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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemisch – was fehlt? „homonymes“ Bewusstsein!

| 2 Kommentare

Rolf Todesco, Aeugstertal:

18adventDie Frage „was fehlt?“ ist in vielen Hinsichten ambivalent. Ich frage mich beispielsweise, ob klare Begriffe wirklich fehlen, wenn diese bestimmte Problemlösungen oder Therapieerfolge nur stören würden. Ich will nicht von notwendig falschem Bewusstsein sprechen, sondern nur fragen, inwiefern ein je bestimmtes kontingentes Bewusstsein fehlt oder einfach nur – fast zum Glück für die Sache – nicht vorhanden ist. Ich habe also keine Ahnung, ob ein allenfalls fehlender Systembegriff einer systemischen Therapie fehlen würde. Ich bin kein Therapeut und schon gar kein systemischer und kann die Frage, was der systemischen Therapie fehle, deshalb nur in einer – systemtheoretischen – Aussensicht angehen.

Was im systemischen Diskurs sehr oft nicht vorhanden scheint, ist das Bewusstsein, dass Wörter unter dem Gesichtspunkt eines Homonyms beobachtet werden können. Das gewöhnlichste Beispiel eines Homonyms ist wohl der Ausdruck „Bank“, der für ein Sitzmöbel und für eine Finanzinstitution steht. Ein oft verdrängtes Beispiel ist System, weil System für unglaublich vieles verwendet wird. Wenn ich den Ausdruck System nicht als Homonym erkenne, weiss ich nie, wovon die Rede ist, noch nicht einmal wovon ich selbst spreche, wenn ich System oder „systemisch“ sage. Oft fehlt mir dann nichts, vielmehr scheint mir der Ausdruck dann überflüssig oder als zu viel.

Rolf Todesco (Foto: www.hyperkommunikation.ch)

Rolf Todesco
(Foto: www.hyperkommunikation.ch)

Ich gehe – eigentlich – davon aus, dass Wörter arbiträre Symbole sind. Den Ausdruck „Homonym“ verwende ich für einen Ausdruck, dem ich innerhalb derselben (Einzel)-Sprache verschiedene Vereinbarungen oder sogenannte „Wortbedeutungen“ zuschreibe. Homonyme deute ich manchmal als Metaphern, womit ich – quasi im re-entry zum Arbiträren – Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Bedeutungen konstruiere. Ich kann beispielsweise zu jemandem sagen: „Du bist ein Esel“, und wenn er kein Esel ist, versteht er mich. In dieser Metapher schreibe ich einem graubraunen Pferdeartigen die Halsstörigkeit zu, die ich bei den Menschen erkenne, die ich als Esel bezeichne. Wenn ich das Wort Esel als Metapher und mithin als Homonym bezeichne, stosse ich selten auf Widerstand. Bei der Bank dagegen muss ich mir sehr oft Geschichten anhören, in welchen „Bank“ nur die eine Bedeutung hat, ein Brett zu sein, auf welches Geld zum Wechseln gelegt werden kann. Wenn ich will, kann ich dann dagegenhalten mit Spielbank, Datenbank, Sandbank – was aber meistens nichts hilft. Beim Ausdruck System erscheint mir die Sache noch etwas verzwickter, weil ich dazu neige, das Substantiv vom Adjektiv abzuleiten – was angesichts der beiden Adjektive systemisch und systematisch – von systemtheoretisch mal abgesehen – Differenzen eröffnet, die im Substantiv System aufgehoben scheinen. System steht für (fast) alles, als Homonym könnte ich den Ausdruck nur sehen, wenn ich an Differenzierungen interessiert wäre.

Ein beliebtes Spiel, das ich bei Menschen erkenne, die Homonyme (und bestimmte Differenzierungen) nicht mögen, besteht darin, das Arbiträre der Wörter darin aufzuheben, dass die Wörter aus einem fast urgeschichtlichen Altgriechischen hergeleitet werden, wo sie dann eben auch eine und nur eine generelle Bedeutung gehabt haben sollen. Ein verbreiteter Un- oder A-Sinn besteht darin dem Wort „systemisch“ ein altgriechisches „sýstema“ zu unterlegen und daraus abzuleiten, dass der Ausdruck System für „zusammengesetzte Gebilde“ verwendet werde(n müsse).  Eine gangbare, aber wenig beschrittene Alternative zur Pseudoetymologie scheint mir, dass ich meine (je) eigene Wortverwendung beobachte – ohne diese je spezielle Verwendung mit Pseudogriechisch zu legitimieren. Mir fehlt dann gelegentlich, dass andere auch ein Wort dazu sagen, wie sie die Adjektive zu System oder den Ausdruck selbst verwenden.

