Begleitung und Beratung in psychosozialen Arbeitsfeldern. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

218 Seiten mit 12 Abb. und 3 Tab. kartoniert
ISBN 978-3-525-45135-9
Preis: 25,00 €

Verlagsinformation:

Die Folgen von Trauma und Gewalt sind langlebig und raumgreifend. Wie kann es gelingen, dass sich traumatisierte Kinder und Jugendliche trotz ihrer oft leidvollen Erfahrungen im Leben verankern? In der pädagogischen und beratenden Arbeit begegnen Fachkräften die langfristigen Folgen von Trauma und Gewalt in vielfältiger Weise. Das Konzept »Systemische Traumapädagogik« schlägt einen systemischen Verstehensrahmen traumatischer Prozesse vor. Hierfür verknüpfen Renate Jegodtka und Peter Luitjens systemische Modellannahmen mit dem Wissen der Psychotraumatologie. Das Repertoire der Methoden systemischer Praxis wird an die Erfordernisse traumasensibler Pädagogik angepasst und um den Weg des traumasensiblen Yogas erweitert. Die im Buch vorgestellten Arbeitsweisen bieten vielfältige praxiserprobte Anregungen für eine systemisch begründete Traumaarbeit. Es werden traumasensible systemische Interventionen präsentiert, die zur Stabilisierung und Selbstbemächtigung traumatisierter Kinder und Jugendlicher beitragen. Ziel ist es, Entwicklungsräume zu schaffen, in denen traumatisierte junge Menschen wieder mit sich und der umgebenden Welt in Verbindung kommen können.

Über die AutorInnen:

Dr. phil. Renate Jegodtka ist Systemische Lehrtherapeutin (SG) Systemische Supervisorin (SG) und Dozentin für Traumapädagogik und Traumafachberaterin (DeGPT). Sie leitet gemeinsam mit Peter Luitjens das »Zentrum für Systemische Beratung und Therapie«, das ambulante Hilfen im pädagogischen, beratenden und therapeutischen Bereich anbietet. Ihre Schwerpunkte liegen in der Begleitung traumatisierter Kinder, Jugendlicher und ihrer Familien und in der Traumafachberatung.

Peter Luitjens, Diplom-Pädagoge, Yogalehrer, Systemischer Lehrtherapeut und Supervisor (SG), ist Dozent für Traumapädagogik und Traumafachberatung (DeGPT/BAG-TP) und Sprecher des Zertfizierungsgremiums »Systemische Therapie und Beratung« der Systemischen Gesellschaft (SG). Er leitet gemeinsam mit Renate Jegodtka das »Zentrum für Systemische Beratung und Therapie«, das ambulante Hilfen im pädagogischen, beratenden und therapeutischen Bereich anbietet. Seine Schwerpunkte liegen in der Begleitung traumatisierter Kinder, Jugendlicher und ihrer Familien, in der Traumafachberatung und im traumasensiblen Yoga.

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