Andreas Manteufel, Bonn: Danke, mir fehlt nichts!
Das Adventskalenderthema von Tom Levold erinnert an die Eingangsfrage beim Hausarztbesuch: „Was fehlt Ihnen denn?“. Beantwortet wird diese Frage dann mit einer Auflistung dessen, was man hat, nämlich Beschwerden, Schmerzen, Fieber, ein Drücken hier, ein Ziehen da, bis der Arzt eine Vermutung äußert, was uns gesundheitlich fehlt oder, anders gewendet, was wir haben. Vielleicht schreibt er uns krank und wir nutzen die Zeit, um darüber nach zu denken, ob es sich besser mit einen Zuviel oder einem Zuwenig lebt.
Ich kann aber, bezogen auf die diesjährige Adventskalenderfrage, beruhigt abwinken: Mir fehlt nichts, jedenfalls nichts Ernsthaftes.
Ob sich Systemiker kritischer über gesellschaftliche Entwicklungen äußern sollten? Das muss jeder selbst entscheiden. Der systemische Ansatz liefert genug Stoff dafür, versteht er sich doch als ein Arbeiten „mittendrin“ im Geschehen von Familien, Gruppen, sozialen Netzen. Systemtheorien bieten ausreichend Material für entlarvende politische Analysen. Aber auch jeder Analytiker, Verhaltenstherapeut oder sonstige Vertreter irgendeiner Richtung kann sein soziales Engagement, wenn es ihm denn danach ist, mit seiner Theorie unterfüttern – und viele tun es ja. Aber das ist vielmehr eine persönliche als eine fachliche Entscheidung.
Will man das Individuum, die subjektive Seite, die „Seele“, gegenüber dem abstrakten System stärker in den Fokus rücken? Keine Systemtheorie steht dem im Wege und Jürgen Kriz, aber auch viele andere, machen das schon lange. Systemische Einzeltherapie ist keine widersprüchliche Formulierung mehr, sondern längst eine Selbstverständlichkeit. „Systemisch oder nicht“ ist keine Setting-Frage mehr.
Muss man den Systembegriff klarer fassen? Um seine Konkretisierung für den eigenen Arbeitsbereich kommen ohnehin weder Theoretiker noch Praktiker herum. Was nenne ich mein relevantes System? Wo sind seine Grenzen? Was sind die relevanten Beziehungen, welches seine Ebenen? Was ist der Motor für die Selbstorganisation dieses Systems? All dies muss geklärt werden, aber nicht notwendigerweise mit denselben Antworten für verschiedene Fragestellungen. Das ist ja gerade das attraktive der strukturwissenschaftlichen Herangehensweise: Die Kernelemente einer Theorie müssen für jeden Anwendungsbereich immer wieder mit neuen Zusatzannahmen über das jeweilige System angereichert werden. Das kann dann auch sehr unterschiedlich ausfallen, weil der systemische Ansatz prinzipiell auf jede Fragestellung hin zugeschnitten werden kann. „System“ zu definieren ist also schwierig, aber: Fragen Sie die Kollegen einmal, was denn genau mit „Verhalten“, „Psyche“, „Gestalt“ usw. gemeint ist…
Folgen wir Günter Schiepek, ist Psychotherapie das Organisieren von Selbstorganisationsbedingungen für erwünschte und sinnvolle Veränderung im (psychischen oder sozialen) System. Dann zerfällt auch die Vorstellung, es gebe ein spezifisch systemisches Arsenal an Interventionsmethoden. Dann können nämlich auch Methoden aller anderen Therapierichtungen dem Ziel der Selbstorganisationsförderung dienen. Dann kann auch – wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind – eine Verhaltenstherapie eine systemische Therapie sein. Gut, dass Systemiker vor Paradoxien keine Angst haben.
All das muss man aber nicht als Mangel verstehen, denn es macht Spaß, immer wieder diesen Fragen in vielen Richtungen nach zu gehen. Mal landet man in der Soziologie, mal in der Physik, mal in der Mathematik, natürlich auch in der Psychologie und der Philosophie. „Blinde Flecken“ für etwas hat nicht eine Theorie, die hat man nur selbst.
Mir geht also gut mit dem systemischen Ansatz. Was jeder aus seiner Systemtheorie oder seiner systemischen Therapie macht, bleibt in eigener Verantwortung. Der interdisziplinäre Blick über den Tellerrand ist erwünscht und Methoden von fremden Tellern zu naschen ist erlaubt, solange man es zugibt. Ideenklau, also die Unsitte, alte bewährte Konzepte (z.B. Mentalisierung, Achtsamkeit oder Embodiment) als Eigenes und Neues zu verkaufen, ist freilich immer noch unredlich, egal wer es macht.
Das einzige, was der systemischen Therapie wirklich fehlt, wäre dann wohl die endgültige Kassenzulassung.
Lieber Andreas,
Deine Antwort hat mir ausgesprochen gut gefallen! Herzlichen Dank
Arist v.Schlippe