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systemagazin Adventskalender: „Woher weiß der, wie es mir geht?“ Reflektierendes Team ohne Sprache

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Arist von Schlippe, Witten/Osnabrück: „Woher weiß der, wie es mir geht?“ – Reflektierendes Team ohne Sprache

Als ich das Motto des diesjährigen Adventskalenders des Systemagazins las, fiel mir eine Geschichte ein, die ich vor Jahren als Supervisor im Rahmen der Weinheimer Familientherapie-Ausbildung mit multikulturellem Schwerpunkt erlebt habe:

In einer Supervisionssitzung stellt die Therapeutin eine türkische Familie vor, deren Mitglieder nur teilweise und auch nur sehr schlecht deutsch sprechen. Da sie das Türkische beherrscht, will sie das Gespräch gern in der Muttersprache der Familie führen, die der Rest der Supervisionsgruppe nicht versteht. Wir überlegen gemeinsam mit Familie und der Gruppe, wie das Setting dennoch hilfreich sein kann und einigen uns auf ein Experiment: die Therapeutin führt das Gespräch auf türkisch, wird aber zwischendurch immer wieder die Inhalte kurz für die Gruppe zusammenfassen, so dass allen ungefähr klar ist, um welche Thematik es geht. Aus der Gruppe werden Personen ausgewählt, die sich jeweils auf ein Familienmitglied besonders konzentrieren, sich mit ihm/ihr identifizieren und das Gespräch, vor allem die nonverbale Seite, aus dieser Identifikation heraus verfolgen. Alle sind einverstanden, jedes Familienmitglied weiß, welches Gruppenmitglied „seines“ ist.

In einer Gesprächspause bilden dann die Beobachter eine besondere Form von Reflektierendem Team: sie stellen sich je nach ihrem persönlichen Empfinden spontan in eine Familienskulptur, indem sie das Nachgespürte jeweils in die Körperhaltung umzusetzen, die ihr Empfinden am besten wiedergibt.

Die Einfühlung einzelner Teilnehmer in dieser „wortlosen Reflektion“ bewegt die Familienmitglieder erkennbar sehr. Der älteste Sohn der Familie, etwa 23 Jahre alt, reagiert besonders heftig darauf, dass sein Stellvertreter in der Skulptur immer wieder betont, dass er am liebsten die Augen zumachen wolle, um all das Leid in seiner Familie nicht zu sehen: „Woher weiß er, dass es mir so geht?“ Die anderen Teilnehmer an der Skulptur berichten von Ideen, dass auch sie gern ein wenig mehr Abstand nehmen würden und auch von der Sorge, dass die Familie das vielleicht nicht aushält.

Die Therapeutin spricht die Familie darauf an, daß vieles von dem Erleben in der Skulptur si­cher nicht paßt – schließlich sind es ja ganz andere Leute, aber vielleicht hat der ein oder andere eine Idee für sich selbst bekommen? Es zeigt sich, daß das Thema „unterschiedlich sein“ und „Abstand nehmen“ für viele in der Familie wichtig ist und dass viele die Frage beschäftigt, wie es mit der Familie weitergehen mag, wenn die ersten Kinder das Haus verlassen. Als die Mutter sagt, daß sie es zwar schmerzlich finde, wenn die Kinder langsam erwachsen werden und aus dem Hause gehen, dass sie aber gleichzeitig inner­lich darauf eingestellt sei, wird der Älteste ganz aufgeregt: „Sie alle sind Zeuge, dass sie das gesagt hat!“, ruft er laut auf deutsch. In der Folge kommt es zu einem längeren Gespräch zwischen Mutter und Sohn.

Noch einmal stellen die Beobachter sich in einer zweiten Gesprächspause zu einer neuen Skulptur zusammen, die das Thema Ambivalenz aufgreift. Als die Sitzung nach etwa zwei Stunden zuende geht, verabschiedet sich die Familie nur zö­gernd, die Einzelnen unterhalten sich noch mit jeweils „ihren“ Rollenspielern und erzählen ihnen über ihre eigene Erfah­rungen in der Familie.

Es war eine Sitzung, die mich sehr bewegt hat. Ist ein solches Vorgehen nachahmenswert? Wohl nur dann, wenn es gelingt, sehr deutlich einen Kontext freundlicher und wertschätzender Kooperation entstehen zu lassen. Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass mit der Skulptur irgendwelche verborgenen Geheiminsse ans Licht gehoben werden. Im Beispiel ist dies gelungen, es entstand eine ungewöhnliche Architektur der Beobachtung 2. Ordnung, die von allen Beteiligten als hilfreich erlebt wurde.

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