Im Reinhardt-Verlag ist 2015 das Buch „Systemische Therapie“ von Kirsten von Sydow erschienen. Lothar Eder hat es für systemagazin gelesen:
Lothar Eder, Mannheim:
Noch ein Lehrbuch über Systemische Therapie? Kirsten von Sydow klärt gleich in der Einführung auf, dass es sich bei ihrem Buch (nur?) um einen Überblick der ST handele, was ihre Grundlagen, ihre Praxis (Anwendungsformen) und diesbezügliche Forschungsergebnisse anbelangt. Allerdings wird der Begriff „Lehrbuch“ zwei Abschnitte später wieder eingeführt. Nun mag man einwenden, dass ein Lehrbuch die eine oder andere Ausführung, Vertiefung und exemplarische Darstellung mehr verdient hätte, als auf 181 Seiten inkl. Literatur und Register passen. Denn eines ist gewiß: die Autorin kann und weiß nicht nur viel, sie hat auch einiges mitzuteilen. Jedoch: auch in der Kürze liegt ja gelegentlich die Würze.
Als Autorin hat sich v. Sydow v.a. als Mitautorin der Metastudie zur Wirksamkeit der ST, welche zur berufsrechtlichen Anerkennung in Deutschland führte, einen Namen gemacht. Zudem hat sie in ihren kleineren Schriften wiederholt die Bedeutung der Bindungstheorie für die ST hervorgehoben, eine ansonsten (nach Meinung des Rezensenten) in der community sträflich vernachlässigte und doch so fundamental wichtige theoretische und praktische Sicht des Menschen und seiner sozialen (Ein-)Bindungen.
Im vorliegenden Buch also geht v. Sydow gewissermaßen über die Lang-, zumindest aber die Halbmarathondistanz. Gleich zu Beginn macht sie deutlich, was den Leser erwartet bzw. was er (sie) programmatisch erwarten darf. Sehr hilfreich ist eine Art Metarahmung, welche die Autorin vornimmt: sie greift Batesons Unterscheidung von lockerem und strengem Denken auf. Systemikern bescheinigt sie eine „große Freude“ an lockerem, eine weniger große an strengem Denken, und gibt sich selbst als Vorgabe, beide Denkstile miteinander zu verbinden. Im Verlaufe des Buches wird vermittels einer Vielzahl empirischer Befunde und der Darstellung von Manualen v.a. aus dem englischsprachigen Raum (in der deutschen systemischen Szene eher verpönt) deutlich, dass es v. Sydow ein Anliegen ist, dem strengen Denken eine Tür zu öffnen (womit sie es in der Szene demnach nicht leicht haben dürfte). Damit hebt sich das Buch deutlich ab von den Arbeiten Kurt Ludewigs, der eine störungsspezifische Perspektive ablehnt, auch vom „Klassiker“ von Schweitzer / v. Schlippe, aber auch vom „großen“ Lehrbuch Levold / Wirsching. Wie Ludewig nimmt es konsequent eine rein klinische Perspektive ein (die bei Levold und Wirsching als eine von vielen, bei Schweitzer und v. Schlippe in einem gesonderten Band behandelt wird); jedoch kommt bei ihr der „traditionelle“ klinische Blick, d.h. Ätiologie und Störungsspezifität zur Geltung. Damit dürfte das Werk für rein therapeutisch arbeitende Kollegen, die sich für systemisches Arbeiten interessieren, eine wertvolle Erweiterung darstellen.
Im ersten Kapitel liefert v. Sydow einen kurzen, doch gehaltvollen Abriß der Geschichte der Systemischen Therapie. Gehaltvoll vor allem wegen der interessanten Betonungen und Perspektiven, die einen Unterschied zu anderen Darstellungen ausmachen. Auf eine kleine Abhandlung über die Entwicklung hin zur Familientherapie in Amerika folgt eine Darstellung von sieben grundlegenden Ansätzen systemischer Therapie. Hier erfährt auch der im Verfahren bereits bewanderte Leser eine interessante Kategorisierung der verschiedenen Strömungen der Therapierichtung, die bekannte Einteilungen aufgreift und erweitert. Sehr schön fand ich die Abgrenzung struktureller, mehrgenerationaler und erlebnisaktivierender Ansätze. Zwar waren sie mir bekannt, aber die knappen und doch präzisen Kategorien helfen auch dem/der systemisch Erfahrenen bei der (Re-)Orientierung und legen die Quellströme offen. Erwähnung findet neben dem lösungsorientierten, dem selbstorganisationalen und dem narrativen Ansatz auch die Kategorie der sog. „Trademark-Therapien“; dies sind symptomspezifische und manualisierte Ansätze, die schon deshalb eine Nähe zur Verhaltenstherapie aufweisen, zudem auch bindungstheoretische Elemente. In der deutschsprachigen systemischen Szene finden sie aufgrund der starken Betonung radikal-konstruktivistischer Haltungen wenig Erwähnung. Letztere dagegen zählt v. Sydow nicht auf, was manche als Mangel empfinden mögen.
