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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Systemische Reflexionen

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Das letzte Kontext-Heft des vergangenen Jahrgangs, das gleichzeitig auch das letzte Heft unter meiner Mitherausgeberschaft ist, ist theoretischen Reflexionen gewidmet. Im Editorial heißt es: „Im systemischen Diskurs spielen Theorien, die sich mit der Frage der Konstruktion von psychischen und sozialen Wirklichkeiten beschäftigen, seit jeher eine wichtige Rolle. Bevor sich das Feld der theoretischen Orientierungen in den 1980er und 1990er Jahren zunehmend ausdifferenzierte, galten vor allem in der Frühzeit der »Systemischen Wende« der englische Biologe und Anthropologe Gregory Bateson, die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela, der österreichische Physiker und Kybernetiker Heinz von Foerster sowie der deutsche Soziologe Niklas Luhmann als die Gewährsleute der neuen systemischen Denkweise, auch wenn ihre Schriften nicht unbedingt einfach zu lesen waren. Aber Sätze wie »Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht«, »Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt«, »Handle stets so, dass sich die Zahl der Wahlmöglichkeiten vergrößert« oder »Nicht der Mensch kann kommunizieren, nur die Kommunikation kann kommunizieren« wurden schnell zu Ausweisen einer systemischen Gesinnung (oder Haltung, wie gerne betont wird), die auch heute noch als shortcuts benutzt werden, ohne dass der damit verbundene theoretische Hintergrund gleich mit zur Hand wäre. Der beträchtliche (erkenntnis-)theoretische Aufwand, der hinter solchen Sätzen steht, traf bei der ersten Generation systemischer Praktiker noch auf eine große Bereitschaft, sich durch komplexe, komplizierte und langwierige Theoriewerke durchzuarbeiten, oft mit einem epistemologischen Enthusiasmus, der heute wohl in dieser Form kaum noch nachvollzogen werden kann. (…)

Kontext sieht seine Aufgabe schon immer darin, neben praxisbezogenen Artikeln das Gespür für die epistemologischen und theoretischen Grundlagen der systemischen Praxis wachzuhalten. Dieser Aufgabe ist auch die aktuelle Ausgabe des Kontext gewidmet, die sich schwerpunktmäßig mit der Bedeutung und der Tragfähigkeit der Werke der eingangs erwähnten Theoretiker für den aktuellen systemischen Diskurs auseinandersetzt.

In seinem einleitenden Text beschäftigt sich Wolfram Lutterer, hierzulande einer der besten Kenner des Werks von Gregory Bateson, zunächst mit dessen Beiträgen zu einem neuen Verständnis von Kontexten, Rahmen (Frames) und Kommunikation, die den Weg zur Entwicklung der frühen Familientherapie mit bereitet haben. Darauf aufbauend setzt er sich mit Batesons weit umfassenderem Anliegen auseinander, nämlich eine Ökologie des Geistes zu begrün- den, die in der Lage ist, die unterschiedlichen organismischen, geistigen und sozialen Phänomenen inklusive ihrer materiellen Eingewobenheiten in einen ökosystemischen Zusammenhang zu setzen. Mit diesem Konzept zählt Bateson zu den wichtigen Begründern und Stichwortgebern einer umspannenden ökologischen Perspektive, die heute dringlicher denn je erforderlich ist. Insofern bleibt die Frage aktuell, ob und in welcher Weise seine systemische Theorie unausgeschöpft geblieben ist und welche Anknüpfungspunkte für den systemischen Diskurs sich gerade heute daraus ergeben.

Tom Levold ruft noch einmal die kontroverse Debatte um das Konzept der Autopoiesis in Erinnerung, die in den 1980er und 1990er Jahren zwischen Niklas Luhmann einerseits, Humberto Maturana und Heinz von Foerster andererseits geführt wurde. Alle drei werden ja gern – wie schon erwähnt – im gleichen Zusammenhang zitiert, obwohl ihre Positionen z. B. zur Bedeutung des Menschen als Beobachter und zur Frage der Definition von Systemen und ihrer Elemente nicht miteinander vereinbar sind. In einer kritischen Auseinandersetzung mit der allgemeinen Systemtheorie Luhmanns wird dessen Behauptung, dass psychische und soziale Systeme autopoietische Systeme seien, in Frage gestellt und in Bezug auf kulturwissenschaftliche Praxistheorien für ein alternatives Verständnis von Kommunikationssystemen (als Systeme konstitutiv verbundener kommunikativer, materialer und affektiver Praktiken) plädiert, die analytisch untersucht werden können, ohne einer Logik der Trennung von Individuum und Gesellschaft bzw. Natur und Sozialität zu folgen.

Auch Wolfgang Loth wandelt in seinem Rezensionsaufsatz zu Lina Nagels Buch über Gregory Bateson und (s)eine kybernetische Konflikttheorie auf den Spuren des großen Spiritus Rector des Systemgedankens und hält fest, dass dessen Werk ein unverzichtbares Gegengewicht zu den erkennbaren (und vielleicht zunehmenden) Neigungen unserer Zeit darstellt, das Leben (sowohl seine Systeme als auch seine Umwelten) zu kommerzialisieren, auszubeuten und – wenn wir Pech haben – zu zerstören.

Neben den kybernetischen, epistemologischen und sozialtheoretischen Grundlagen haben natürlich auch familiendynamische Theorien im systemischen Diskurs immer eine Rolle gespielt. Ein wichtiges Feld, das im Unterschied zur Untersuchung von Paardynamik und Eltern-Kind-Beziehungen oft viel zu wenig ausgeleuchtet wurde und wird, ist die Dynamik von Geschwisterbeziehungen. Während Paarbeziehungen (in der Regel) auf freier (symmetrischer) Wahl beruhen und Eltern und Kinder über die (asymmetrische) Generationenfolge verbunden sind, ist das Band zwischen Geschwistern komplizierter. Sie sind als Generationsgenossen auf gleicher Ebene, ohne sich aber gewählt haben zu können – und die Frage, was Geschwister zusammenhält oder auseinander bringt, ist nicht einfach zu beantworten. Arist von Schlippe beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Geschwisterbeziehungen zwischen Nähe und Distanz, Intimität und Feindseligkeit und bietet Ansatzpunkte für die systemische Beratung von Geschwistersystemen.

Darüber hinaus gibt es noch Nachrufe auf Helm Stierlin (Gunther Schmidt) und Hans Jellouschek (Rüdiger Retzlaff) sowie wie immer eine ganze Reihe von Rezensionen. Alle bibliografischen Angaben und abstracts gibt es hier…

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