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systemisch – was fehlt? Wildgehen

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Sabine Klar, Wien: Sollen wir wieder wissen, wo`s langgeht?

6adventIch muss eingangs betonen, dass mir die spezifische Haltung und erkenntnistheoretische Position, die in unseren systemischen Kreisen in den letzten Jahrzehnten oft unter dem Kürzel „Kybernetik II“ zusammengefasst wurde, im Therapie- und Ausbildungsgeschehen nach wie vor sehr wichtig ist. Dennoch betreibe ich (mit dem Philosophen F. Reithmayr) eine kritische Reflexion meiner eigenen erkenntnistheoretischen Position und davon ausgehenden Haltung ( hier näheres). Wichtig scheint mir vor allem, dass der theoretisch geprägte Diskurs nicht schon wieder abgesetzt wird vom konkreten therapeutischen Handeln („Praxis“). Diese immer wieder bemühten Unterscheidungen verkennen völlig, dass jedes Tun und Wissen auf der Basis von sprachlichen Kategorien und Vorannahmen über Wichtigkeiten entsteht, die mitbedacht werden müssen, wenn sie nicht unreflektiert ins therapeutische Geschehen Eingang finden sollen. Und natürlich ist es dazu – nicht nur in der Ausbildung – nötig, sich selbst und die Kolleg_innen oder Studierenden genau dort zu verunsichern – d.h. zum Nachdenken zu bringen – wo sie sich der Relevanz ihres Vorwissens besonders sicher sind.

Sabine Klar (Foto: oeas.at)

Sabine Klar
(Foto: oeas.at)

Die Frage ist immer, welche „Welt“ durch die Fassung in Sprache konstruiert wird – denn Sprache wirkt, wie wir wissen. Philosophisch gesehen geht es dabei meines Erachtens um den Gewinn einer gewissen Urteilsfähigkeit, die es ermöglicht, mit Beschreibungen und darin enthaltenen impliziten Bewertungen und logischen Brüchen bewusst umzugehen. Dass das so leicht ist und z.B. bei der Reflexion und Diskussion von Fallgeschichten eigentlich sowieso schon selbstverständlich, halte ich für einen großen Irrtum. Ich bemerke zumindest oft, dass es aus meiner Sicht nicht ausreichend (genau) geschieht. Wenn man der Meinung jener folgt, die klinisches Störungswissen und strategische methodische Herangehensweisen z.B. in den Ausbildungsvereinen durchsetzen wollen, dann müssen wir uns alle mit etwas ganz Bestimmtem, angeblich besonders Wichtigem befassen. Wir müssten dem dann wahrscheinlich mehr Platz einräumen, was angesichts der Begrenztheit der verfügbaren Stunden dazu führen wird, dass für anderes weniger Zeit bleibt. Und was gilt dann als relevantes Wissen bei uns Systemiker_innen? Wollen wir das wirklich festlegen bzw. uns von irgendwelchen Leuten, die es angeblich besser wissen oder mit Studien belegen können, darin festlegen lassen? Die systemische Haltung, die mir im Kontakt mit KlientInnen wie StudentInnen so wichtig erscheint, in einer viel kürzeren Zeit zu vermitteln, würde meiner  Meinung nach zu einer Pseudo-Haltung führen – man tut den Klient_innen gegenüber so, als wüsste man noch nicht (wo es langgeht), weiß aber in Wirklichkeit genau Bescheid. Den Student_innen gegenüber weiß man das dann sowieso, denn die wollen das auch – sie verlangen ja nach einer bestimmten Art Expert_innen für ihr Geld – dieser Eindruck entsteht zumindest in den letzten Jahren immer wieder und es ist nicht leicht, diesem Trend etwas entgegen zu setzen.

Apropos „Erfolg“ bei Student_innen, aber auch in internationalen Kreisen und klinischen Milieus: welche Relevanz hat dieser Aspekt eigentlich und welche soll er für Systemiker_innen haben? Wollen wir unser „Eigenes“ vertreten oder primär marktorientiert denken und handeln? Sicher ist auch der Bezug auf die Eigenart der eigenen psychotherapeutischen Richtung eine immer wieder neu zu reflektierende Festlegung – ich denke aber, dass dieser Diskurs unabhängig sein sollte von marktwirtschaftlichen Überlegungen. Heutzutage bestätigt das dominante Gerede im psychosozialen Feld jedenfalls das Störungs- und Wirksamkeitswissen – Professionist_innen gewinnen aus der Identifikation damit Sicherheit. Solange die kritische Distanz gegenüber jedem Wissensinhalt, jeder methodischen Fokussierung und jeder Idee von Wirkung erhalten bleibt – im Dienst von KlientInnen und StudentInnen, die sich auf ihre jeweils spezifisch eigene Weise auf die Suche begeben müssen – ist ein solches Vorwissen auch gar kein Problem. Ich denke aber, dass Systemiker_innen hier eine – wenn auch zunehmend marginalisierte – andere Position einnehmen müssen. Sie gewinnen Sicherheit nicht aus der Identifikation mit bestimmten Wisseninhalten oder methodischen Festlegungen und schon gar nicht aus dem, was – bei wem auch immer – als erfolgreich gilt, sondern aus der Fähigkeit, sich trotz Vorwissens beweglich zu halten und sich davon ausgehend Schritt für Schritt, gemeinsam mit den Klient_innen, in die Landschaft hinein zu begeben, die sich während des stattfindenden Gesprächs jeweils kommunikativ auftut. Dabei ist es ununterbrochen notwendig, Vorwissen unterschiedlichster Art einzubringen und sich davon gleichzeitig nicht vereinnahmen zu lassen.

An dieser Stelle möchte ich die Metapher vom Wildgehen bemühen und anhand dessen beschreiben, was mir im Therapie- und Ausbildungsgeschehen besonders wichtig erscheint. „Sollen wir wieder wissen, wo´s langgeht?“ Diese  Frage lässt an einen Weg in einer Landschaft denken, den ein Experte kennt und auf dem sich eine nicht so kompetente Person – in eine andere (bessere?) Gegend führen lässt. In meiner Metapher bedeutet „Gehen auf einem vorgebahnten Weg“ bei etwas bleiben, das schon anderen wichtig war, an etwas festhalten, das sich bewährt hat, so zwischen Weg und Umgebung unterscheiden, wie es schon andere getan haben. Man folgt Abzweigungen, die andere gefunden haben, manchmal ist man sehr zielbezogen und schnell unterwegs und orientiert sich nur mehr an diversen Markierungen. Man hat Landkarten zur Verfügung und verwendet sie im Sinn einer Handlungsanleitung. Auf die Therapiesituation bezogen: die gegebene Lage (jene des Klienten und jene zwischen Therapeutin und Klient) ist bereits bekannt, wurde bereits andernorts interpretiert. Es gibt vorgegebene Begrifflichkeiten, Unterscheidungen, Methoden, die sich als wirksam und praktikabel erwiesen haben. Jemand weiß darüber Bescheid – jemand anderer nicht. „Wildgehen“ bedeutet demgegenüber, von den vorgebahnten Wegen abzuweichen bzw. abweichen zu können, sich mitten ins Dickicht zu begeben um dort – Schritt für Schritt – herauszufinden, wo es weitergeht, wo sich Durchgänge und neue Aussichten eröffnen. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten der Fortbewegung – der Weg entsteht in dem Moment, in dem er begangen wird. Man hat zur Sicherheit Landkarten und ein Peilgerät bei sich, aber orientiert sich nur bei Bedarf daran. Obwohl die gegebene Lage vielerorts bereits behandelt und interpretiert wurde und es vorgegebene Begrifflichkeiten, Unterscheidungen, Landkarten, Markierungen, Wege gibt – orientiert man sich nicht primär daran, sondern entwirft gemeinsam mit den Klient_innen den Weg in jedem einzelnen Augenblick neu. Man entwickelt die Fähigkeit zur Abweichung vom Vorgegebenen, traut sich mitten ins Dickicht des immer Neuen hinein und weiß, dass es trotz aller Markierungen unendlich viele mögliche Wege gibt. Und man ist sich bewusst, dass man den Weg erschafft, indem man ihn beschreitet. Wichtig zur Abgrenzung immer wieder auftauchender Missverständnisse: auch in einer Landschaft, in der ich wild gehe, gibt es bereits eine Menge Vorgebahntes – das Wissen darüber kann Sicherheit geben, die Beschränkung darauf engt aber ein. Man kann Landkarten im Rucksack haben und trotzdem wildgehen. Wildgehen ist jedenfalls etwas ganz anderes als blindlings umher zu irren. Das Expertentum beim Wildgehen besteht darin, verschiedene Landschaften, Bodenverhältnisse, Wetterlagen, Wuchsformen, Viecher, wandernde Menschen zu kennen, auf vielen Wegen gewandert zu sein; aus dem Dickicht herausfinden zu können (hilfreiches Wissen dabei kann sehr viel verschiedenes sein). Ich bin dafür, dass man sich vor dem Wildgehen nicht fürchtet – es aber auch nicht verharmlost. Beim „Wege bahnen“ sollte man sich und die eigene Wirkung jedenfalls selbst im Blick haben können. Auch in der Ausbildung finde ich es wichtig, Landkarten und gebahnte Wege zu vermitteln – aber genauso wichtig finde ich es, sichtbar und erlebbar zu machen, dass davon im Dienst der Menschen, um die es geht, immer wieder abgewichen werden muss und dass Bahnungen (wie auch immer sie entstehen) mit der Landschaft etwas machen. Indem ich gehe, erschaffe und gestalte ich.