Bert Hellinger „widmet“ die Autorin einen eigenen Abschnitt in der Geschichte der systemischen Therapie. Man könnte auch sagen, sie nimmt ihn auseinander; will sagen: v. Sydow versucht erst gar nicht, ihre Abneigung gegen Hellinger zu verhehlen. Das Unterkapitel über den Schöpfer der Aufstellungsbewegung ist zum einen von deutlicher persönliche Aversion, zum anderen von präzise vorgetragener wissenschaftlicher Kritik an Hellinger geprägt. Am Ende immerhin würdigt v. Sydow den Wert der von Hellinger inspirierten Aufstellungsarbeit. Etwas verwundert hat mich dabei, warum die Kritk an Hellinger nicht in eine sich anbietende Alternative mündet: die der Familienrekonstruktion, einer Arbeitsweise, die sich aus der mehrgenerationalen und erlebnisaktivierenden Perspektive (Satir) ergibt. Hier nämlich haben Teilnehmer die Möglichkeit, nährende und das Verstehen erweiternde Sichtweisen zu entwickeln und dies ausführlicher und tiefgehender als durch die in der Regel halbstündig getakteten Impulse aus einer bloßen Aufstellung. Die Familientherapie hat also durchaus Alternativen, nicht nur Kritik zu bzw. an Hellinger zu bieten.
Es folgt, dies sei positiv vermerkt, ein im Vergleich zur Gesamtseitenzahl des Buches ausführliches Kapitel zu den theoretischen Aspekten der ST. Die Autorin zählt hier nicht nur auf, sondern beleuchtet Strömungen und Ansätze konsequent aus ihrer eigenen Position heraus und ordnet sie entsprechend ein. Ihre Perspektive ist eine klinisch-therapeutische und sie definiert diese als eine „gemäßigt konstruktivistische“, was heißt: sowohl weiche als auch harte (empirische) Sachverhalte finden darin ihre Geltung.
Sehr schön ist ihre Kritik an Formulierungen, die in der systemischen Szene Usus sind. So geht sie auf Schiepeks und anderer Formulierung ein, derzufolge ST das „Schaffen von Bedingungen für Selbstorganisationsprozesse“ sie. Dies, so v. Sydow, sei weder spezifisch für Psychotherapie noch für systemische Therapie. Auch ein Tierliebhaber, der den Ameisen Material für einen Ameisenbau zur Verfügung stelle, schaffe Bedingungen für Selbstorganisationsprozesse. Es sollte also, dieser Linie folgt die Autorin immer wieder konsequent, schon ein wenig spezifischer und konturierter sein, was denn mit (systemischer) Psychotherapie gemeint ist.
Dankenswert ist, dass v. Sydow der im systemischen Kontext so sträflich vernachlässigten Bindungstheorie Geltung verschafft und sie sowohl zu einer mehrgenerationalen Perspektive der ST, zu familiären Mustern und Dynamiken (z.B. die der „Delegation“ sensu Stierlin), als auch zu Aspekten der therapeutischen Beziehungsgestaltung in Zusammenhang bringt. Sehr aufschlußreich fand ich auch die Darstellung von Bowens „systemisch-psychodynamischem“ (O-Ton v.Sydow) Konzeptualisierung. Zudem werden klinisch relevante Implikationen in Beispielen kurz angerissen, z.B. der „Blick“ für Traumata. Dies setzt bestimmte diagnostische Optiken bei Therapeuten voraus, die entsprechend entwickelt und geübt sein müssen und in deutlichem Widerspruch zu dem in der systemischen Gemeinde so nachdrücklich geforderten Verzicht auf diagnostische Kategorien stehen.
Der Bezug zur Diagnostik wird auch im nachfolgenden umfangreichsten Kapitel („Der therapeutische Prozess“) des Buches wieder aufgenommen. Leider bleibt das Werk hier nur bei allgemeinen Aufzählungen, eine exemplarische Darstellung hätte hier gut getan. Gut gefallen hat mir auch hier jedoch wieder die Kombination von beziehungsdynamischen, intrapsychischen und mehrgenerationalen Aspekten. Der Leser findet auch Hinweise auf standardisierte Erhebungsverfahren zur Diagnostik familiärer Beziehungen.
Natürlich dürfen ausführliche Abschnitte zu therapeutischen Haltungen, zur gerade in der ST entscheidenden Gestaltung von Erstgesprächen in Zusammenhang mit der Klärung von Überweisungskontext und Auftrag und zu Interventionsformen nicht fehlen. Die Arbeit mit Genogrammen bekommt einen ausführlichen und durch eine Falldarstellung sehr anschaulichen Unterabschnitt. Es folgt ein Unterkapitel, das den Leser mit zahlreichen Behandlungsmanualen bekannt macht, die im Gros des deutschsprachigen systemischen Arbeitens eher unter den Tisch fallen. Anregend ist zudem der Abschnitt über typische Behandlungsprobleme.