Systematisch beziehe ich auf eine (An)-Ordnung, was im Mittelalter und dann in vielen Texten der Philosophie wie im Commonsense als „System(a)“ bezeichnet wurde und wird. In den biologischen Systematiken bei Aristoteles und C. von Linné erkenne ich Beschreibungen einer Ordnung in der Welt, die aus immer komplizierter werdenden Einheiten zusammengesetzt (systema) ist, und später typischerweise auch noch als evolutionär gedachte Differenzierung gesehen wurde. Die entwickelte Systematik beruht auf einer Theorie, im exemplarischen Fall auf einer biologische Evolutionstheorie, die festschreibt, wie ich zu schauen habe, wenn ich sehen will, was Sache oder eben was das Systema der Wirklichkeit ist. Darin erkenne ich ein arbiträres Homonym …

„Systemisch“ dagegen beziehe ich  auf eine kybernetische Funktionsweise, die ich als Erklärung für Phänomene konstruiere. Wenn sich – um ein Beispiel des alten Griechen Heron zu nehmen – eine Tempeltüre öffnet, wenn der Priester davor ein Feuer entzündet, kann ich darüber ebenso wie bei einer sich automatisch öffnenden Warenhaustüre ein Phänomen sehen oder eben nicht. J. von Goethe etwa hat – wie auch P. Fuchs in diesem Adventkalender – geraten, nur nichts hinter Phänomenen zu suchen. Kybernetisch aber bezeichne ich gerade das als Phänomen, von was ich gerne wüsste, wie ich mir es erklären soll. Als Phänomene kommen zunächst genau jene meiner Wahrnehmungsinhalte in Frage, zu welchen ich im Prinzip Erklärungen konstruieren kann.

Wenn sich eine Tempeltür quasi automatisch öffnet, kann Zeus oder ein versteckter Sklave die Hände im Spiel haben, es könnte aber auch Herons Dampfmaschine im Spiel sein. Hinreichend komplizierte Verhältnisse erkläre ich durch Feedback-Mechanismen, die ich als kybernetische Systeme bezeichne. Das „Systemische“ besteht in diesem Fall gerade darin, Erklärungen zu erfinden.

Von Menschen, die mechanische und mithin systemische Erklärungen nicht mögen, und das sind oft Menschen, die in irgendeinem nicht näher erläuterten Sinne „systemisch“ denken, höre ich oft eine vermeintlich bescheidene Inversion in dem Sinne, dass sie nicht erklären wollen, wie ein Phänomen zustande kommt, sondern nur, warum etwas nicht zustande kommt. Der Systemiker H. von Foerster zitiert ein Standardbeispiel dazu. Das Benzin im Tank eines Autos erklärt nicht, warum das Auto fährt, aber das fehlende Benzin, ist ihm eine Erklärung dafür, warum das Auto nicht fährt. Ich erkenne darin eine Bescheidenheit in der Auswahl des Phänomens. Ich staune viel mehr darüber, dass Autos fahren als dass sie manchmal nicht fahren. Und auch bei Verhältnissen zwischen Menschen interessiert mich nicht vor allem, wann und warum sie gestört erscheinen.

Therapie aber, auch systemische, befasst sich der Sache nach mit Verhältnissen oder Verhaltensweisen, die nicht oder nicht wie gewünscht funktionieren. Die Orientierung ist in dieser Inversion des systemischen Denkens auf Mangel und nicht auf Fülle gerichtet. Das bedeutet, das funktionierende System ist kein Thema und muss weder verstanden noch in Begriffen begriffen werden. Ich muss ein Auto keineswegs begreifen, um fehlendes Benzin als behebbare Störung – eines für mich allenfalls komplexen Systems zu erkennen. Die Analogie mit dem Auto hat ihre offensichtliche Schwäche darin, dass ich weiß, was ich wiederherstelle, wenn ich eine Störung des Autos behebe, selbst wenn ich nicht weiß, wie ein Auto funktioniert. In diesem Fall fehlt mir kein Verständnis. Wenn ich dagegen „soziale Systeme“ restaurieren würde, würde mir fehlen, wenn ich nicht sagen könnte, was ich als System auffasse, dessen Funktionsweise ich wiederherstellen will.

Auch dazu gibt es eine bescheidene Inversion. B. Hellinger meint, dass Leiden oft leichter zu ertragen sei als (s)eine Therapie. Er stellt deshalb seinen Klienten anheim, ob sie durch seine Therapie gesunden wollen. In dieser „systemischen“ Perspektive entscheidet das kranke System, was ein gutes System ist – und dabei fehlen wohl auch dem Klienten Systembegriffe nie. Nur mir fehlt eine explizite Sicht darauf, welche Systeme systemisch repariert werden.

2 Kommentare

  1. Rolf Todesco sagt:

    Lieber Jürgen Wernicke, der Leser bestimmt, was in einem Text steht und wie das gemeint ist – systemisch gesehen.

    Mir fehlt – nicht nur im Advent – eine Besinnlichkeit dazu, was im Ausdruck „systemisch“ aufgehoben wird. (Jetzt gerade lese ich, was ich schreibe, ich bin auch ein Leser)

  2. Jürgen Wernicke sagt:

    Ist das satirisch gemeint, oder beschäftigen Sie sich wirklich mit solchen Dingen – in einem Adventskalender zumal?
    Was fehlt Ihnen denn nun?

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