Abschließend möchte ich dafür plädieren, die Fähigkeit zum Wildgehen im therapeutischen Geschehen als für die systemische Fachrichtung hoch relevantes Merkmal beizubehalten, denn sobald wir uns zu sehr mit unserem Vorwissen identifizieren, verlieren wir das Spezifikum unserer therapeutischen Schule aus den Augen, das genau in der Anstrengung besteht, die möglichen Wirkungen des Vorwissens im Blick zu behalten, sich der dadurch gebahnten Wege und gestaltenden Einflüsse bewusst zu sein und sich von ihnen nicht gefangen nehmen zu lassen. Eine zu starke Fokussierung auf vorhandenes und erlernbares Expertenwissen, könnte das z.B. in der Psychotherapieausbildung unmöglich machen. Von Wissen bzw. diversen Vor-Informationen bekommt man dann nicht genug, außerdem ist man auf andere angewiesen, die es vermitteln und verkaufen. Aus der Mächtigkeit angeblich relevanter Wissensinhalte ergibt sich Abhängigkeit, Hierarchie, Reduktion möglicher Wege, Richtungen und Bewegungsarten und Ablenkung von den eigenen Ressourcen und der eigenen Gestaltungsfreiheit und Verantwortlichkeit durch die Fokussierung auf angeblich relevante Autoritäten. Mein Ziel in der Ausbildung ist deshalb, den Studierenden zu ermöglichen, zum Joker zu werden. Sie sollen sich ballastfrei bewegen lernen, die Fülle der Wege entdecken, sich angstfrei darauf einlassen können, was sich immer neu im Moment auftut. Ich möchte ihnen ihre eigenen Fähigkeiten zugänglich machen, damit sie sie für die Gestaltung im therapeutischen Geschehen verwenden können. Wie unter Studierenden bekannt, vermittle diesen Ansatz mittels meines eigenen Tuns als Ausbildnerin: ich zeige ihnen während des Vermittlungsprozesses, wie sich durch ihr und mein kommunikatives Tun Wege öffnen und verschließen und kommunikative „Welten“ entstehen. Auf dieser Basis sollen sie dann entscheiden und unterscheiden lernen, was im Moment des Geschehens hilfreiches Wissen sein könnte, an welchen Kommunikationssystemen sie sich mit den Klientinnen gemeinsam beteiligen wollen und an welchen nicht, welche Unterscheidungen sie betonen, welche Sprache sie verwenden möchten. Es geht mir darum, sie zum Denken anzuregen und davon ausgehend eine reflektierte Urteilsfähigkeit in der gegebenen Lage mit den konkreten Menschen und ihren Themen zu gewinnen. Um sich ganz mit dem Interesse der diversen Gegenüber befassen zu können, müssen sie um ihr eigenes Interesse und ihre eigene Position  in der Welt wissen und dafür Sorge tragen können. Als Ausbildnerin ist es mir wichtig, darüber Klarheit gewonnen zu haben, was ich durch diese Fokussierung mit erschaffe und darin transparent sein, sie verantworten zu können. Tendenziell fördere ich die Reduktion auf das Einfache, Wesentliche und Handhabbare und versuche, die Unabhängigkeit der Studierenden, auch von mir selbst, zu fördern – ich möchte von ihnen nicht so wichtig genommen werden. Viel relevanter ist für mich die Weckung ihrer eigenen Kompetenz im Zugang und Umgang mit Menschen. Grundsätzlich habe ich auch gar nichts gegen das Lesen von Fachliteratur – mir ist aber die Weite in den Zugängen und die Vielfalt wichtig. Das Problem besteht hier wieder in der Begrenztheit zeitlicher Ressourcen:  wenn man ausgiebig systemische Fachliteratur liest, die sich vorrangig mit klinischen Störungsbildern oder methodischen Strategien befasst, kommt man u.U. nie zu etwas anderem und es führt v.a. bei oberflächlichem Lesen – nicht zu der geistigen Beweglichkeit, die ich anstrebe. Auf jeden Fall erscheint mir Gelesenes für das Therapiegeschehen nur dann relevant, wenn Bewusstheit darüber besteht, was es will und erschafft und bahnt.

2 Kommentare

  1. Thomas Friedrich-Hett sagt:

    So wie ich das Wildgehen verstehe, scheint es mir nah an der Idee des Nichtwissens, wie sie von Harlene Andersen und Harry Goolishian 1992 in der Zeitschrift für systemische Therapie unter dem Titel „Der Klient ist Experte: ein therapeutischer Ansatz des Nichtwissens“ vorgestellt wurde.

  2. Peter Kaimer sagt:

    Wunderbares und engagiertes Argument gegen die zu erwartende Unterwerfung unter das zweckrationale Regime des Kassensystems.

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