Das Kapitel „Evaluation“ ist naturgemäß die Domäne der Autorin. Sie referiert hier in verkürzter Form die an anderer Stelle von ihr und ihren Kollegen ausführlich vorgestellten Befunde zur Wirksamkeit der ST. Leserinnen und Leser finden hier also eine gute Einführung, die wertvolle Hinweise auf Vertiefungsmöglichkeiten gibt.
Im vorletzten Kapitel „Ausblick auf künftige Entwicklungen“ nimmt K.v. Sydow u.a. Bezug auf die kassen- bzw. sozialrechtliche Situation der ST in Deutschland, die sich zum Zeitpunkt der Rezension auf dem gleichen Stand bewegt wie zur Drucklegung des Buches: sie ist nach wie vor offen. V. Sydow geht hier auch auf die ambivalente Bewertung einer kassenrechtlichen Anerkennung der ST im systemischen Feld selbst ein. Eine Anerkennung hätte zahlreiche Vorteile, würde aber auch bedeuten, dass die ST sich ihres gewissermaßen positiv anarchischen Charakters und damit ihrer kreativen Dynamik zumindest teilweise beraubt sähe. Zudem müßte sie sich einem „System“ anpassen, in dem die Kategorien „Krankheit“ und „Diagnose“ anders konnotiert sind als in der eigenen Domäne. Andererseits hätte die ST nach Meinung des Rezensenten gerade hier derart viel zu bieten, dass „wir“ uns „dem System“ nicht vorenthalten sollten.
In einem weiteren Abschnitt vollzieht die Autorin Brückenschläge sowohl zu psychodynamischen als auch zu verhaltenstherapeutischen Ansätzen und zeigt sehr eindrücklich die wechselseitige Anschlußfähigkeit auf. Auch die Aufzählung von für Therapeuten anderer Verfahren nützlicher Elemente der ST zeugt vom Selbstbewußtsein, das K.v. Sydow der ST ans Herz legen will. Man muss allerdings einschränken, dass die Ressourcenorientierung (oder das, was die ST so nennt) grundlegend bereits bei C.G. Jung angelegt ist und sicherlich die klientenzentrierten Ansätze mit ihrer fragenden und wertschätzenden Grundhaltung zumindest zeitgleich mit den Familientherapeuten an den Start gegangen sind. Allerdings ist die Kompetenz, sich mit Familiendynamiken zu beschäftigen und diese in hilfreichen Kategorien zu beschreiben (wenn auch bereits von Freud gefordert, aber von ihm nicht eingelöst, wozu er sich immerhin bekannte) und daraus Interventionen abzuleiten schon so etwas wie ein Markenzeichen der ST, von der andere Verfahren sicherlich profitieren können.
Den Abschluß des Buches bilden eine vierseitige Zusammenfassung und ein Glossar; letzteres finde ich persönlich sehr hilfreich, da es eine Art „Wörterbuch der systemischen Therapie“ en miniature darstellt, das man durchaus als Ergänzung und Erweiterung des Klassikers von Stierlin, Simon und Clement sehen kann.
Insgesamt ist Kirsten von Sydow ein sehr ansprechendes und informatives Werk gelungen. Es gibt Einsteigern eine gute Orientierung, aber auch „alte Hasen“ (nicht zu vergessen die „alten Häsinnen“) finden m.E. eine Vielzahl von Aspekten und Anregungen, die sie so noch nicht gelesen haben. Eine unbedingte Empfehlung für jedes systemische Bücherregal!
Kirsten von Sydow (2015): Systemische Therapie. München (Reinhardt)
181 Seiten, kart.
ISBN 978-3-497-02508-4
Preis: 24,90 €
Verlagsinformation:
Systemische Therapie beschäftigt sich mit dem sozialen Kontext psychischer Störungen. Beziehungserfahrungen mit Eltern, Partnern und anderen Bezugspersonen wirken sich auf die Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen aus. Diese beeinflussen ihrerseits Familie und Partnerschaft. Systemische Therapie unterstützt Klienten und ihre Angehörigen dabei, belastende Beziehungsmuster zu verändern und vorhandene Ressourcen weiter zu entwickeln. Das Buch gibt einen Überblick über Theorie und Wirksamkeitsbelege. Es schildert den Therapieprozess und typische Interventionen, wie positives Umdeuten, Genogramm oder Familienskulptur, die in der Systemischen Therapie eingesetzt werden können. Dazu führt es in Settings mit Erwachsenen, Kindern, Jugendlichen, als Einzel-, Paar-, Familientherapie sowie in neue Ansätze der Multi-Familien-Gruppentherapie und Arbeit mit komplexen Helfersystemen ein.
Über die Autorin: